- Il viaggio
- Landestheater Linz
- Zwei Operneinakter von Alois Bröder - Saison 2024/25
- S. 9-12
Il viaggio
Kommentar
Text: Alois Bröder
In: Il viaggio, Zwei Operneinakter von Alois Bröder - Saison 2024/25, Landestheater Linz, S. 9-12 [Programmheft]
In seinem 2021 erschienenen Buch Liebe in Zeiten des Hasses wie auch in seinem flankierenden Zeit-Text „Wo bleibt die Liebe, wenn der Hass kommt?“ erkennt Florian Illies die späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre als Spiegel unserer Gegenwart, ähnlich wie sich die Renaissance in der Antike oder die Romantik im Mittelalter entdeckte. Zunehmend scheinen wir uns nach einer Zeit zu sehnen, die keine Sehnsucht kannte, scheinen wieder in einem Zeitalter der Hetze und des Hasses zu leben und verlernt zu haben zu lieben. Ein zurückgekehrtes radikales Freund-Feind-Denken habe sich etabliert, in dem es nie ums Argument oder den Austausch gehe, sondern nur ums Rechthaben. Symptomatisch sei die Frage Kurt Tucholskys „In der heutigen Zeit Liebe? Wer liebt denn heute noch?“ von 1931 gewesen, die den Blick auf das große unbeachtete, Verwirrung stiftende Thema jener Zeit lenke. Dem Kult um „Coolness“ und Kontrolle der Affekte entspreche Sophie Scholls „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt!“ von 1943 und Erich Kästners späterem Satz von der „einer epidemischen Lähmung gleichenden Trägheit der Herzen“. Aus Angst vor der Größe des Gefühls und vor den inneren und äußeren Dämonen sei das Innere vermauert worden. Nicht starr vor Schreck sollen wir nun aber am Rande stehen bleiben, wenn unsere Großherzigkeit und Liebe abermals unterzugehen drohen in einem neuen Meer des Hasses, sondern die Träg- und Starrheit unserer Herzen abwerfen, um wieder neu lieben zu lernen.
Das Licht vom anderen Haus und Die Reise von Luigi Pirandello, beide bereits zu Anfang eines katastrophischen Jahrhunderts am Rande Europas entstanden, handeln – bar jeglicher ironisch-nüchternen Darstellung – von Verschüttungen des Gefühls, von tiefen Emotionen und deren Wandlungen und Entwicklungen. Welche privaten und gesellschaftlichen Funktionalisierungen, welche selbst auferlegten und welche von außen kommenden Zwänge und Erwartungen halten uns so gefesselt und gelähmt, dass wir uns von ihnen befreit wünschten, um tatsächlich leben zu können? Il viaggio: Kein Abend sachlicher Kühle, sondern zwei herzergreifende Geschichten.
Doch ganz am Anfang allen Konzeptionierens stand die Begegnung mit der Pirandelloschen Novelle Das Licht vom anderen Haus, die ich angesichts ihrer inhaltlich tragenden, genuin theaterhaft beschriebenen Lichtverhältnisse als Bühnenwerk augenblicklich vor mir sah. Die Reise, weniger abstrakt, glutvoller und ausladender, hat im Grunde dasselbe Thema – das Erwachen aus Erstarrung und Leblosigkeit – und erschien mir rasch als komplementäre und gleichzeitig nicht konträre Ergänzung. Zwei verwandte, atemberaubende und erregende Geschichten, gar zwei Liebesgeschichten, die die Konzeption eines „Diptychons“ nicht nur gestatteten, sondern zu provozieren schienen. Zudem erfüllten die Novellen zwei für mich grundlegende Vorbedingungen eines Opernmaterials: Es handelt sich um (außerhalb Italiens) weitgehend unbekannte Texte. Von vornherein kann dem Vorhandensein bereits vorgefertigter Bilder entgangen werden; und beide enthalten innerhalb linearer Zeitverhältnisse nahezu keine Nebenhandlungen. Ganz kann man sich auf die jeweils wenigen Figuren konzentrieren und sich ihnen hingeben, un-abgelenkt von verwickelten Binnenerzählungen. Beide Stücke handeln von Grenzsituationen der menschlichen Existenz. Sie berichten vom Herausfinden aus inneren Gefängnissen, vom Ausbrechen aus den eigenen Grenzen, den Tabubruch nicht scheuend. Solcherart Extremsituationen sind es, die dem außerordentlich Artifiziellen von Oper gemäß sind und ein singendes Artikulieren, ein Zusammenfallen von Wort und Klang glaubhaft, ja notwendig erscheinen lassen.
So viel Trennendes die zwei Novellen enthalten, so viel Gleichartiges vereint sie auch: Beide Male lastet eine bedrückende Vergangenheit auf dem gegenwärtigen Leben – die leidvolle Kindheit Tullio Butis bzw. der von Ödnis und Leere erfüllte langjährige Witwenstand Adriana Braggis. Es entwickeln sich zwei Aufbrüche in eine letztlich tragische Zukunft, in der auf Kosten anderer bzw. auf Kosten des eigenen Lebens Liebe entstehen kann. Beide Novellen sagen etwas Ähnliches, dass nämlich Schmerz oder Tod der Preis für wahrhaftes Leben sind. Beiden gemeinsam ist eine tiefe Emotion, die von einem fundamentalen Mangel herrührt. Beide Protagonistinnen, Margherita und Adriana, verlassen ihre Kinder und sämtliche gewohnten Zusammenhänge. Beide Erzählungen sind an zentraler Stelle von liebesrauschartigen Zuständen bestimmt. Der Aussichtslosigkeit am Ende von Licht entspricht die Ausweglosigkeit am Ende von Reise. Und alle vier Hauptfiguren haben in etwa das gleiche Alter, wie auch das Präsens beider in zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Novellen dasselbe sein könnte – um 1900, vielleicht sogar dieselben vier, fünf, sechs Wochen oder Monate.
Beide Einakter sind als gleichgewichtige und eigenständige Arbeiten gedacht, die mannigfaltig aufeinander bezogen sind und auch gemeinsames Material in sich tragen. Bei Licht handelt es sich um das insge samt dunklere, bei Reise um das hellere und zugleich ausgedehntere Stück. Die Prologe umfassen – verschiedene Stationen durchlaufend – fragile Erinnerungsräume mit eruptiven Momenten (Licht) und schwebend-gelähmten Zustandsbeschreibungen (Reise). Dialogisches ereignet sich zumeist mit voneinander abgesetztem, differierendem Material, was sich bei Licht ab Mitte der siebten, bei Reise erst mit Beginn der neunten Szene ändert. Nur gelegentlich werden höhere und hohe Lautstärken erreicht: der Pianobereich herrscht vor. Musiken des Staunens und gleichsam Erwachens durchziehen Licht wie vor allem Reise. Licht endet offen, wie mit einem Schrei, Reise hingegen mit einem langgestreckten und leisen Verlöschen. Licht verharrt lange im selben Grundtempo, welches sich erst mit dem Zusammentreffen von Margherita und Tullio ändert. Ein wirklicher Zeitsprung und somit auch ein szenisches Interludio ereignen sich nur in Licht; emphatisch steuert dieses auf die zentrale, nun gesteigerte sechstönige „Lichtformel“ zu. Und nur im Verlauf von Licht bricht an maßgeblicher Stelle wieder der Prolog ein. Licht- und Kindermusiken prägen silbrig leuchtende Partien innerhalb eines dramatisch-schmerzhaften Geschehens aus. Die entscheidende vierte Szene stellt die Weichen schon frühzeitig in eine neue Richtung.
Eisenbahn, Wagen, dann Dampfer und Gondel: die Verkehrsmittel des Immerweiter werden als Bewegungsformen in Reise musikalisch spürbar. Nur in Reise erscheinen immer wieder eine tradierte Traurigkeitsfigurik (Gruppetto) und der Leerklang als Symbol des Todes. Immer wieder stellen sich Stationen des Entrücktseins Adrianas ein. Und immer wieder bricht sich hymnisch Befreiendes Bahn. Die achte Szene stellt in ihrer Vielgestaltigkeit, ihrem Kontrastreichtum und Dialoghaften ein retardierendes Moment dar; ebenso die fünfte Szene in ihrem variierten Wiederholen der früheren Arztszene. Szene neun bedeutet einen erheblichen dramatischen Einschnitt und erscheint singulär innerhalb des Doppelabends: Die Dampferfahrt gleicht einem Grenzübertritt, einer Transformation, einem magischen Übergang in eine andere Zuständlichkeit, gleicht gewissermaßen der Fahrt über den Styx.
- Quelle:
- Il viaggio
- Landestheater Linz
- Zwei Operneinakter von Alois Bröder - Saison 2024/25
- S. 9-12
PDF-Download
Artikelliste dieser Ausgabe