• Satanella oder Die Macht der Liebe
  • Erzgebirgische Theater und Orchester
  • Rarität. Deutsche Erstaufführung - Saison 2024/25
  • S. 6-9

„Jedes gesellschaftliche Rezidiv wird durch Angst ausgelöst“

Regisseur Christian von Götz im Gespräch mit Dramaturg Lür Jaenike

Interview: Lür Jaenike

In: Satanella oder Die Macht der Liebe, Rarität. Deutsche Erstaufführung - Saison 2024/25, Erzgebirgische Theater und Orchester, S. 6-9 [Programmheft]

Lür Jaenike: Mit SATANELLA geht Deine Arbeit in Bezug auf die Wiederentdeckung Michael William Balfes nach FALSTAFF jetzt in die 2. Runde. Was begeistert Dich so an seinem Werk?

Christian von Götz: Mich begeistert die Direktheit der musikalischen Ansprache bei Balfe. Seine Arien und Ensembles fangen mich sofort ein. Das hat natürlich mit dem Melodienreichtum zu tun, aber auch mit der oft ungewöhnlich einfachen, aber die Situation auf den Punkt bringenden Begleitung, mit den klar lesbaren, fast holzschnittartigen Zwischenspielen. Die musikdramatische Faktur empfinde ich als auf wunderbare Weise uneitel, gleichzeitig als extrem verführerisch, weil Balfe eine starke melodische Erfindung an die andere reiht. Balfe hat im besten Sinne „Opern für alle“ geschrieben. Das liebe ich an diesen Stücken.

LJ: Balfe hat ja 31 Opern geschrieben. Warum SATANELLA?

CvG: Als ich die 2016 erschienene Bonynge-Aufnahme hörte, hatte ich sofort das Gefühl, das Stück machen zu müssen. Ich trug die Idee ein paar Jahre mit mir herum und da Moritz Gogg und ich ja inzwischen an einer Balfe-Trilogie arbeiten, lag es nahe, sich nach dem italienischsprachigen, klar und geschlossen (nach Shakespeare) erzählten FALSTAFF, eine so besondere und widersprüchliche Oper wie SATANELLA zu wählen.

LJ: Was macht das Werk denn so besonders?

CvG: Diese Oper ist eine verrückte, packende Mischung aus Belcanto, Operette britischer Prägung und Mysterienspiel. SATANELLA hat eine interessante offene Form, enthält viele dramaturgische Brüche und Merkwürdigkeiten. Das Stück funkelt manchmal in eigenartigen talmihaften Farben, als wenn Balfe sich nicht entscheiden konnte, ob er eine tragische romantische Oper oder eine groteske Operette komponieren wollte. Das alles finde ich sehr spannend. Die Musik mancher Passagen wirkt, als wenn Bellini auf Gilbert & Sullivan trifft, manche Zwischenspiele klingen ein wenig nach Schubert, manches nach Chopin, nach Weber. Trotzdem zieht Balfe das alles mit seinen tollen Melodien als etwas ganz Eigenes zusammen. Das verblüfft mich immer wieder.

LJ: Als ich das Werk kennenlernte, wirkte die Dramaturgie auf mich holzschnittartig, irgendwie unbelebt. Jetzt erlebe ich auf den Proben ein großes vitales Spektakel. Wie bist Du vorgegangen?

CvG: Ja, als ich begann, tiefer in das Stück zu gehen, erinnerte es mich erst an die Theatralisierung einer moralisierenden Bilderserie, wie wir das z. B. von Strawinskis Rake’s Progress kennen. Aber ich glaube inzwischen, dass das Ganze viel offener und assoziativer gemeint ist. Es hat etwas von einem musiktheatralen Zettelkasten, der einen auffordert, etwas ganz Eigenes daraus zu machen. Ich merkte schnell, dass die originalen Dialoge uns bei einer Wiederbelebung des Werks nicht wirklich helfen würden. Sie wirken an vielen Stellen unfertig und angeschafft, als wenn für ein schlüssiges Dialogbuch keine Zeit gewesen wäre, den Figuren fehlte es dadurch an psychologischer Dreidimensionalität. Da wäre Werktreue oder musikhistorische Genauigkeit falsch gewesen. Deshalb haben wir uns früh dafür entschieden, eine Spielfassung zu erstellen, für eine maximale Reduzierung der Original-Dialoge und für neue Dialoge, die wir zum großen Teil in den Proben erarbeitet haben.

LJ: Das klingt ja fast nach einer Stückentwicklung?

CvG: Nein, das wäre zuviel gesagt. Wir spielen schon Balfes Oper, die Musik erklingt original und auch (fast) in der originalen Reihenfolge. Wir haben aber eine stärker psychologisierende (und damit auch emotionalisierende) Meta-Ebene in das Stück geschoben, die die Figuren lebendiger und – wie ich finde – das uneindeutig Schillernde und Mysteriöse des Werks sichtbarer werden lässt. Und mir war wichtig, die Brüche im Stück, das Changieren zwischen romantischer Oper und Operette, offen zu zeigen.

LJ: Mysteriös ist das Stichwort. Das Stück wirkt in Deiner Inszenierung wie ein von hinten nach vorne erzählter Mystery Thriller.

CvG: Ja, das ist in dem Werk definitiv schon angelegt, ich habe es nur stärker herausgearbeitet. Es ist ein Spiel um Traum und Wirklichkeit, ein Durcharbeiten vergangener Traumata. Wir Zuschauer haben die Hoffnung, dass Carl seine Dämonen los wird, es gelingt ihm auch, aber leider anders als gehofft und erwartet.

LJ: Du sprichst von Carl als von der zentralen Figur. Was ist mit Satanella?

CvG: Es dauerte lange, bis ich die Figur Satanella verstanden hatte: „Ein Engel in Gestalt einer Teufelin“, denken die Leute, sie sei „gefangen in der dämonischen Existenz“. Na ja, Satanella erlebt den Fast-Mord an ihrer Freundin und zieht sich mit dieser aus der Gesellschaft zurück. Die Gesellschaft versteht nicht was passiert und dämonisiert die beiden. „Das können ja nur Hexen sein.“

LJ: Also geht es gar nicht um Dämone und Gespenster in diesem Stück?

CvG: Doch, natürlich. Gespenster gibt es in diesem Stück viele, aber es sind eher Seelen-Gespenster. Und es geht natürlich um die gesellschaftlichen Projektionen des Bösen.

LJ: Was meinst Du mit „dem Bösen“?

CvG: „Böse“ waren geschichtlich doch immer diejenigen, die Gott und Glaube und dadurch auch die Macht der Kirche in Frage gestellt haben, die Veränderung wollten, also Künstler*innen, Revolutionär*innen, Wissenschaftler*innen, kritische Intellektuelle. Böse waren letztlich alle, die durch Progression die Welt verändern wollten und nicht das alte „gläubige“ System als fest gegeben angesehen haben.

LJ: Du hast das Personaggio des Werks weiblicher gemacht. Der Teufel Arimanes wird zwar von einem Bariton gesungen, aber von einer Tanz-Darstellerin gespielt. Steht das in diesem Zusammenhang?

CvG: Ja, ich habe letztlich auch nach einem feministischen Ansatz für das Stück gesucht. Ich hatte mich intensiv mit der Epoche der Hexenverbrennung auseinandergesetzt. Es waren oft Hebammen, die als Hexen verbrannt wurden. In den Augen der Kirche, die ja nur aus Männern bestand, hatten die Hebammen Zugang zum Geheimnis des Lebens, der den Kirchenmännern natürlich verwehrt war. Das machte den Männern Angst. Es war die Angst vor den Frauen, die die Männer dazu brachte, all diese Femizide im Namen des Glaubens zu begehen.

LJ: Es ging den Kirchenmännern also immer um die Unterdrückung der Frau, wenn es um die Angst vor dem Teufel ging?

CvG: Genau. Letzten Endes atmet jede Teufelsgeschichte die Angst vor Emanzipation, Gerechtigkeit und Veränderung. Das ist hier bei Satanella nicht anders. Es geht für mich in dieser Produktion darum, was die Angst vor dem Bösen aus einer Gesellschaft macht. Der einzige wirkliche Dämon ist die Angst. Angst vor Veränderung, Machtverlust, Neuland. Davor, dass die Opfer zurückkehren, um sich zu rächen.

LJ: Was ist an dieser Geschichte Deiner Meinung nach aktuell?

CvG: Wir erleben zurzeit politisch einen unfassbaren gesellschaftlichen Rückfall in eine vordemokratische Denkweise. Jedes gesellschaftliche Rezidiv wird durch Angst ausgelöst. Werden wir wachsam genug gewesen sein?