- Eugen Onegin
- Staatstheater Nürnberg
- Oper von Peter Tschaikowsky
- S. 25-31
Glück und Zeit
Text: Georg Holzer
In: Eugen Onegin, Oper von Peter Tschaikowsky, Staatstheater Nürnberg, S. 25-31 [Programmheft]
Was tun, wenn einen eine Un- oder kaum Bekannte mit einer stürmischen Liebeserklärung konfrontiert, einen aus heiterem Himmel dazu zwingt, sich zur wichtigsten Sache auf der Welt, der Liebe, zu verhalten? In seinem Schicksalsjahr 1877 stand Peter Tschaikowsky zweimal vor einer solchen Situation, einmal im Kunstwerk, einmal im wirklichen Leben. Ihn, der seine Homosexualität nicht offen leben durfte, erreichte der stürmische Brief einer jungen Verehrerin, die ihm einen Heiratsantrag machte. Was dann folgte, ist eine der finstersten Legenden der Musikgeschichte: Tschaikowsky, besessen von dem Wunsch, seine Familie zufrieden zu stellen und ein in ihren Augen „normales“ Leben zu führen, ging auf diesen Antrag ein und heiratete wenig später. Es dauerte nur drei Wochen, bis der Komponist erkannte, mit seiner neuen Frau nicht leben zu können. So verzweifelt war er darüber, dass er sogar durch ein Bad in der kalten Moskwa eine tödliche Lungenentzündung provozieren wollte, doch dieser halbherzige Selbstmordversuch scheiterte nicht weniger kläglich als seine Ehe.
Oper und Nationalepos
Gleichzeitig mit diesen persönlichen Verwicklungen und Krisen schuf Tschaikowsky eines seiner Hauptwerke, die Oper „Eugen Onegin“. Die Anregung zu diesem Stoff erhielt er von einer befreundeten Schauspielerin. An seinen Bruder Modest schrieb er: „Letzte Woche war ich bei der Lawroskaja. Das Gespräch drehte sich um Opernstoffe. Ihr vertrottelter Mann redete dummes Zeug und schlug die unwahrscheinlichsten Dinge vor. Die Lawroskaja sagte nichts und lächelte nur nachsichtig. Plötzlich sagte sie: ‚Und wenn Sie ‚Eugen Onegin‘ machten?‘ Die Idee schien mir abwegig, ich antwortete nichts. Später saß ich alleine in einem Restaurant, dachte an ‚Onegin‘ und fand die Idee der Lawroskaja immer interessanter. Sie begeisterte mich sogar, und als ich fertig gegessen hatte, war mein Entschluss gefasst.“ Tschaikowsky kaufte sich Puschkins Versroman, den er seit langem kannte, entwarf ein Szenarium und bat den befreundeten Dichter Konstantin Schilowski, ihm beim Libretto zur Hand zu gehen.
Abwegig war die Idee keineswegs, aus Puschkins „Eugen Onegin“ eine Oper zu machen. Der Roman war zu einem russischen Nationalepos geworden, zum Anstoß für eine moderne russische Literatur und also jedem gebildeten Russen dieser Zeit mehr oder weniger bekannt. Trotzdem drängte er sich als Opernstoff nicht auf, weil es ihm nicht zuerst um äußere Handlung, sondern um die inneren Gefühlsbewegungen der Hauptfiguren ging. Konnte man von so wenig „Action“ einen packenden Theaterabend erwarten?
Uns scheint diese Frage heute eher seltsam. Was könnte die Oper besser, als mithilfe der Musik Seelenzustände zu erzählen, sich in die komplizierte Psychologie von Figuren einzufühlen? Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sucht die Oper weniger nach Intimität als nach Überwältigung. Übermenschlich große Figuren, eindrucksvolle Dekorationen und Geschichten von archaischer Wucht waren die großen Abräumer im Operngeschäft. Tschaikowsky hingegen musste sich fragen lassen, ob das, was er mit „Eugen Onegin“ versuchte, überhaupt eine Oper war – so lange, bis er die Gattungsbezeichnung „Oper“ entnervt entfernte und sein Stück im Untertitel „Lyrische Szenen“ nannte.
Romantische Helden
Das passt gut zur dreiteiligen Anlage der Oper. „Eugen Onegin“ ist eine Tragödie, die aus drei Tragödien besteht: im 1. Akt die von Tatjana, im 2. Akt die von Lenskij und im 3. Akt die von Onegin. In jedem Akt wird eine Figur so lange abgebaut, bis nur noch ein Haufen Elend von ihr übrig ist oder, wie in Lenskijs Fall, eine Leiche. Dreimal geht es um eine unerwiderte Liebe, die nicht ans Ziel kommt, um eine unheilbare Enttäuschung.
Natürlich stehen die drei Akte in einem engen inhaltlichen Zusammenhang, insbesondere der erste und der dritte, die die nicht stattgefundene Liebesgeschichte von Tatjana und Onegin vom Anfang bis zum Ende erzählen. Der zweite Akt hat mit ihr kaum etwas zu tun. Zwar ist Tatjanas Namenstag der Anlass des Festes, dem wir zusehen, aber sie verschließt sich dem Treiben um sie her, erträgt nur mühsam die konventionelle Huldigung, die Triquet auf sie ausbringt. Der Konflikt des Aktes findet zwischen Olga, Lenskij und Onegin statt. Er illustriert vor allem Onegins Charakter. Onegin kann durchaus feinfühlig und empathisch sein – seine Zurückweisung von Tatjanas Liebe im ersten Akt ist hart und vielleicht nicht in jedem Punkt aufrichtig, aber nicht ohne Sympathie und Mitgefühl für das junge Mädchen. Aber er ist auch fähig, aus einer schlechten Laune heraus die Verlobte seines Freundes anzubaggern und den daraus entstehenden Streit so eskalieren zu lassen, dass er ihn schließlich kaltblütig umbringt.
Für Puschkin war Eugen Onegin eine typische romantische Figur seiner Zeit. Ein junger Mann, der vom Leben schon angeekelt ist, obwohl er es noch gar nicht kennen gelernt hat – und der es mit der Liebe gar nicht erst versuchen will, weil er schon von ihr gelangweilt ist, ohne noch jemals enttäuscht worden zu sein. Weil ihm die städtische Gesellschaft oberflächlich und nichtssagend erscheint, zieht er sich aufs Land zurück, um für sich zu leben, was aber nicht heißt, dass er darum tiefgründig wäre oder besonders viel zu sagen hätte. Onegins Verhalten ist eine altkluge Pose. Er steht für eine Generation, die Puschkin und einige andere Schriftsteller seiner Zeit als wenig hoffnungsvoll diagnostizierten: schon am Ende, bevor sie überhaupt angefangen haben.
Was Onegin in den Jahren gemacht hat, die zwischen dem Schuss auf Lenskij und seiner erneuten Begegnung mit Tatjana liegen, erfahren wir nicht. Ein ruheloses Leben mit vielen Reisen scheint er geführt zu haben, begleitet von Selbstvorwürfen wegen Lenskijs sinnlosem Tod. Es scheint, als hätte Onegins Leben erst mit dem fatalen Duell begonnen. Deshalb ist er, als er Tatjana schließlich seine Liebe gesteht, einfach ein paar Jahre zu spät dran. Nun, im dritten Akt, besäße er die Reife zu erkennen, wo sein Glück liegt. Doch der frühere, unreife Onegin hat dazu längst die Tür zugeschlagen. Im letzten Akt wirkt Onegin wie einer, über den die Zeit hinweggegangen ist, ein Verlierer in den neuen Verhältnissen. Der lässige Siegertyp, der er damals auf dem Land war, passt nicht in die neue Zeit und macht dort eine klägliche Figur. Man lädt ihn noch ein wie einen alten Onkel, der eben auch zur Familie gehört, aber niemand interessiert sich mehr für ihn. Puschkin macht sich mit romantischer Ironie über seinen Helden her und gibt ihm zum Schaden auch noch den Spott mit. Bei Tschaikowsky ist Onegin am Ende eine gebrochene Gestalt, die keine Zukunft mehr hat.
Ländliche Idylle
Aber auch Tatjana hat ein Problem damit, Situationen richtig einzuschätzen und sich der Realität zu stellen. Aus dem behüteten und langweiligen Leben als höhere Tochter auf einem abgelegenen Landgut flieht sie in die Welt der Fiktion und verputzt einen Roman nach dem anderen. Wie alle jungen Menschen, die zu viel lesen, hat sie keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. Zwischen ihr und dem wahren Leben steht die Literatur. Tschaikowsky hat diesen Konflikt sinnfällig gemacht, indem er Tatjanas und Onegins Welt aus Kunst und Einbildung immer wieder mit der des Volks spiegelt. Hier tritt auch eine nicht unerhebliche Arroganz der besseren Gesellschaft hervor. Wenn die Amme Filipjewna von ihrem unglücklichen (Liebes-)Leben erzählt, hört Tatjana kaum zu; einer einfachen Frau billigt sie nicht zu, so tief zu fühlen wie sie selbst.
Das Landleben wird in der Oper als Idylle gezeichnet: Fröhliche Bauern feiern ausgelassene Feste, die Ernte macht alle satt und zufrieden, das Einverständnis zwischen Grundbesitzern und Bauern ist ungetrübt. Onegin und Tatjana widersetzen sich dieser heilen Welt. Onegin treibt seine Selbstinszenierung bis ins Detail: Wenn alle den volkstümlichen Wodka trinken, nippt er am westeuropäischen Weinglas. Wenn Tatjana sich in der Briefszene in eine heillose Überspanntheit hin eingeredet und -geschrieben hat, hören wir den Gesang der Bauernmädchen, die von den Freuden der Liebe und einer „normalen“ Annäherung zwischen den Geschlechtern erzählen. Auch Lenskij und Olga könnten ein solches normales Paar sein, wenn Lenskijs Eifersucht und Überspanntheit nicht alles zerstören würden. Tatjana und Onegin aber sind so kopfgesteuert, dass ihre aufkeimende Liebe von einem Ballast aus Erwartungen, Posen und vorweggenommenen Enttäuschungen erdrückt wird. Tatjana weiß nicht, dass es ungeschickt ist, einen Mann, den man gerade erst kennen gelernt hat, mit den eigenen tiefsten Empfindungen zu überrollen. Und Onegin versteht nicht, dass es wichtiger ist, das Glück zu suchen, als seinen Mitmenschen ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln.
Glück und Zeit
„Eugen Onegin“ ist ein Stück über das Glück und die Zeit. Das Glück der Figuren liegt immer in Reichweite. Onegin und Tatjana könnten ein Paar werden, genau wie Olga und Lenskij. Aber der Zeitpunkt passt nicht. Onegin gibt Tatjana auf ihren Liebesbrief eine ehrliche und nachvollziehbare Antwort: In seiner aktuellen Lebensphase kann er sich die feste Bindung mit einer Frau nicht vorstellen. Ein paar Jahre später kann er es, aber Tatjana ist nun ihrerseits in eine andere Lebensphase eingetreten. Warum sollte sie jetzt ihren Versorger Gremin gegen den abgelebten, verbitterten, launischen und unzuverlässigen Onegin eintauschen? Die Moral dieser Oper ist ganz simpel und jeder und jedem von uns wohlbekannt: Manchmal klopft das Glück an deine Tür, aber du bist gerade zu beschäftigt oder nicht in der Stimmung, um aufzumachen. Und wenn du ein bisschen später doch aufmachst, ist es nicht mehr da.
Die Suche nach der kleinen Form
Die Konfrontation zwischen dem bäuerlichen Leben und der überzüchteten Gefühlswelt der Hauptfiguren gab dem Komponisten die Möglichkeit, die Oper musikalisch abwechslungsreich zu gestalten und intime Szenen mit großen Chorauftritten zu kontrastieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Tschaikowsky während der Arbeit an „Eugen Onegin“ in Kiew eine Vorstellung von „La Traviata“ gesehen hatte. Bei Verdi konnte er sich nicht nur die Ausgestaltung einer tragischen Liebesgeschichte abschauen, sondern auch dessen sehr geschicktes Wechselspiel zwischen Dialog- und Massenszenen. Die sorgfältige psychologische Zeichnung der Charaktere, in der Verdi 25 Jahre zuvor ein Pionier gewesen war, könnte Tschaikowsky auch beeindruckt haben. Er verweigerte jedenfalls zunächst die „große“ Oper: Mit voller Absicht gab er das neue Stück nicht an eines der großen Theater in Moskau oder St. Petersburg, sondern vertraute es den Studierenden des Moskauer Konservatoriums an. „Es ist für bescheidene Mittel und eine kleine Bühne gedacht“, schrieb er, als er von seinem Freund Nikolaj Rubinstein eine Aufführung an der Hochschule erbat. Es dauerte nicht lange, bis „Eugen Onegin“ ins Repertoire der großen Häuser gelangte, wo die Oper bis heute ihren festen Platz hat. Doch ihr Charakter zeugt noch immer vom Geist der Uraufführung: eine Oper für ein junges Ensemble, ohne Schwulst und großes Pathos, in ihrer Figurenschilderung klar und erbarmungslos ehrlich.
- Quelle:
- Eugen Onegin
- Staatstheater Nürnberg
- Oper von Peter Tschaikowsky
- S. 25-31
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