• Die Frauen der Toten
  • Theater Erfurt
  • Alois Bröder, Saison 2012/2013
  • S. 12-14

Die Frauen der Toten – Anmerkungen des Komponisten

Text: Alois Bröder

In: Die Frauen der Toten, Alois Bröder, Saison 2012/2013, Theater Erfurt, S. 12-14 [Programmheft]

Vorbemerkung

Seit langem schon treibt mich die Suche nach einem Opern-Gegenstand um: ein mir schwierig erscheinendes Unterfangen, ist doch bei „großen“ Stoffen eine massive Reduktion und Vereinfachung des Gefüges notwendig, um auf der Opernbühne funktionieren zu können. Als ich Nathaniel Hawthornes kurze Erzählung The Wives of the Dead (Die Frauen der Toten) kennenlernte, bemerkte ich schnell, dass sie alle Voraussetzungen erfüllt, die für mich bei einem solchen Projekt wesentlich sind: sie ist weitgehend unbekannt und damit nicht von vorgefertigten Bildern besetzt, ist wenig ausgedehnt und bedarf nahezu keiner Kürzung, ist vieldeutig schillernd, narrativ aufgebrochen und kommt fast ohne interne Erzählungen aus, enthält eine überschaubare Anzahl von Figuren, deren Charaktere kaum individuell ausgeprägt sind, ist frei von historischer Festgelegtheit und somit legendenhaft zeitlos, handelt, ohne ins Dramatische umzuschlagen, von menschlichen Ur-Situationen im Spannungsfeld zwischen Realität und Traum und hat schließlich eine streng-formale, von Symmetrien geprägte Anlage. Eine derart artifizielle Grundkonstellation legitimiert nach meinem Empfinden in besonderer Weise das (sonst fraglose?) singende Artikulieren auf der Bühne, nicht zuletzt im Sinne des berühmten Verses von Welemir Chlebnikov:

Wenn Pferde sterben, schnaufen sie
Wenn Gräser sterben, vertrocknen sie
Wenn Sonnen sterben, verlöschen sie
Wenn Menschen sterben, singen sie Lieder


Zur Erzählung The Wives of the Dead

Wahrscheinlich hat Nathaniel Hawthorne The Wives of the Dead zwischen 1829 und Anfang 1830 im Kontext seiner Provincial Tales geschrieben, womit diese Story zu seinen frühesten Arbeiten gehört. Angesichts der Ambivalenz der Handlung und der Aufgeladenheit der Wortbedeutungen wirkt diese Geschichte noch heute überraschend modern, nicht zuletzt weil Hawthorne die Aktivität des Rezipienten voraussetzt – ein Umstand, dem sich offenbar nicht nur die zeitgenössischen Leser verweigert haben, sondern auch ein Großteil der späteren wissenschaftlichen Kritik. The Wives of the Dead entspricht prototypisch Edgar Allan Poes Eindruck von Hawthornes Schreiben: „Jedes Wort erzählt, und es gibt kein Wort, das nicht erzählt.“

Fast gleichzeitig entstanden mit z. B. Robert Schumanns frühem Klavierzyklus Papillons oder Stendhals Roman Le Rouge et le Noir, ist diese Wiederauferstehungsgeschichte ein atemberaubender, hoch-konzentrierter, motivisch durchgearbeiteter, ein suggestiver und von Symbolen durchzogener, luzid-kontrollierter Text, der obendrein mannigfaltige und zum Teil explizite Bezüge zu anderer Literatur (Altes und Neues Testament, Voltaires Zadig, Platons Höhlengleichnis) aufweist. Die Figuren der Mary und der Margaret leiten sich womöglich von Maria und Martha ab, deren Bruder Lazarus von Jesus wiedererweckt wurde (vgl. Johannes 11 oder Lukas 10), so dass es sich hierbei unter Umständen um die Vorlage zu Hawthornes Geschichte handeln könnte. Und vielleicht rühren „Mary“ obendrein von „mare“ (= „Meer“: ihr Mann ist auf See gestorben) und „Margaret“ von „margin“ (= „Rand“: ihr Mann hat im Grenzgebiet zu Kanada den Tod gefunden) her.

Das Verständnis der gesamten Erzählung scheint von der Interpretation der letzten Zeilen abzuhängen, den vielleicht unerklärlichsten und rätselhaftesten in Hawthornes Werk: „But her hand trembled against Margaret’s neck, a tear also fell upon her cheek, and she suddenly awoke.“ (Hervorhebungen A.B.) Sie stellen plötzlich die exakte Unterscheidbarkeit zwischen Traum und Realität in Frage: Ist mit „her“ bzw. „she“ Mary oder Margaret gemeint? Hat Mary oder Margaret ihre Begegnung geträumt? Träumen beide ihr Glück? Oder handelt es sich vielleicht doch um die Darstellung zweier Realitäten? Man verliert den Glauben an die Wirklichkeit des Ganzen, und jedes nochmalige Lesen der Erzählung verändert die Wahrnehmung des Textes. Nur retrospektiv kann daher auffallen, dass viele anfängliche Annahmen falsch oder unklar waren. An entscheidender Stelle abreißend, endet die Story unmittelbar vor ihrer dann nötigen Dramatisierung.

Veranlasst durch zahlreiche versteckte Hinweise und Andeutungen im Text, tun sich eine Vielzahl nicht eindeutig zu klärender Fragen auf: Welche Rolle spielt die Kinderlosigkeit der Witwen, die ja ermöglicht, dass sie sich nun nur um ihre Trauer zu kümmern haben? Im gemeinsamen Schmerz sind sie einander nun mehr verbunden als durch ihre verwandtschaftliche Beziehung: Welcher Art ist ihr Verhältnis wirklich? Ist die Aussicht, dass nur ein Bruder wiederkehrt, bedrohlicher, als wenn beide tot blieben? Hat Margaret insgeheim ein Schuldgefühl, dass Marys Mann tot ist? Fürchtet Mary vielleicht die Rückkehr ihres Schwagers mehr als den Tod ihres eigenen Mannes? Fürchtet sie auch die Rückkehr ihres Mannes? Handelt es sich um die Darstellung versteckter Dynamiken eines geteilten Haushalts, ausgelöst durch Trauer und unverhoffte Ereignisse? Warum fällt Marys (oder Margarets?) Träne am Ende? Ahnt sie das biblische Gesetz: „Wenn zwei Brüder zusammen wohnen und der eine von ihnen stirbt und keinen Sohn hat, soll die Frau des Verstorbenen nicht die Frau eines fremden Mannes außerhalb der Familie werden. Ihr Schwager soll sich ihrer annehmen, sie heiraten und die Ehe mit ihr vollziehen.“ (Deuteronomium 25:5) Mit dem Tod der Brüder und dem Einander-Näherkommen der Schwägerinnen wird die Aufteilung der Räumlichkeiten in einen gemeinsamen und in einen privaten Bereich aufgelöst: Ist das Grundthema der Erzählung die zerbrechliche Balance eines auf Zweiheit gegründeten Haushaltes (2 Stockwerke, 2 Frauen, 2 Brüder, 2 Tage, Zwielicht, 2 Boten, 2 Schlafräume; aber: 1 Nacht, 1 Haus, 1 Fenster!)? Und angesichts der Tatsache, dass ja eine ca. 100 Jahre alte, längst vergangene Geschichte erzählt wird: sind die Männer denn nun zurückgekehrt?

Indem Hawthorne den Erzähler ferner nicht nur erzählen, sondern immer wieder auch das Geschehen kommentieren lässt, schafft er eine Szenerie, in der Traum und Wirklichkeit, gerade in dieser Zeit der Krise, ineinander verschmelzen. Wenn der Leser vom abrupten Ende verwirrt wird und die Notwendigkeit empfindet, das Ganze in Traum oder Realität aufzulösen, hat er den tieferen Gehalt der Geschichte verfehlt. Denn es gibt keine Lösung für dieses Ende: Die Spannung zwischen Irrealität und Wirklichkeit ist fundamental.


Form / Sprachen / Weitere Texte / Regie

Je nachdem, ob die Begegnungen der beiden Frauen als (träumerische) Wirklichkeit oder (realistischer) Traum aufgefasst sind, wird in der Oper die Geschichte Nathaniel Hawthornes zwei Mal erzählt, als zwei Möglichkeiten eines Handlungsverlaufes.

Die Oper repräsentiert gewissermaßen zwei Lesarten der Erzählung, wobei Version 1 der ersten, Version 2 der zweiten Lektüre entspricht – eine Lösung, die auch mit der oben genannten Symmetrie und Zweiheit der Story korrespondiert.

Da Träume durchaus als real erlebt werden und ihre Inhalte in hohem Maße der Wirklichkeit entnommen sind, verwendet Version 2 im Wesentlichen die gleichen musikalischen Materialien wie Version 1, sie jedoch nun vielfältig abwandelnd und verändernd.

Die beiden namenlosen Brüder erscheinen in der Oper leibhaftig.

Mit Ausnahme der ersten beiden Szenen der zweiten Opernhälfte, in denen die deutsche Übersetzung sowohl der Artikulation von Irrealität (ist man im entrückten Zustand nicht prinzipiell aller Sprachen mächtig?) als auch (wie zahlreiche weitere Maßnahmen) der Unterscheidbarkeit beider Versionen dient, wird der Text in der englischen Originalsprache verwendet. Der große poetische Sprachreiz Hawthornes kann so ebenso wie die zahlreichen nicht übersetzbaren Doppeldeutigkeiten und Andeutungen erhalten bleiben.

Aus Altem und Neuem Testament, aus Zadig und weiteren Hawthorne-Texten ist, interpretierend und die beiden Versionen individualisierend, zusätzliches Sprachmaterial eingefügt worden.

Für die Regie entsteht ein reiches Feld visueller Möglichkeiten, die verschiedenen Wahrnehmungsebenen voneinander abzuheben, die sich doppelnden Geschehnisse zu variieren und somit in einem Spiel der Phantasie die Relativität der Realität spürbar werden zu lassen.