- Unverhofftes Wiedersehen
- Landestheater Linz
- Oper von Alois Bröder - Saison 2017/18
- S. 7-10
Kleine und große Historie
Text: Magdalena Hoisbauer
In: Unverhofftes Wiedersehen, Oper von Alois Bröder - Saison 2017/18, Landestheater Linz, S. 7-10 [Programmheft]
Im Nachwort zu einer Ausgabe von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten bediente sich der Philosoph Ernst Bloch Mitte der 1960er Jahre eines Superlativs: Er bezeichnete Unverhofftes Wiedersehen als „die schönste Geschichte der Welt“. Der dramaturgische Kniff dieser Erzählung steckt in konzentrierter Form im Grunde in ihrem Titel, denn es ist eben dieses „unverhoffte Wiedersehen“ eines vom Schicksal tragisch voneinander getrennten Paares, welches die Leserinnen und Leser seit dem ersten Erscheinen von Hebels Kalendergeschichte im Jahr 1811 – vor mehr als 200 Jahren – erstaunt und berührt. Der am 10. Mai 1760 in Basel geborene und aus einer besonders frommen Familie stammende Johann Peter Hebel war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Theologe und Pädagoge und ist uns heute vor allem durch seine mannigfaltige Kurzprosa sowie seine Allemannischen Gedichte (1803) bekannt. Bemerkenswert ist, dass Hebel die eigentlich verhältnismäßig profane literarische Form der Kalendergeschichte zu eigenständiger sprachlicher und künstlerischer Qualität erhob. „Ein wohlgezogener Kalender soll sein ein Spiegel der Welt“, bemerkte der Autor in seiner Anthologie Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, und so ist die literarische Gattung der Kalendergeschichte auch eine das Leben und den Alltag ganz spezifisch reflektierende Form. Kalendergeschichten enthalten stilistisch betrachtet Elemente der Anekdote, der Sage und der Fabel ebenso wie solche des Märchens oder des Tatsachenberichts und reichen bis in die Literatur des Barocks zurück; so war ihr erster berühmter Vertreter etwa der deutsche Schriftsteller Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Die besonders kurzen und in schlichter Sprache abgefassten Geschichten stehen in der Tradition der Volkskalender, die neben kalendarischen Angaben auch Informationen über Mondphasen, Hinweise zu Aussaat und Ernte et cetera beinhalteten und seit der Mitte des 16. Jahrhunderts auch narrative Elemente einschlossen, um deren Attraktivität und Unterhaltungswert zu steigern. Jene Volkskalender waren neben der Heiligen Schrift, einem Gebets- oder Liederbuch und dem Katechismus das einzige nicht religiös geprägte Druckwerk, was zu dieser Zeit von einer breiteren Bevölkerung gelesen wurde. Mittels des Volkskalenders konnte man somit gesellschaftliche Schichten ansprechen, die von höherer Bildung ausgeschlossen waren, und so ist es nicht verwunderlich, dass jene in den Kalendern enthaltenen Geschichten auch moralische und vor allem etwa bei Johann Peter Hebel zu findende aufklärerische Elemente aufwiesen.
Jene nicht sehr viel mehr als ein Blatt Papier umfassende Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen ist Johann Peter Hebels bis heute bekannteste und meist gelesene Erzählung. Ihre konkrete Verortung und jene an einen Tatsachenbericht erinnernde Stilistik weisen darauf hinaus, dass Hebel sich an einer wahren Begebenheit orientierte. Tatsächlich wurde im Schwedischen Städtchen Falun im Jahr 1719 in der dortigen Kupfermine ein Leichnam entdeckt, welcher aufgrund der spezifischen chemischen Gegebenheiten im Stollen nahezu vollständig konserviert worden war. Dieser Fund war gleichermaßen mysteriös wie spektakulär, denn einer der Bergmänner identifizierte den Toten als den 1670 verschollenen Mathias Israelsson und auch nach fast 50 Jahren sah er im Grunde so aus wie zu jenem Zeitpunkt, da er aus der Grube nicht mehr zurückgekehrt war. Die schwedische Zeitschrift Acta litteraria Sveciae Upsaliae berichtete von diesem Fall und erwähnte außerdem, dass kurz nach dem Fund ein „altes Weiblein“ zu den Bergleuten hinzu kam, „mit dem Mathias zu Lebzeiten verlobt gewesen war und die mit dem Rechte der alten und jetzt neu auflebenden Liebe verlangte, man solle ihr den Leichnam überlassen“. Der Vorfall weckte nicht nur vorhersehbares publizistisches Interesse, sondern auch jenes der Wissenschaft, und so veröffentlichte der deutsche Mediziner, Mystiker und Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert 1808 einen Bericht über das tragische Grubenunglück, u. a. in der Zeitschrift Jason. Johann Peter Hebel erkannte die poetische Kraft des Vorfalls und dessen Potenzial für eine seiner Kalendergeschichten und veröffentlichte drei Jahre später sein literarisches Kleinod Unverhofftes Wiedersehen, das noch viele Generationen von Leserinnen und Lesern von Kalendern und Schullesebüchern bereichern sollte und zahlreiche nachfolgende Schriftstellerpersönlichkeiten zu Fortschreibungen und Kommentaren inspirierte: Die Bekanntesten darunter sind E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Bergwerke zu Falun aus dem Zyklus Die Serapionsbrüder (1819), ein von Richard Wagner 1842 verfasstes, jedoch nicht vertontes Libretto mit gleichnamigem Titel sowie Hugo von Hofmannsthals Dramatisierung Das Bergwerk zu Falun (1899).
Auch heute ist die literarische und künstlerische Beschäftigung mit Johann Peter Hebel und seinen Kalendergeschichten nicht abgebrochen, blickt man beispielsweise auf die 2010 herausgegebene „Hommage an Johann Peter Hebel“, welche den uns bestens bekannten Titel mit einem sprechenden Rufzeichen versieht (Unverhofftes Wiedersehen!) und zeitgenössische Autoren wie Urs Widmer oder Arno Geiger zu freien literarischen Kommentaren rund um Hebels Kalendergeschichten einlud. Der im selben Jahr zum 250-jährigen Geburtstag des Autors von der Basler Hebelstiftung publizierte Band Kalendergeschichten in Comics und Illustrationen beweist darüber hinaus, dass die mehrere Jahrhunderte zählenden Geschichten auch einer zeitaktuellen Verarbeitung standhalten. Der deutsche Komponist Alois Bröder hat sich in den Jahren 2014-15 dieses Stoffes im Rahmen einer Opernkomposition angenommen und hat Hebels Kalendergeschichte und dem um die Historie des Bergwerks von Falun kreisenden literarischen Feld eine Musiktheater-Vertonung zuteilwerden lassen. Die Oper Unverhofftes Wiedersehen wurde im Juni 2017 am Mainfranken Theater in Würzburg uraufgeführt und erlebt mit der aktuellen Inszenierung am Landestheater Linz ihre österreichische Erstaufführung. Jene Dringlichkeit, die Ernst Bloch mittels des von ihm gewählten Superlativs auszudrücken suchte, ist – aus heutiger Sicht – auch auf Basis all jener zeitgenössischen Verarbeitungen in Literatur, Bildender Kunst und Musik zu verstehen. In jedem Fall ist es vermutlich die außergewöhnliche Form der Erzählung, jene Schilderung eines Zeitverlaufs von 50 Jahren über die Aufzählung historischer Ereignisse, welche den zeitgenössischen Leser und Rezipienten an Johann Peter Hebels Unverhofftes Wiedersehen nach wie vor umtreibt; inhaltlich und dramaturgisch stechen die Kontrastierung eines Einzelschicksals mit kollektiv Gedenkwürdigem und die formale sowie philosophische Verhandlung der Topoi Zeit und Wiederholung heraus, die auch Gregor Horres zum Zentrum seiner Linzer Inszenierung macht.
- Quelle:
- Unverhofftes Wiedersehen
- Landestheater Linz
- Oper von Alois Bröder - Saison 2017/18
- S. 7-10
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