• Der Operndirektor
  • Nationaltheater Mannheim
  • Domenico Cimarosa, Saison 2024/25
  • S. 44-48

Das Oeuvre Domenico Cimarosas. Der übersehene Meister im Blickfeld

Ein Anstoß zu einer überfälligen Rezeption

Text: Martin Haag

In: Der Operndirektor, Domenico Cimarosa, Saison 2024/25, Nationaltheater Mannheim, S. 44-48 [Programmheft]

Dass Domenico Cimarosa (1749–1801) als ein ›vollgültiges‹ Genie aus eigenem Recht zu gelten habe, keineswegs als eine randständige Episodenfigur, diese Erkenntnis bricht sich allem Anschein nach zunehmend Bahn – und die anstehende Mannheimer Premiere des »Operndirektors« dürfte zu dieser begrüßenswerten Entwicklung das ihre beitragen… Mannheim besitzt dabei auch eine mehr als 200-jährige Cimarosa-Tradition. Dort fand unter dem Titel »Der adelssüchtige Bürger« am 13. Oktober 1791 die mutmaßlich erste ›cisalpine‹ Aufführung von Cimarosas ensemblereicher und melodiensprühender commedia per musica »Il fanatico burlato« (Neapel, 1787) mit glänzender Besetzung statt. Und im Juli 1792 klang in Mannheim als Intermezzo zwischen den beiden Akten von Haydns »Orlando Paladino« die Solokantate »Il maestro di capella« – auch Teil der aktuellen Mannheimer Fassung von »Der Operndirektor«. Auf ein ›Buffa‹-Werk des großen Italieners nimmt auch J. W. Goethe in einem Brief vom 31. Januar 1799 Bezug, als er an seinen Dichterkollegen Friedrich Schiller von der »höchsten ästhetischen Herrlichkeit der Musik« sprach. Und Gioacchino Rossini, von bewunderungsvollen Zeitgenossen als »Schwan von Pesaro« apostrophiert, bezog sich in einem Brief vom 28. Mai 1866, in welchem er Cimarosa hinsichtlich der kompositorischen Meisterschaft Bach und Händel zur Seite stellte, insbesondere auf ein Buffa-Werk des »Schwans von Italien«: der commedia per musica »Le trame deluse« (Neapel, 1786).

Trotz aller zeitgenössischen Verehrung gilt Domenico Cimarosa heute bestenfalls noch als einer der Hauptvertreter der spätneapolitanischen Buffa-Tradition. Der Journalist, Literat und Dante-Übersetzer Antony Deschamps (1800–1869) brachte dieses reduktionistische Cimarosa-Bild poetisch-sentenziös auf den Punkt in seinem Vers: »Le divin Cimarose, / Le gai Napolitain à la bouche de rose« (»Der göttliche Cimarosa, / Der heitere Neapolitaner mit dem Rosenmund«).


Opera buffa

Gewiss: Auch auf dem Feld der überreichen, kaum überschaubaren Buffa-Produktion Cimarosas sind noch zahlreiche, ungeahnte Schätze zu heben. So etwa das frühe dramma giocoso »Il matrimonio per raggiro« (Rom, 1778), dessen Finale mit einer bezaubernden Nachtszene beginnt, die auf den vierten Akt von Mozarts »Le Nozze di Figaro« vorauszuweisen scheint. Oder das burleske dramma giocoso »Il mercato di Malmantile« (Florenz, 1784), dessen zahlreiche Ensembles sich stilistisch völlig auf der Höhe derjenigen in »Il matrimonio segreto« befinden und dem überdies die beste Libretto-Dichtung (von keinem geringeren als Carlo Goldoni) zugrunde liegt, die Cimarosa je zu Gebote stand. Oder auch Cimarosas späte commedia per musica »L’apprensivo raggirato« (Neapel, 1798): Neben einer meisterhaften Quintettszene und einem innigen Duett des Liebespaares Angelica-Valerio sowie einer serenadenhafte Züge tragenden ›scena ultima‹, fasziniert besonders auch die Soloszene des Oronzio im zweiten Akt: Womöglich zum ersten Mal in der Operngeschichte, präsentiert Cimarosa hier einen im 18. Jahrhundert ungewohnten Arientypus, den man kolloquial als ›Nostalgie-Arie‹ rubrizieren könnte. Eine Opernfigur blickt, ›in die Jahre gekommen‹, wehmütig auf ihre nun fernliegende Jugendzeit zurück. Oronzios Arie, nördlich der Alpen mit deutschem Text im Druck verbreitet, scheint auch im deutschen Opernrepertoire ein vielfältiges Echo gefunden zu haben. Dieses reicht vom tänzerisch-beschwingten Auftakt des Duetts »On the banks of sweet Garonne« in C. M. von Webers sublimem Schwanengesang »Oberon« bis hin zum elegischen Monolog der Marschallin in Strauss‘ / Hofmannsthals Meisterwerk »Der Rosenkavalier«.

Erweist sich Cimarosas an grandiosen musikalischen Einfällen überreiches Buffa-Schaffen mithin auch als kunsthistorisch bedeutsam, so stellt es doch nur eine Facette im weitgespannten Œuvre dieses Komponisten dar: Nicht minder authentisch und bedeutsam präsentieren sich zwei weitere Schaffensbezirke Cimarosas, die diesem nicht weniger wichtig waren: Die geistliche Musik und die Opera seria.


Geistliche Musik

Erfreulicherweise liegen zwei hochbedeutende geistliche Werke des neapolitanischen Maestro – sein klangprächtiges »Te deum« (1798) und sein bewegendes »Kyrie« in B-Dur (1800) – in modernen Klavierauszügen im Druck vor. Für eine Wiederentdeckung geradezu prädestiniert scheint im Übrigen auch Cimarosas große Messe in Es-Dur (1796). Einer im damaligen Neapel noch lebendigen barocken Tradition entsprechend, verzichtet der Maestro auch in dieser Vertonung des Messordinariums auf jede ›Durchkomposition‹ im Stil Haydns oder Mozarts. Nicht alleine seine Messen und Motetten, sondern auch seine ›Oratori sacri‹ besaßen für Cimarosa, der »Soli Deo gloria« oder »Finis laus Deo« auch ans Ende mancher seiner Opern schrieb, wohl den Charakter von Bekenntnismusiken. Unter seinen insgesamt neun Oratorien – für einen Komponisten seiner Zeit eine ungewöhnlich hohe Zahl – ragen besonders »Il sacrificio di Abramo« (Neapel, 1786) und »Giuditta ed Oloferne« (übrigens dasselbe Sujet wie Mozarts »La Betulia liberata«, Venedig, 1782) heraus. Auffällig an Cimarosas Oratorien ist die Häufung alttestamentarischer Stoffe. Es scheint wahrscheinlich, dass der Komponist die, zuletzt an einer vulgären Hetzkampagne gescheiterten, Bemühungen des Bourbonen-Königs Don Carlo von Neapel um eine Verbesserung des Rechtsstatus der süditalienischen Judenheit ostentativ unterstützte. Nimmt man zu diesem Bild hinzu, dass Cimarosa während der fatalen Wochen einer brutalen Prozesswelle in Neapel einen ihm völlig unbekannten Insurgenten – unter eigener Lebensgefahr – mehrere Wochen in seiner Wohnung versteckte, um ihn vor dem sicheren Tod zu retten, so rückt der große Mozart-Zeitgenosse in seiner menschlichen Qualität als ›musicien engagé‹ charakterologisch in die Nähe Ludwig van Beethovens (der übrigens Cimarosas Musik durchaus schätzte und in einem Brief an Erzherzog Rudolph, Kardinal von Österreich, humoristisch auf den jetzt in Mannheim zur Aufführung anstehenden »Impresario in angustie« Bezug nahm).


Opera seria

Als einzige Opera seria Cimarosas wurden »Gli Orazi e i Curazi« (Venedig, 1796) ab Mitte des 20. Jahrhunderts wiederholt aufgeführt. Aufs Äußerste vernachlässigt erscheinen eine Reihe anderer, mindestens ebenso genialer Seria-Partituren des italienischen Maestro. »La vergine del sole« (St. Petersburg, 1787/1788) enthält im zweiten Teil des zweiten Aktes einen die Formkomplexe von Recitativo accompagnato, Arioso, Duett, Quartett, und Chor zu großartiger Synthese verbindenden ›Szenenblock‹ von nicht weniger als 867 Takten. Eine ähnliche Fähigkeit zu satztechnischer Weiträumigkeit offenbart das Finale des ersten Aktes von »Artemisia, regina di Caria« (Neapel, 1797) – in Form des wohl gewaltigsten Kettenfinales der italienischen Seria-Literatur des Settecento. Der »Rokokoromantiker« Cimarosa nimmt in jenem kontrastreichen harmonischen Verlauf des Finales Stilentwicklungen der späteren Deutschen Romantischen Oper vorweg: Zu verweisen wäre etwa auf die Eröffnungsszene des dritten Aktes von C. M. von Webers »Euryanthe«, in deren Orchester-Introduktion ein ebenfalls so weiter Kreis von Tonarten berührt wird, dass eine Vorzeichnung im herkömmlichen Sinn kaum mehr möglich scheint. Cimarosas zweite »Artemisia« von 1799/1800, wegen des tragisch frühen Todes des Komponisten leider Fragment geblieben, ist ein von »Artemisia, regina di Caria« völlig verschiedenes Werk. Anders als jene verzichtet Cimarosas zweite »Artemisia« zur Gänze auf das zu seiner Zeit eigentlich obligatorische ›lieto fine‹ (happy end) und schließt, knapp zwei Jahrzehnte vor Gioacchino Rossinis »Otello«, hochtragisch mit dem durch eine numinose Macht bewirkten Tod der weiblichen Heldin. Die Uraufführung von Cimarosas von fremder Hand ergänzter, letzter Oper fand posthum am 17. Januar 1801 am Teatro La Fenice in Venedig statt.


Würdigung

In Lukans noch heute lesenswertem Epos »De bello civili« – Cimarosa, humanistisch gebildet und an der Geschichte, gerade auch der antiken, interessiert, dürfte es gekannt haben – findet sich der lapidare Vers: »Stat magni nominis umbra.« Vielzitiert ließe er sich im Deutschen in etwa folgendermaßen übersetzen: »Von dem einst großen Namen ist nur noch ein Schatten übrig.« Die Sentenz wäre mühelos auf Domenico Cimarosa anwendbar: Solange sein den Wechsel der Zeit überdauernder Nachruhm willkürlich auf einige wenige Partituren beschränkt wird, verbleibt der ehedem europaweit gerühmte Hilfsmaurer-Sohn aus dem Mezzogiorno unweigerlich in der Dunkelzone der Rezeptionsgeschichte. Die Gestalt des großen neapolitanischen Mozart-Zeitgenossen aus dieser musikhistorischen Schattenexistenz Schritt für Schritt zu befreien, bleibt eine Aufgabe, zu deren Bewältigung die anstehende Cimarosa-Premiere am Nationaltheater Mannheim einen wohl nicht unwesentlichen Beitrag leisten kann.