• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • November / Dezember 2024
  • S. 6-7

Ein Wesen wie ein Sprengsatz

Text: Mareike Wink

In: Magazin, November / Dezember 2024, Oper Frankfurt, S. 6-7 [Publikumszeitschrift]

Lulu – ein Name, der sofort Assoziationen auslöst: Vielleicht denken wir an den Aufstieg und Fall eines jungen Mädchens in einer patriarchalen Welt; vielleicht an die faszinierte Zuschreibung einer weiblichen Existenz, die sowohl Femme fatale als auch Femme fragile ist; vielleicht an ein Wesen, das zur Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte und Fantasien wird.

Begrifflich lässt sich Lulu kaum fassen und ist dabei doch vieles zugleich. Ihr wunder Punkt ist ihre Kraft. Sie sprengt jedes bürgerliche Maß und fordert es zugleich heraus. Als ungebändigtes, ungeschütztes Wesen wird sie hineingezerrt in jenes Spannungsfeld, innerhalb dessen sich vor unseren Augen der Prozess einer Aneignung und Ausbeutung abspielt, der Versuch einer Zähmung – bis hin zur endgültigen Zerstörung.


Vom Sprech- zum Musiktheater

Die Gestalt der Lulu entstammt zwei Dramen von Frank Wedekind: Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1902). Der Autor wird beide Stücke später als Doppeltragödie unter dem Titel Lulu vereinen. Den Blick auf seine Hauptfigur beschreibt er selbst folgendermaßen: »Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit, Kindlichkeit hatten mir bei der Zeichnung der weiblichen Hauptfigur als maßgebende Begriffe vorgeschwebt.« In der Rezeption des Werkes, das bis heute zu den bekanntesten deutschsprachigen Dramen zählt, überwiegt dessen Zündstoff. Er sorgt sofort für Theaterskandale und zieht diverse Zensurmaßnahmen nach sich.

Als 20-Jähriger hatte Alban Berg Wedekinds Drama in Wien kennengelernt und war vom ersten Moment an fasziniert. Über 20 Jahre später, im Jahr 1928, beginnt der Komponist schließlich mit seiner Arbeit an einer gleichnamigen Oper. Er entwickelt sie streng symmetrisch und nach dem Vorbild seines Lehrers Arnold Schönberg in der Zwölftontechnik. Berg spielt mit einer Vielfalt an Klangfarben und unterschiedlichsten musikalischen Formen, lässt immer wieder auch die populäre Musik seiner Zeit anklingen. Er arbeitet mit Zwischenspielen, melodramatischen und rezitativischen Passagen. Den Mittelpunkt des Werkes bildet eine wiederum strikt symmetrisch angelegte Zwischenmusik, in deren Spiegelachse die Pause der Frankfurter Neuproduktion liegen wird.


Todesahnung

Bevor Berg seine zweite Oper vollenden kann, stirbt er 1935 im Alter von 50 Jahren an einer Blutvergiftung, ausgelöst durch einen Insektenstich. Kurz zuvor hatte er mit dem Konzert für Violine und Kammerorchester »Dem Andenken eines Engels« sein letztes vollständiges Werk geschrieben und es der jung verstorbenen Tochter von Alma Mahler-Werfel und Walter Gropius gewidmet. Entstanden war das Violinkonzert ursprünglich als Auftragswerk für den amerikanischen Geiger Louis Krasner. Berg, dessen Musik durch die Nationalsozialisten mit Aufführungsverbot belegt war und somit keine Tantiemen erwirtschaftete, hatte sich erhofft, dadurch finanziell etwas aufatmen zu können.

Nach dem plötzlichen Tod des Komponisten liegen die ersten beiden Akte seiner Lulu-Oper in kompletter Orchesterpartitur vor; der dritte Akt als Klavierparticell mit Instrumentationsangaben, ein Drittel bereits instrumentiert.


Der Weg zur Vollendung

Alban Bergs Ehefrau Helene versucht vergeblich, Arnold Schönberg, Anton Webern oder Alexander Zemlinsky für die Vervollständigung des musikalischen Materials zu gewinnen. Alle sagen aus Zeitgründen ab. So kommt Lulu 1937 als Torso in Zürich zur Uraufführung – ergänzt durch eine Pantomime zu Musik aus Bergs Symphonischen Stücken aus der Oper »Lulu«. Mit dieser sogenannten Lulu-Suite hatte der Komponist dem Publikum einen Vorgeschmack auf sein mit Spannung erwartetes neues Werk geben wollen.

Nach der Uraufführung des Partiturfragments der Oper verwehrt Helene Berg das Recht zu dessen Vervollständigung. Ohne ihre Kenntnis arbeitet Friedrich Cerha in einem Zeitraum von über zwölf Jahren an einer spielbaren Fassung des dritten Aktes. Aufführbar wird sie aus juristischen Gründen erst nach dem Tod der Witwe. Im Februar 1979 erarbeiten Pierre Boulez und Patrice Chéreau, das Team des legendären Bayreuther Rings, die Premiere der vervollständigten Lulu, jenes Schlüsselwerks des 20. Jahrhunderts, mit dem Alban Berg das Musiktheater revolutioniert hatte.

 



LULU
Alban Berg 1885—1935

Oper in drei Akten / Text vom Komponisten nach Frank Wedekind / Uraufführung der unvollendeten Oper 1937, Stadttheater, Zürich / Dreiaktige Fassung, vervollständigt von Friedrich Cerha (1979) / In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

PREMIERE Sonntag, 3. November
VORSTELLUNGEN 7., 9., 15., 17., 23., 28. November

MUSIKALISCHE LEITUNG Thomas Guggeis INSZENIERUNG Nadja Loschky BÜHNENBILD Katharina Schlipf KOSTÜME Irina Spreckelmeyer LICHT Jan Hartmann KONZEPTIONELLE MITARBEIT Yvonne Gebauer DRAMATURGIE Mareike Wink

LULU Brenda Rae DR. SCHÖN / JACK THE RIPPER Simon Neal ALWA AJ Glueckert GRÄFIN GESCHWITZ Claudia Mahnke MALER / FREIER Theo Lebow TIERBÄNDIGER / ATHLET Kihwan Sim SCHIGOLCH Alfred Reiter GARDEROBIERE / GYMNASIAST / GROOM Bianca Andrew PRINZ / KAMMERDIENER / MARQUIS Michael Porter THEATERDIREKTOR / DIENER Božidar Smiljanić BANKIER / MEDIZINALRAT / PROFESSOR Erik van Heyningen FÜNFZEHNJÄHRIGE Anna Nekhames IHRE MUTTER Katharina Magiera KUNSTGEWERBLERIN Cecelia Hall JOURNALIST / CLOWN Leon Tchakachow TÄNZERIN Evie Poaros