- Foyer5
- Landestheater Linz
- #32 | September / Oktober 2024
- S. 4-9
„Das Publikum soll anders aus diesem Theater gehen, als es hineingegangen ist“
Der neue Schauspieldirektor des Linzer Landestheaters David Bösch hat sich viel vorgenommen [...]
Interview: Silvana Steinbacher
In: Foyer5, #32 | September / Oktober 2024, Landestheater Linz, S. 4-9 [Publikumszeitschrift]
Er wünscht sich junge und ältere Menschen aus den verschiedenen Schichten in einer Vorstellung und ein Theater, bei dem trotz Tiefe und Ernsthaftigkeit auch gelacht, fantasiert und geträumt werden kann, erzählt er im Interview mit Silvana Steinbacher. Seine Begeisterung für die Kunst begann interessanterweise beim Film.
Ich kann mich an einige wenige Theatererlebnisse erinnern, bei denen ich mich für eine Zeitlang „dieser Welt enthoben“ fühlte. Kennen Sie dieses Gefühl auch?
Ja, das kenne ich! Ich finde auch, es kommt im Theater zu wenig vor. In meiner Jugend ist es in der Liebe passiert, auch in der Kunst. Es geschah bei mir aber zuerst beim Film, zum ersten Mal bei Carlito’s Way mit Al Pacino. Ich konnte mir den Film ausleihen, und ich habe mir eine Szene darin mehrfach angesehen und wusste gleich, an der Stelle muss ich wieder weinen. Diese eineinhalb Minuten hatten nichts mit meinem Leben zu tun, weil ich weder ein Mafioso noch erwachsen war, dennoch hat mich diese Sequenz enthoben und gleichzeitig zu mir gebracht. Ich komme aus Bielefeld, dort gab es damals viele Programmkinos, und ich empfand den Moment, als die Vorstellung begann und ich in einen Film eintauchte, als tröstend.
Erst später bin ich ins Theater gegangen und dann kam der Augenblick, an dem ich wusste, ich bewerbe mich für Regie. Wir mussten fünf Theaterstücke, die uns beeindruckt haben, aufschreiben. Meine Wahl fiel unter anderem auf Familie Flöz, das ist ein Puppentheater mit Masken, das völlig ohne Sprache auskommt. Das interessiert mich schon auch sehr am Theater: Stille, Sprachlosigkeit, das nicht Ausgesprochene.
Sie haben in einem Interview gesagt, Sie freuten sich, Ihre Visionen an diesem Haus umsetzen zu können, welche stehen für Sie an erster Stelle?
Ich würde mir wünschen, dass etwa die Abonnentin, die schon Jahrzehnte das Theater besucht, neben dem Jungen mit Migrationshintergrund sitzt, also Menschen, die sich sonst eher nicht begegnen im Theater zusammen kommen.
Bei meiner Aufnahmeprüfung – bei der ersten wurde ich nicht genommen, also mein Rat: bitte nicht gleich aufgeben! – mussten wir unsere Visionen aufschreiben, und ich habe einen fiktiven Brief von einem jungen Menschen an mich geschrieben, in dem steht, dass er nach einem Stück von mir, so viel Hybris muss sein, die Welt anders sieht als davor. Genau das ist meine Vision! Mein Glaube an Theater.
Jetzt als Schauspieldirektor habe ich natürlich eine große Verantwortung für Mitarbeitende und das Publikum, ich bin mit für das kulturelle Klima verantwortlich, nicht nur mit den eigenen Inszenierungen, sondern auch für jene Künstler:innen, die ich einlade, für Menschen, die wir entdecken, denen das Landestheater Chancen bieten kann, ihre Geschichten, ihre Perspektiven zu erzählen.
Österreich kennen Sie ja schon, denn Sie haben vier Jahre als Hausregisseur des Wiener Burgtheaters gearbeitet. Ist das ein Startvorteil für Sie?
Ich bin noch am Entdecken der Stadt und des Bundeslandes. Die Oberösterreicher:innen sind noch einmal anders als die Wiener:innen, finde ich. Sie sind ähnlich wie die Bielefelder:innen, wo ich herkomme, innerlich herzlich, aber um herzlich sein zu können, braucht man auch eine Schale, mit der man sich schützen kann.
Sie möchten in Ihrer Begegnung mit dem Publikum den Spagat von ganz jung bis zu den Best Agern, wie Sie es charmant formulieren, schaffen. Kann das nicht auch dahin führen, dass man es jeder und jedem recht machen will und dadurch etwas beliebig wird?
Ich hatte mal in Hannover einen langen Aufenthalt und hab im Kino Alles auf Zucker! gesehen, ich war mit Abstand der Jüngste im Publikum, direkt danach habe ich einen amerikanischen Horrorfilm besucht und war der Älteste. Ich fände es interessant, das Publikum auszutauschen, denn dem 16-Jährigen hätte Alles auf Zucker! sicher auch gefallen und umgekehrt. Es ist eine Möglichkeit, dass man aus seiner Bubble hinausgeschleudert wird. Ein Theater sollte alles bieten, was ein gutes Kino bietet, vom Problemfilm bis zur Rom-Com, von der erschütternden Tragödie bis zur französischen Komödie. Ähnlich sollten sich auch in einem Spielplan unterschiedliche Fragen und Bedürfnisse widerspiegeln.
Das Motto dieser Spielzeit wird „Wie will ich leben“ lauten. Diese Frage stellen sich heute viele Menschen. Ist es nicht auch eine Frage, die einen gewissen Luxus voraussetzt, denn wenn sich Menschen in bedrängten Verhältnissen befinden, können sie sich diese Frage gar nicht leisten. Was bedeutet dieses Motto für Sie?
Ich würde formulieren: Wie wollen wir leben? Wie reagieren wir als Gesellschaft auf das, was in der Welt passiert? Wie können wir die sich immer mehr spaltende Gesellschaft zusammenhalten, Räume öffnen für die Diskurse, Fragen der Zeit und jedes Einzelnen. Das wird die Aufgabe für die Kultur und der Zukunft und für uns am Landestheater in den nächsten fünf Jahren auch sein.
In Linz war unter Ihrer Regie mit großem Erfolg das Sprechtheater Fischer Fritz zu sehen. Darin haben Sie, so empfinde ich es zumindest, auch sehr auf Sprachakrobatik gesetzt.
Es kommt immer auf das Stück an. Sprache ist natürlich sehr wichtig, bei Stücken von Schiller und Kleist ist die Sprache schwer zu verstehen. Sie wird einer jungen Generation immer fremder. Mit diesem Phänomen müssen wir uns konfrontieren. Es gibt mehrere Versuche damit umzugehen, es besteht etwa die Möglichkeit, klassische Stücke zu ironisieren oder sie gar nicht zu spielen. Ein junger Mensch hat aber das Recht darauf, sie zu sehen. Die Stücke sollten so inszeniert werden, dass jemand, der noch nie diese Sprache gehört hat, einen Zugang findet. Eine Option wäre, das Stück dramaturgisch entsprechend zu bearbeiten, auch veraltete Rollenbilder aufzubrechen und anders zu interpretieren.
Stand Ihr Berufswunsch Regisseur von vornherein fest?
Ich wollte zunächst Schauspieler werden, Schauspieler:innen und Sänger:innen lieben es ja, verschiedene Leben darzustellen. Zuerst bringt man seine Kinder als Medea um, nach der Probe geht man in die Kita und bringt seine eigenen Kinder nicht um. Ich habe mit der tollen Opernsängerin Evelyn Herlitzius gearbeitet, sie stellt viele Figuren in Ausnahmesituationen dar, und ich sagte einmal scherzhaft zu ihr, jetzt weiß ich, warum du so verrückt bist, weil du diese abgründigen Figuren interpretierst, aber sie entgegnete mir, nein, genau deswegen, weil ich sie interpretiere, bin ich nicht verrückt geworden. Wie absonderlich die Figuren auf der Bühne auch handeln, das Publikum kann das Geschehen nachvollziehen. Ich denke, das ist mit ein Grund, warum das Theater und die archaischen Geschichten über die letzten Jahrtausende überlebt haben. Diese archaischen Stücke berühren uns anscheinend in unserer rissigen Zivilisationshülle immer noch, vielleicht festigen sie diese Hülle auch.
Das Eröffnungsstück wird Shakespeares Viel Lärm um nichts sein, was interessiert Sie heute an diesem Stück?
Shakespeare hat beides, Leichtigkeit und Tiefe. Will ich lieben? Wie will ich lieben? Lieben oder nicht lieben, das ist hier die Frage – quasi. Ich möchte die Spielzeit mit Viel Lärm um nichts beginnen, einen leichten Stoff als Eröffnung, ein Stück, das ein Ensemble in Spielfreude versetzen kann. Wir gestalten zu Beginn der Saison ein viertägiges Fest. Es beginnt am Freitag mit Einblicken in die Spielzeit, am Samstag und Sonntag laden wir zu einem Familienfest mit viel Zuckerwatte, ein wenig Shakespeare und Programm für die ganze Familie ein. Ich möchte dem Publikum ein guter Gastgeber sein. Ich will, dass mein Bühnenmeister, dass alle Gewerke gemeinsam, hier eine große Bühnenshow machen können. Ich glaube an Volkstheater und Welttheater und daran, dass beides gleichzeitig sein kann. Da eignet sich Viel Lärm um nichts sehr gut, denn das Stück beinhaltet nicht nur Leichtigkeit und Liebe, sondern auch das, was mit uns durch sie passiert, nämlich dass unsere Welt ins Wanken gerät. „Ich erleide die Liebe“, sagt Shakespeare einmal – und da ist wohl was dran.
In Deutschland gibt es ja leider beinahe eine Scheu vor der Komödie, wenn man Komödie inszeniert, ist man fast kein ernstzunehmender Regisseur, keine ernstzunehmende Regisseurin mehr. Ich finde, Theater ist auch Spektakel, Poesie und Fantasie. Das deutschsprachige Theater leidet nicht daran, dass zu viel, sondern daran, dass zu wenig gelacht wird, was aber nicht bedeutet, dass die Realität ausgeblendet wird. Mir ist selbstverständlich auch wichtig, dass das Theater ein intellektueller Ort ist, wo die Debatten der Zeit stattfinden, so wie beim Kepler-Salon oder an vielen anderen Orten in Linz und Oberösterreich zum Beispiel. Aber es ist auch Fest.
Das Publikum soll anders aus diesem Theater gehen, als es hineingegangen ist. Ich möchte, dass die Menschen aus Linz, aus Oberösterreich wissen, hier ist ein Ort, an dem es um sie geht, an dem sie nachdenken, aber auch lachen und sich wegträumen dürfen.
Das gesamte Interview finden Sie in unserem Blog | landestheaterlinz-blog.at
David Bösch zählt zu den führenden Regisseuren seiner Zeit. Er ist 1978 in Lübbecke (Nordrhein-Westfalen) geboren und verbrachte seine Jugend in Bielefeld. In Österreich inszenierte er unter anderem am Burgtheater und bei den Salzburger Festspielen. Er arbeitet sowohl im Bereich Schauspiel als auch im Bereich Oper. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Montblanc Young Directors Award der Salzburger Festspiele, den Nestroy Theaterpreis sowie im Mai 2024 für seine Inszenierung von Raphaela Bardutzkys Fischer Fritz am Landestheater Linz den Nachspielpreis beim Heidelberger Stückemarkt.
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