• Die Dreigroschenoper
  • Staatstheater Nürnberg
  • Stück von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill, Saison 2024/25
  • S. 18-31

Die Feier der Niedertracht

Text: Georg Holzer

In: Die Dreigroschenoper, Stück von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill, Saison 2024/25, Staatstheater Nürnberg, S. 18-31 [Programmheft]

Wer in klugen Büchern nach tieferen Einsichten in Brechts „Dreigroschenoper“ sucht, wird bald enttäuscht. Zwar türmt sich in den Bibliotheken die Literatur zum Werk des Dichters, die Brecht-Gelehrte in beiden deutschen Staaten und in aller Welt zusammentrugen, und „Die Dreigroschenoper“ hat als sein bekanntestes Werk darin einen prominenten Platz. Aber die Interpretationen ähneln einander und bleiben an der Oberfläche. Und wie sollte es auch anders sein? „Die Dreigroschenoper“ ist oberflächlich, bewusst simpel, provozierend schlicht. Sie pfeift auf Tiefe und Doppelbödigkeit, auf den vierfachen Schriftsinn und die Anstrengungen der Germanistik-Professoren. Sie hat ein einfaches Thema: die menschliche Niedertracht. Die trägt jede und jeder von uns in sich und kann sich deshalb leicht damit identifizieren. In der „Dreigroschenoper“ sprechen und leben die Figuren das aus, was wir alle jeden Tag so mühsam unter der Decke halten. Das könnte schmerzhaft sein, ist es aber nicht, weil es grotesk überzeichnet ist und mit charmanter Unverschämtheit vorgetragen wird. In diesem Stück ist nichts wahr und deshalb alles. Oder, wie Brecht es selbst formuliert hat: „Sie (‚Die Dreigroschenoper‘) hat nichts Falsches an sich, eine gute alte ehrliche Haut.“


Ein erfolgreiches Missverständnis

Als Brecht an der „Dreigroschenoper“ arbeitete, war er im Berlin der 1920er Jahre schon mehr als ein Geheimtipp. Sein Ruf als Enfant terrible und junge Hoffnung des deutschen Theaters hatte sich aber noch nicht materiell niedergeschlagen, sodass Brecht seine Leidenschaft (ein Automobil) und seine Pflichten (eheliche und uneheliche Nachkommen) nur mühsam finanzieren konnte. „Die Dreigroschenoper“ machte ihn durch die vielen Inszenierungen, die dem Sensationserfolg der Uraufführung folgten, zu einem wohlhabenden Mann, auch deshalb, weil er sich knapp zwei Drittel der Tantiemen gesichert und die maßgeblichen Mit-Autoren Kurt Weill und Elisabeth Hauptmann mit eher kleinen Anteilen abgespeist hatte. Dass das Stück so einschlug, war für Brecht ohne Zweifel eine große Befriedigung. Aber es machte ihm auch Unbehagen. In den späten 1920ern war der Dichter dabei, sich zu einem Marxisten auszubilden. Marx‘ Lehre überzeugte ihn zwar nicht vollständig, aber der Impuls, auch mit seinen Stücken und Gedichten für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen, wurde stärker. Von der Kommunistischen Partei hielt er sich trotzdem fern und wurde von ihr auch mit Misstrauen betrachtet, was sich bis zu seinem Lebensende nicht ändern sollte. Kein Wunder: Von kommunistischer Propaganda und Revolutions-Romantik waren seine Stücke weit entfernt, und am allerweitesten wohl „Die Dreigroschenoper“. Zwar ist sie voll von Kritik an den herrschenden Verhältnissen, an ausbeuterischen Unternehmern, korrupten Staatsdienern und falschen Gefühlen. Aber eine positive Figur im Sinne des künftigen sozialistischen Menschen wird sich in dieser Ansammlung von wenig edlen Charakteren kaum finden lassen. Es war Brecht natürlich klar, dass „Die Dreigroschenoper“ wenig zur Besserung der Menschheit beizutragen hatte. In einem Interview, das er 1933 mit sich selbst führte, fragte er sich nach den Gründen des Erfolgs und antwortete: „Ich fürchte, all das, worauf es mir nicht ankam: die romantische Handlung, die Liebesgeschichte, das Musikalische.“ Dieser Satz ist rührend, denn übersetzt heißt er etwa: Ich wäre lieber der Dramatiker der Zukunft als eine erfolgreiche Rampensau. Er ist aber auch teilweise falsch, weil der Erfolg der „Dreigroschenoper“ sicher nicht in der ironischen Romantik der schrägen Liebesgeschichte zwischen Mackie Messer und Polly begründet ist. Über die vermeintliche Liebe zwischen den beiden macht sich das Stück ja selbst lustig. Das Prinzip der „Dreigroschenoper“ ist vielmehr, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse zwar durch und durch verrottet sind, dass das von den Figuren aber gar nicht so wahrgenommen wird. Sie nehmen die schlechte Welt so, wie sie ist, und versuchen nicht, sie zu verbessern, sondern das Beste aus ihr rauszuholen. Dabei gehen sie so unbekümmert und skrupellos vor, dass den Zuschauern nichts anderes übrig bleibt, als daran ihren Spaß zu haben.


Heiße Herzen und kalte Schnauzen

Aus der Fabel der „Dreigroschenoper“ könnte man auch ein bürgerliches Trauerspiel stricken. Die Situation könnte einfacher und bekannter nicht sein: Ein junges Mädchen aus gutem Hause hat sich verliebt, nur leider nicht in einen Mann, der ihren Eltern ins Konzept passt. Doch schon hier ist klar, dass wir es hier nicht mit einer bürgerlichen Tragödie zu tun haben. Das „gute Haus“, aus dem Polly stammt, ist das Unternehmen „Bettlers Freund“ des Kapitalisten J. J. Peachum, der die Straßenbettelei in London professionalisiert und monopolisiert hat. Geld wird hier damit verdient, dass man den Menschen eine Art Armutstheater vorspielt. Peachums Erfolg beruht also durch und durch auf Betrug und Ausbeutung, sowohl seiner Bettler als auch der nichts ahnenden Passanten. Peachum ist die Karikatur eines kapitalistischen Unternehmers: Was er tut, ist unseriös, trägt aber auf verquere Weise zur Wertschöpfung bei. Er lebt nicht moralisch, sondern von der Moral, nämlich der der anderen. Seine Gattin Celia ist ihm eine ideale Partnerin: Sie befindet sich häufig am Rande des Nervenzusammenbruchs und geht mit dem Alkohol zu sorglos um, zeigt aber große Tatkraft, wenn es darum geht, die Zukunft des Familienunternehmens zu sichern und ihre Tochter vor einer unstandesgemäßen Verbindung zu bewahren.

Polly ist trotz ihrer zwielichtigen Eltern äußerlich eine perfekte höhere Tochter, aber das ist nur Fassade. Sie beginnt das Stück als naives junges Ding, das sich aus Unerfahrenheit in einen Hallodri verliebt hat, und verlässt es als eiskalte Bandenchefin. Sie ist fasziniert vom Alpha-Tier Mackie und seiner Kaltschnäuzigkeit, aber als Ehefrau hat sie auch Besitz- und Versorgungsansprüche. Von ihrer Rivalin Lucy lässt sie sich nicht zur Seite drängen, und als Mac ihr kommissarisch die Leitung der Räuberbande überträgt und sie ahnt, dass von ihm nicht mehr viel zu erwarten ist, macht sie ihre Geschäfte auf eigene Rechnung. Als er dringend Geld braucht, um seinen Gefängniswärter zu bestechen, hat sie leider gerade kein Bargeld zur Verfügung – sehr schade, dass ihr frisch gebackener Ehemann nun gehängt wird, aber was soll man machen? Im offenen Schlagabtausch mit Mackies zweiter Geliebter Lucy hat Polly durch ihre Kaltblütigkeit die Nase vorn. Lucy ist zu emotional, um in diesem harten Business zu bestehen. Sie ist viel romantischer veranlagt als Polly und wird deshalb wirklich wütend auf ihre Nebenbuhlerin. Am Ende entsteht zwischen den beiden Rivalinnen jedoch eine Art Frauen-Solidarität: Sie einigen sich darauf, dass Mac wenig wert ist und dass sie selbst schauen sollten, wie es am besten für sie weitergeht.


Harte Jungs

Der Typus des wilden Mannes gehört zum festen Inventar in Brechts Frühwerk, und man tut dem Dichter sicher kein Unrecht, wenn man vermutet, dass es sich bei Gestalten wie Baal, Garga („Im Dickicht der Städte“), Kragler („Trommeln in der Nacht“) und natürlich Macheath zumindest in Teilen um fiktive Selbstporträts handelt. Brecht war zwar im täglichen Leben lange nicht so rotzig und cool wie Mackie und Tiger Brown, aber ihm gefiel die Pose. Immerhin auf der Bühne durften Männer so sein: unverschämt, asozial und immer von schönen Frauen umgeben. Und durften dabei sogar noch den Klassenkämpfer raushängen lassen. Tiger Brown ist eine Art pervertierter Robin Hood, der sich bei den Herrschenden eingenistet hat, alle bestiehlt und den Profit in die eigene Tasche steckt. Mackie, der sogar für ein paar Möbelstücke Menschen umbringen lässt, inszeniert sich als Gentleman-Ganove vom alten Schlag, dessen kleine Untaten gegen die Methoden der großen Kartelle und insbesondere der Banken nur Peanuts sind. Als Identifikationsfigur für das Weltproletariat taugt er dennoch nicht gut. Wie alle anderen Figuren des Stücks ist er ein rücksichtsloser Egoist und Individualist. Doch er hat auch seine kleinbürgerliche Seite, feiert eine ordentliche Hochzeit, schwelgt mit dem alten Kameraden in Kriegserinnerungen und versucht, die Schwiegereltern milde zu stimmen. Im Sinne des Marxismus ist dieser Mackie Messer weltanschaulich ein Desaster, im Sinne des Theaters ist er ein großes Vergnügen.


Die Verhältnisse, sie sind nicht so

Marxisten, die ihm auf die Nerven gingen, bezeichnete Brecht gerne als „Murxisten“. Ein hübsches Wortspiel, das allerdings nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Brecht selbst im Marxismus nicht nur nicht sattelfest war, sondern ihn auch ziemlich eigenwillig interpretierte. Der Brecht-Forscher Werner Hecht berichtet vom Treffen einer Studentengruppe, der er angehörte, mit Brecht im Dezember 1955. Auf die Frage eines Studenten, wie es denn mit Brechts epischem Theater weitergehen würde, wenn einst die Beziehungen der Menschen untereinander vollkommen geworden seien, wie es der Marxismus-Leninismus versprach, sagte Brecht: „(…) vollkommene Beziehungen zwischen den Menschen können nie eintreten, weder im Kommunismus noch in den darauf folgenden Phasen.“ Damit hat Brecht den Motor seines Theaters und des Theaters überhaupt auf den Punkt gebracht: dass Menschen nicht miteinander leben können und es trotzdem immer wieder versuchen, wie Hans-Joachim Ruckhäberle es formuliert hat. Und das ändert sich nicht, ganz egal, ob ihre Gesellschaftsform kommunistisch, kapitalistisch oder sonst wie organisiert ist. Brecht konnte kein sozialistischer Vorzeige-Dramatiker werden, weil er an den „neuen Menschen“, den der Sozialismus hervorbringen sollte, nicht geglaubt hat. In der „Dreigroschenoper“ hat er das so deutlich dargestellt, dass es ihm selbst unheimlich wurde. Die Lebendigkeit von Brechts Theater entsteht daraus, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse etwas mit den Menschen machen, aber die Menschen eben auch mit den Verhältnissen. Der Mensch ist schlecht, weil die Welt schlecht ist – und umgekehrt. Der Mensch und die Macht sind für Brecht keine getrennten Sphären, sie gehören zusammen und bedingen einander. Niemand darf seine Hände in Unschuld waschen, dass die Welt so ist, wie sie ist. Irgendwie hängen wir alle mit drin, vom Berufsverbrecher Mackie über den Unternehmer Peachum bis zum mächtigen Polizeichef Tiger Brown. Und über allem schwebt in vollendeter Ironie die junge Königin von England.


Die Ohrwürmer des Kurt Weill

Als der Impresario Ernst Aufricht Brecht nach einem neuen Stück für sein Theater am Schiffbauerdamm fragte und Brecht ihm spontan eine Bearbeitung von John Gays „Beggar’s Opera“ von 1728 vorschlug, war er von Brechts Idee, Kurt Weill mit der Musik zu beauftragen, wenig begeistert. Weill hatte als Schüler von Ferruccio Busoni in Berlin den Ruf eines Avantgarde-Komponisten, der das Publikum eher vertreiben als ins Theater locken würde. Diese Sorge war völlig unbegründet. In einem legendär kurzen und intensiven Schaffensprozess mit chaotischen Proben bis kurz vor der Uraufführung schufen Weill und Brecht ein Stück Musiktheater, das auf die Grenze zwischen Ernst und Unterhaltung pfiff. „Die Dreigroschenoper“ ist zugleich eine Oper – oder eine Operette, wie Elias Canetti meinte – und eine Parodie auf die Oper. An manchen Stellen wird die Parodie konkret, am deutlichsten in Lucys durchgedrehter Eifersuchts-Koloratur und im Auftritt des reitenden Boten am Schluss des Stücks. Statt einer pathetischen Liebesgeschichte gibt es ein dreistes Gauner-Pärchen, statt herzergreifenden Arien gibt es dreckige Songs, und die Schlichtheit und Unwahrscheinlichkeit des dramatischen Aufbaus erinnert an weniger gelungene Opernlibretti des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber „Die Dreigroschenoper“ schaut man auch nicht an, um eine aufregende Geschichte mitzuerleben. Die Trümpfe dieses Stücks sind Brechts Sprache und Weills Musik. Weill gelingt das seltene Kunststück, aus seiner Kenntnis der europäischen Opern-Tradition und mit Einflüssen aus Jazz und Tanzmusik Songs zu entwickeln, die raffiniert komponiert sind, aber zugleich schlicht genug, um direkt ins Ohr zu gehen. Vor allem findet er musikalisch perfekte Entsprechungen zu Brechts Texten. Die Musik ist genauso parodistisch, pathosfrei und dabei absolut ernst gemeint wie Brechts Gedichte. Das relativ kleine Orchester bringt sowohl genug Klangfülle als auch die nötige Flexibilität, um die Stimmen zu begleiten und zur Geltung zu bringen. Den ewigen künstlerischen Konflikt zwischen Anspruch und Unterhaltung haben Weill und Brecht für dieses eine Mal gelöst.

Obwohl es mit der Oper „Mahagonny“, der Komödie „Happy End“ und dem Ballett „Die sieben Todsünden“ weitere achtbare Zusammenarbeiten von Brecht und Weill gab, war der Sensationserfolg der „Dreigroschenoper“ nicht wiederholbar. Für seine Stücke der Emigration holte Brecht sich Paul Dessau ins Boot, dessen Musik nie populär wurde und heute in Brecht-Aufführungen meist weggelassen wird, und Hanns Eisler, mit dem er mehr Glück hatte. „Die Dreigroschenoper“ aber wurde ein Dauerbrenner, auf der Bühne und in dutzendfachen Einspielungen und Interpretationen ihrer bekanntesten Songs. Brechts moralfreie Lebensweisheit und Weills geniale Ohrwürmer bleiben auch fast hundert Jahre nach der Uraufführung 1928 unwiderstehlich.

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