Im Reich der Urbilder
Text: Konrad Kuhn
In: Magazin, November / Dezember 2025, Oper Frankfurt, S. 12-13 [Publikumszeitschrift]
Leopold Mozart bereiste ab 1762 mit seinen beiden Wunderkindern Wolfgang und Nannerl ganz Europa und führte ihre Künste an den verschiedensten Fürstenhöfen, vor Königen und vor der Kaiserin Maria Theresia vor. Da war »das Wolferl« sechs Jahre alt. Von Wien bis Paris und London war die Begeisterung groß. Im Jahr 1770 – Wolfgang hatte inzwischen (vor allem beim Vater) Kompositionsstudien absolviert und neben Instrumentalkompositionen nicht nur seine erste Sinfonie, sondern auch das Singspiel Bastien und Bastienne sowie die Buffa-Oper La finta semplice komponiert – brach Leopold mit seinem Sohn zu einer Italienreise auf. Ziel war die Anstellung an einem Hof. Dazu musste der Vierzehnjährige in der Königsdisziplin reüssieren: Eine ernste Oper zu schreiben. In Mailand erhielt er den Auftrag dazu. Das vorgegebene Libretto von Vittorio Amedeo Cigna-Santi war zuvor schon von dem italienischen Komponisten Quirino Gasparini vertont worden. Es fußt auf der Tragödie Mithridate von Jean Racine aus dem Jahr 1673.
Die Hauptaufgabe bestand darin, den für die Premiere verpflichteten Sänger*innen virtuose Arien zu schreiben, in denen sie ihr Können zeigen konnten. Und sie davon zu überzeugen, dass auch ein halbwüchsiger Knabe dazu in der Lage wäre! Mozarts Ehrgeiz ging jedoch darüber hinaus. Er wusste das großbesetzte Orchester, das ihm am Teatro Regio Ducale (der Vorgängerinstitution der Mailänder Scala) zur Verfügung stand, stilsicher einzusetzen und verlangte auch den Musiker*innen einiges an Virtuosität ab.
Stupende Menschenkenntnis
Was uns heute jedoch am meisten verblüfft, ist der Tiefgang der Charakterporträts und die psychologisch feinsinnige Ausleuchtung der spannungsgeladenen Situationen, die Mozart schon in dieser ersten großen Opera seria gelingt. Das einstige Wunderkind muss die vielfältigen Eindrücke auf seinen vielen Reisen aufgesogen haben, so dass Wolfgang schon als Teenager über eine Menschenkenntnis verfügte, die uns staunen macht; doch nur dann, »wenn er in Tönen denkt«, wie Nikolaus Harnoncourt es formuliert hat. In Mitridate, re di Ponto erweist sich bereits das Können des genuinen Musiktheaterkomponisten. Wobei die starre Form der Opera seria ein enges Korsett vorgibt. Dazu nochmals der Dirigent Nikolaus Harnoncourt: »Die leere Bravour, die Koloratur um ihrer selbst willen hat Mozart nie geschrieben. In der Opera seria gibt es, oberflächlich gesehen, eine Schematisierung der Affekte, aber bei Mozart wird sie immer wieder durchbrochen. Es werden jeder Figur über das Libretto hinaus Züge gegeben, wie sie die traumwandlerische Sicherheit des geborenen Dramatikers findet.«
Arie für Arie – ansonsten gibt es nur ein Duett und das abschließende Quintett – zeichnet Mozart scharfumrissene Figuren und bringt uns ihre Nöte und Qualen, ihre Hoffnungen und Ängste nahe. Richard Strauss, der Mozart sein Leben lang bewundert und verehrt hat, hat dafür folgende Worte gefunden: »Die Mozart’sche Melodie schwebt gleich Platos Eros zwischen Himmel und Erde, zwischen sterblich und unsterblich – befreit vom ›Willen‹ –, tiefstes Eindringen der künstlerischen Fantasie, des Unbewussten, in letzte Geheimnisse, ins Reich der ›Urbilder‹.«
Zwischen Himmel und Erde
»Zwischen Himmel und Erde, zwischen sterblich und unsterblich« scheinen auch die Figuren dieser frühen Mozartoper zu schweben. Wer sind die Menschen, die uns in Mitridate, re di Ponto begegnen? Da ist einmal der historisch verbürgte Titelheld, ein in der Antike für seine Eroberungszüge bekannter Feldherr. Sein Reich lag ursprünglich an der Südküste des Schwarzen Meeres (»Pontus«), umfasste jedoch schon bald große Teile Kleinasiens und der gesamten Schwarzmeer-Region bis hin zur heutigen Halbinsel Krim. Er schaffte es, der Großmacht Rom über Jahrzehnte hinweg die Stirn zu bieten, bis der römische Feldherr Pompeius ihn in einer Seeschlacht besiegte. An diesem Punkt setzt die Handlung ein.
Mitridate hat zwei Söhne aus zwei verschiedenen Ehen: Farnace ist der ältere; ihm gegenüber ist der Vater besonders misstrauisch, ahnt er doch, dass der Sohn heimlich mit dem Feind gegen ihn konspiriert. Der jüngere, Sifare, steht seinem Herzen näher, doch auch dieser Sohn zieht seinen Argwohn auf sich, nachdem Farnace ihn angeschwärzt hat. Obwohl er nicht mehr der Jüngste ist, will Mitridate ein drittes Mal heiraten. Dazu hat er die junge, schöne Aspasia auserkoren, deren Vater der Heirat zugestimmt hat. Sie ist bereits als Königin ausgerufen, als Mitridate in die Schlacht gegen Pompeius zieht.
Um die Loyalität seiner Braut wie auch seiner Söhne auf die Probe zu stellen, streut der König das Gerücht, er sei im Krieg gefallen. Woraufhin Farnace den Thron umgehend für sich in Anspruch nimmt und die Braut des Vaters bedrängt. Aspasia hat sich jedoch, bevor sie von ihrem Vater zur Heirat mit Mitridate gezwungen wurde, in Sifare verliebt, und dieser in sie. Damit sind die Konflikte vorprogrammiert, und die sich zuspitzenden Situationen bringen die Figuren mehr und mehr in Todesnähe.
In der Inszenierung von Claus Guth, die im März 2025 als Koproduktion am Teatro Real in Madrid Premiere hatte und nun an der Oper Frankfurt in neuer Besetzung erarbeitet wird, liegt der Fokus nicht auf der Historie. Die antike Titelgestalt wird als heutiger Machtmensch gezeigt. Ob Mitridate ein Staatenlenker oder ein Wirtschaftsboss ist, bleibt zweitrangig.
Ort der Handlung ist das Vaterhaus, von Bühnenbildner Christian Schmidt fast wie ein Filmset realistisch gestaltet. Das Bühnenbild hält jedoch eine zweite Ebene bereit: Buchstäblich als Kehrseite der modernen Architektur erleben wir auf der Drehbühne einen abstrakten Raum, in dem die Figuren auf eine Gruppe von Tänzer*innen treffen und von ihnen zum Teil verdoppelt werden. Hier kommen ihre innersten Gefühlsregungen zum Ausdruck. Auf diese Weise wird einerseits die spannungsvolle Handlung detailgenau transportiert, andererseits kommt die hochemotionale Beredsamkeit von Mozarts Arien zu ihrem Recht. Ein selten gespieltes, frühes Meisterwerk des Genies ist zu entdecken.
MITRIDATE, RE DI PONTO
Wolfgang Amadeus Mozart 1756–1791
Opera seria in drei Akten / Text von Vittorio Amedeo Cigna-Santi nach Jean Baptiste Racine / Uraufführung 1770, Teatro Regio Ducale, Mailand / In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
FRANKFURTER SZENISCHE ERSTAUFFÜHRUNG Sonntag, 7. Dezember
VORSTELLUNGEN 11., 14., 20., 22., 28. Dezember / 4., 10. Januar
MUSIKALISCHE LEITUNG Leo Hussain INSZENIERUNG Claus Guth BÜHNENBILD Christian Schmidt KOSTÜME Ursula Kudrna CHOREOGRAFIE Sommer Ulrickson LICHT Olaf Winter DRAMATURGIE Konrad Kuhn
MITRIDATE Robert Murray ASPASIA Bianca Tognocchi SIFARE Monika Buczkowska Ward FARNACE Franko Klisović ISMENE Alina Avagyan° MARZIO Jihun Hong° MAJORDOMUS Philippe Jacq
° Mitglied des Opernstudios
In Koproduktion mit dem Teatro Real, Madrid, dem Teatro di San Carlo, Neapel, und dem Gran Teatre del Liceu, Barcelona
Mit freundlicher Unterstützung [Logo Patronatsverein]
- Quelle:
- Magazin
- Oper Frankfurt
- November / Dezember 2025
- S. 12-13
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