• Foyer5
  • Landestheater Linz
  • #32 | September / Oktober 2024
  • S. 44-46

Aus dem Leben gegriffen

Die Welt des Luigi Pirandello

Text: Anna Maria Jurisch

In: Foyer5, #32 | September / Oktober 2024, Landestheater Linz, S. 44-46 [Publikumszeitschrift]

Dass Autor:innen Inspiration aus dem eigenen Leben schöpfen – eine Binsenweisheit. Allerdings eine Binsenweisheit, deren Betrachtung hin und wieder faszinierende Einblicke gewährt. Zu diesen Fällen zählt der italienische Nobelpreisträger Luigi Pirandello ohne Frage. Denn auch wenn Pirandello heute vor allem als Dramatiker bekannt ist – schließlich waren es insbesondere seine Bühnenstücke, die das italienische Theater des 20. Jahrhunderts revolutionierten – enthält sein umfassendes Œuvre zahlreiche Formate, in denen sich erstaunliche Parallelen zu Pirandellos persönlichen Erfahrungen entdecken lassen. Dabei geht es keineswegs um die Idee einer Schlüsselliteratur, welche das Schicksal des Autors aufdecken soll. Vielmehr sind es die kunstvollen Querverbindungen, die entstehen und die kleinen, scheinbar weniger revolutionären Texte, die einen tiefen Einblick in menschliche Schicksale geben.

Dabei wird Luigi Pirandello, der 1867 in Agrigent auf Sizilien – genauer gesagt im Ortsteil Caos – auf die Welt kommt, in die gediegensten Umstände geboren, die ihm zunächst ein angenehmes Leben zu garantieren scheinen. Seine Eltern entstammen den alteingesessenen, wohlhabenden Familien, der Vater besitzt eine Schwefelmine und ist ein glühender Verfechter des Risorgimento. Die Startbedingungen in das Leben scheinen also für Pirandello denkbar gut. Allerdings sind die Parallelen zu den tieftraurigen Figuren in seinen Romanen und Novellen größer als gedacht. Denn nicht nur, dass der Autor mit einem tyrannischen Haudegen von Vater aufwächst – der Duellen nicht abgeneigt ist, der sich mit der Mafia anlegt, der ein legendär zu nennendes Temperament besitzt, das auch im Familienkreis regelmäßig zu Tobsuchtsanfällen führt – sein Leben wird immer wieder von Katastrophen punktiert.

Auch wenn er sich zunächst vom Einfluss des Vaters Stefano losmachen kann und anstatt in Palermo Jus zu studieren, Literatur und Philologie in Rom und später im deutschen Bonn studiert, ist der Einfluss der Familie auf sein Leben größer. Für seine erste große Liebe Lina, deren Familie gegen die Heirat der beiden ist, kehrt Pirandello nach Italien zurück und beginnt sich immer mehr in das einträgliche Geschäft der Schwefelmine seines Vaters einzuarbeiten, auch wenn zwischen den beiden Männern nach wie vor immense persönliche Differenzen bestehen. Letztlich bringt die Rückkehr nach Italien und in das Familiengeschäft nicht den gewünschten Erfolg, Lina wird nicht seine Frau, stattdessen heiratet Luigi Pirandello die Tochter eines Geschäftspartners seines Vaters.

Diese Ehe erweist sich zunächst als Glückgriff, denn Luigi liebt die ausgewählte Braut tatsächlich, aber auch dieses Glück ist nicht von Dauer – die Schwefelmine wird in einem Erdrutsch geflutet und die Familie geht damit bankrott. Pirandellos Frau Antonietta erträgt den Schock nicht und verfällt daraufhin immer wieder in katatonische Zustände und bringt dabei selbst schon eine dramatische Vorgeschichte mit – von ihrem verwitweten Vater zur Erziehung ins Kloster entsendet durfte sie auf dessen Geheiß das Haus jahrelang nur tief verschleiert verlassen und war dazu angehalten, mit niemandem zu sprechen und den Blick starr auf den Boden zu richten. In Folge des traumatischen finanziellen Ruins bricht eine psychische Erkrankung bei Antonietta aus, die zunehmend zu Zwängen und Ängsten führt, befeuert durch ihre durchaus bizarre Jugend. Die zunächst sehr glückliche Ehe wird somit immer mehr mit Problemen beladen, die persönliche Lage der Familie wird immer drastischer, komplizierter und für alle Familienmitglieder erschöpfender. Diese Phase der Krise bildet auf tragisch-ironische Art den Ausgangspunkt für die produktivste Phase in Pirandellos literarischem Schaffen. Denn die zweifelsohne verstörenden, sehr persönlichen und intimen Erfahrungen seines Lebens werden, wie für Künstler:innen eben nicht unüblich, zu den Bausteinen seiner Arbeiten, zu Bausteinen seiner eigenen Handschrift, die zum Vorläufer absurden Theaters werden sollte. Denn die Balance zwischen Humor angesichts der ausweglosen Lage und der aufrichtigen Tragik dieser menschlichen Abgründe und Schicksale ist das Herzstück in Pirandellos Œuvre.

Die Isolation seiner Figuren scheint aus dem Leben gegriffen, die Unmöglichkeit einer menschlichen Verbindung, die Unberechenbarkeit des Schicksals, das Ausgesetztsein in einer scheinbar willkürlichen Welt, in der es jedoch keine Schuld an den Umständen gibt, die irgendwie zuzuweisen wäre. Pirandellos Blick auf die Welt zeigt ihre stille Absurdität, zeigt den Drang zu Lachen im Angesicht der ungerechten, unberechenbaren und dabei in sich nicht absichtsvoll grausamen Welt. Ein Schulterzucken, ein Lachen: Das ist das Schicksal. Und dabei steckt hinter diesem vielleicht trocken zu nennenden Lachen über das Schicksal die Tragik menschlicher Existenz. Die Tragik bedingt das Lachen und vice versa – eine Botschaft, die der Autor zweifelsohne aus seinem eigenen Dasein abgelesen hat, sie künstlerisch weiterverarbeitet und überformt hat. Und betrachtet man die Figuren, die seine Erzählungen bevölkern, stößt man auf diese Ambivalenzen: Einen Umgang mit den Herausforderungen finden, die das Leben ihnen präsentiert. Einen Neuanfang wagen, indem man sich der Welt eben nicht verschließt. So sind auch die Handelnden in Il viaggio Abbilder von Erkenntnissen, die Pirandello gewonnen haben dürfte: Der tragische Tullio Butti, der in Das Licht vom anderen Haus aus einer alles lähmenden Trauer ausbricht, nur um an den Ausgangspunkt zurückzukehren, da er seine Geliebte mit ebenjener Trauer angesteckt hat. Und die sterbenskranke Adriana Braggi, die nach Jahren der Isolation die Welt erkundet, um darin ihren Tod zu finden. Die Tragik und die Schönheit menschlicher Erfahrung stehen untrennbar zusammen und Luigi Pirandellos Werk bildet diese, gewonnen aus den persönlichsten Erfahrungen, ungeschönt, aber zutiefst poetisch ab.

 

IL VIAGGIO (DIE REISE)
DAS LICHT VOM ANDEREN HAUS / DIE REISE

ZWEI OPERNEINAKTER VON ALOIS BRÖDER

Text vom Komponisten nach den gleichnamigen Novellen von Luigi Pirandello
In deutscher Sprache mit Übertiteln
Eine Produktion des Oberösterreichischen Opernstudios

Uraufführung 19. Oktober 2024
BlackBox Musiktheater

Musikalische Leitung Jinie Ka
Inszenierung Gregor Horres
Bühne und Kostüme Mariangela Mazzeo
Dramaturgie Anna Maria Jurisch
Leitung Extrachor David Alexander Barnard

Mit Christoph Gerhardus (Tullio Butti), Génesis Beatriz López Da Silva (Margherita Masci), Saskia Maas (Clotildina Nini/Adriana Braggi), Lily Belle Czartorski (Frau Nini/ Paolo Braggi), Martin Enger Holm (Cesare Braggi), Sophie Bareis (Ferdinando Braggi), Felix Lodel (Hausarzt/Primarius) u. a.

Bruckner Orchester Linz
Extrachor des Landestheaters Linz

Zwei Geschichten, die den Schauer des Neubeginns erzählen, zwei Protagonist:innen, die sich aus verkrusteten Strukturen befreien und sich auf die Suche nach einer zweiten Chance im Leben machen: In zwei emotional aufgeladenen Einaktern geht der deutsche Komponist Alois Bröder in den Geschichten des italienischen Nobelpreisträgers Luigi Pirandello auf die Suche nach einer Idee persönlicher Freiheit. Sowohl Tullio Butti als auch Adriana Braggi suchen nach Jahren der Enttäuschung einen neuen Zugang zur Welt und müssen sich dabei gegen gesellschaftliche Erwartungen stellen.

Weitere Vorstellungen
26., 31. Oktober, 3., 9., 16., 22. November 2024
Einführung ½ h vor Beginn der Vorstellung

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