- La Cage aux Folles
- Staatstheater Nürnberg
- Musical von Jerry Herman, Saison 2024/25
- S. 25-31
I am as good as you!
Text: Wiebke Hetmanek
In: La Cage aux Folles, Musical von Jerry Herman, Saison 2024/25, Staatstheater Nürnberg, S. 25-31 [Programmheft]
Vor den ersten Tryouts in Boston war die Anspannung des Produktionsteams mit Händen zu greifen: Wie würde das Publikum auf dieses Stück reagieren? Ein Musical, in dem ein homosexuelles Paar im Mittelpunkt steht? Noch dazu in einer Zeit, in der durch AIDS die Homophobie in den USA wieder angestiegen war? Komponiert hatte es mit Jerry Herman immerhin ein Broadway-Altmeister – dessen zwei letzte Shows allerdings Flops gewesen waren …
Eines der meistgespielten Musicals
Die Sorgen erwiesen sich als unnötig: Das Publikum reagierte begeistert. Tatsächlich liefen die Tryouts, also die in der Musicalbranche üblichen Testvorstellungen jenseits des Broadways, in Boston so gut, dass kaum etwas an der Show geändert werden musste. Die Cagelles, die Künstler*innen im „Käfig voller Narren“, hatten sich mit ihrem ersten Auftritt in die Herzen der Zuschauer*innen gespielt, weswegen der Produzent kurzerhand ihre Gage verdoppelte. Mit einem Song weniger, einem geänderten Bühnenbild und kleinen Korrekturen kam „La Cage aux Folles“ am 21. August 1983 am New Yorker Broadway zur Uraufführung. Es lief dort vier Jahre lang und gewann einige der begehrtesten Tony-Awards, der Oscars der Musicalbranche. Bis heute ist es eines der meistgespielten Musicals.
Theater-Kino-Broadway
„La Cage aux Folles“ war zunächst als Film in den USA bekannt geworden. 1979 kam die italienisch-französische Produktion von Regisseur Eduard Molinaro in die amerikanischen Kinos und hatte einen unerwarteten Erfolg erzielt. Eigentlich galt er als klassischer Fall für das Programmkino, doch bald stellte sich heraus, dass er auch beim Mainstream ankam, und so wurde der Film eine wichtige Station für die Sichtbarkeit von queeren Paaren im Kino. Der Film wiederum basiert auf einem französischen Theaterstück: Jean Poiret war ursprünglich Schauspieler, der u.a. in Filmen von Truffaut und Chabrol mitspielte. Sein Theaterstück „La Cage aux Folles“ wurde 1973 im Pariser Théâtre du Palais-Royal uraufgeführt und lief dort mit großem Erfolg 900-mal en suite. Der Charme des Stückes liegt in der Leichtigkeit der Boulevardkomödie, mit der Poiret das damalige Tabuthema der gleichgeschlechtlichen Ehe präsentierte. Ein Vorgehen, das auch die Produzenten des Musicals übernehmen sollten.
Alfred Carr hatte das Theaterstück Anfang der 80er auf einer Pariser Theaterbühne gesehen und war sofort davon überzeugt, dass dies der geeignete Stoff für ein Musical war. Carr hatte sich bereits einen Namen als Co-Produzent der Verfilmung von „Grease!“ und als Manager diverser Broadway-Künstler*innen gemacht. Da die Rechte an dem Film von Molinaro nicht freigegeben wurden, griff Carr auf das Theaterstück zurück. Ursprünglich hatte er ein anderes Team um den Komponisten Maury Yeston („Titanic“) vorgesehen, was er aber nach einigen Arbeitsproben wieder verwarf. Schließlich entschied er sich für Jerry Herman als Komponisten und Liedtexter, Harvey Fierstein als Buchautor und Arthur Laurents als Regisseur.
Jerry Herman (1931–2019)
Jerry Herman galt in dieser Zeit bereits als „Altmeister“ des Broadways. Seine großen Erfolge hatte er mit „Hello Dolly!“ und „Mame“ in den 1970er Jahren gefeiert. Herman stammte aus einem musikalischen Elternhaus und strebte schon früh eine Karriere als Komponist an. Bereits während seines Studiums schrieb er Shows – Musik und Songtexte – und knüpfte Kontakte zum Broadway. 1964 schrieb er mit Mitte Dreißig seinen ersten Welterfolg: „Hello Dolly!“, zwei Jahre später folgte „Mame“. (Beide Musicals waren bereits in den 1970er Jahren am Staatstheater Nürnberg zu sehen, während „La Cage aux Folles“ erst 2025 seine Nürnberger Erstaufführung erlebt.) Danach wurde es still um Jerry Herman, zwei weitere Musicals waren erfolglos geblieben, er zog sich zurück und widmete sich verstärkt seinem Steckenpferd, dem Renovieren und Restaurieren alter Häuser – bis Alfred Carr ihn für „La Cage“ anfragte.
Harvey Fierstein (* 1952)
Im Gegensatz zu Jerry Herman stand Harvey Fierstein noch am Anfang seiner Karriere. 1952 geboren, hatte er Ende der 1970er mit seiner „Torch Song Trilogy“ einen ersten großen Erfolg als Schauspieler und Autor gefeiert. Fierstein schrieb später außerdem die Libretti von „Newsies“ und „Kinky Boots“, er war als Schauspieler in Filmen wie „Mrs. Doubtfire“, „Bullets over Broadway“ oder „Independence Day“ zu sehen und erhielt für die Rolle der Edna in der Uraufführung des Musicals „Hairspray“ seinen vierten Tony-Award. 2025 erhielt er den Tony für sein Lebenswerk.
Anachronistisch und subversiv
Dass „La Cage aux Folles” bei der Verleihung der Tonys 83/84 so erfolgreich war, hatte manche Zeitgenossen überrascht; denn das Musical erschien in vielfacher Hinsicht geradezu anachronistisch – nachdem doch mit dem Konzeptmusical „Hair“ die Popmusik, mit „Jesus Christ Superstar“ eine durchkomponierte Rockoper oder mit dem Komponisten Sondheim elaborierte Kompositionen am Broadway schon längst einen anderen Ton angeschlagen hatten. „La Cage“ war stattdessen ein dezidiertes Book-Musical, bei dem sich die Songs und Tanznummern organisch aus der Handlung entwickelten. Die Musik von Jerry Herman erinnerte mit ihrer Jazz-Harmonik, der klassischen Orchesterbesetzung und der Dominanz der Melodie eher an die Musicals der 50er-Jahre als an zeitgenössische Werke. Doch damit folgte Herman dem Ton des Buches, das die Leichtigkeit der literarischen Vorlage übernahm und das Subversive der Handlung in ein well-made-play verpackte.
Was heißt Familie?
Der Ton sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie innovativ das Musical in den 1980er tatsächlich gewesen war: Zum ersten Mal stand ein homosexuelles Paar im Mittelpunkt einer Show. Es lebt nicht nur seit über 20 Jahren zusammen, sondern hat auch gemeinsam einen Sohn großgezogen. Dieses Paar steht vor den üblichen Problemen einer langen Ehe, und das Stück stellt Fragen, die nichts mit dessen Homosexualität zu tun haben, tatsächlich sogar eher um konservative Themen kreisen: Was heißt Familie, was macht Elternschaft aus, was heißt (monogame) Liebe, wie weit darf ich für mein eigenes Glück gehen? Dass diese Fragen anhand eines langjährigen homosexuellen Paares durchgespielt werden, war die eigentliche Revolution – in einer Zeit, in der eine anerkannte „Ehe für alle“ weltweit noch weit von der Realität entfernt war.
Das Rad dreht sich zurück
Problematisiert werden diese Familienverhältnisse erst durch das Auftauchen der Dindons, deren Vorstellung von Familie sich auf ein konservatives Vater-Mutter-Kind-Prinzip beschränkt. Doch das Lachen über dieses rückständige Ehepaar ist uns heutzutage schon wieder vergangen. Während es eine Zeit lang so aussah, dass immer mehr Menschen das Leben und Lieben queerer Personen akzeptieren würden, dreht sich das Rad bereits wieder zurück: Die „Rainbow Map“, die jährlich die LGBTQ+-Rechte in allen europäischen Ländern bewertet, zeigt für das Jahr 2025 einen Rückschritt. „Die großen Headlines kommen aus Großbritannien oder Ungarn“, so Advocacy Director Kathrin Hugendubel, „aber die Demokratie erodiert in ganz Europa leise durch eine Strategie der tausend Nadelstiche.“ Dazu gehöre u.a., dass Parteien auf EU-Ebene die Förderung von NGOs einschränken oder auf nationaler Ebene LGBTQ+-feindliche Gesetze einbringen, diskutieren oder verabschieden. „Die Normalisierung der Anti-LGBTI-Rhetorik ist nicht nur eine Bedrohung für eine Community“, so Hugendubel, „sie ist mittlerweile ein erwiesener direkter Angriff auf die demokratischen Grundsätze, auf denen unsere Gesellschaften basieren.“
Ich bin, was ich bin!
„La Cage aux Folles“ plädiert für die Liebe in jedweder Façon. Wenn Georges den Song „Mit dir im Arm“, mit dem Jean-Michel seine Liebe zu Anne beschreibt, im zweiten Teil übernimmt und daraus seine Liebeserklärung für Albin macht, dann wird das Plädoyer zur Selbstverständlichkeit.
„I am what I am“ ist das Herzstück des Werkes. Der Legende nach war der Song bereits komponiert, bevor das Buch fertig gestellt war. Auch dieser Song ist eine Reprise: Herman greift am Ende des ersten Akts die Opening-Nummer der Cagelles „Wir sind, was wir sind“ auf. Doch nach der tiefen Verletzung, die Jean-Michel Albin zugefügt hat, wird die Shownummer zum Bekenntnissong, mit dem sich Albin vom hilflosen Opfer zum trotzigen Kämpfer ermächtigt. Der Song hat sich längst unabhängig vom Musical zur Hymne des Empowerments entwickelt – für viele Menschen, die um ihren Platz in der Gesellschaft fürchten müssen: „I am useful, I am true, I am worthy, I am as good as you!“
- Quelle:
- La Cage aux Folles
- Staatstheater Nürnberg
- Musical von Jerry Herman, Saison 2024/25
- S. 25-31
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