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  • Radio Klassik Stephansdom
  • # 39 | Winter 2025
  • S. 26-31

Salieri und die Sehnsucht nach „Capezzoli di Venere“

Text: Manuela Santangelo , Dario Santangelo

In: Magazin Klassik, # 39 | Winter 2025, Radio Klassik Stephansdom, S. 26-31 [Hörermagazin]

Antonio Salieri war möglicherweise einer der am meisten ver leumdeten und negativ dargestellten Künstler aller Zeiten. Eine ihm zugeschriebene Sache, die aber bei allen auf Sympathie stößt, ist seine Vorliebe für Süßes, insbesondere für die „Capezzoli di Venere“, Pralinen aus Kastanien und Schokolade ... Was, wenn Salieri sie nie gekostet hat?


„Salieri war von mehr kleinem als großem Wuchse … Er trank nur Wasser, liebte aber ungemein Back- und Zuckerwerk …“. Das erzählt uns Ignaz Franz von Mosel (österreichischer Komponist und Musikschriftsteller) in der Biographie „Über das Leben und die Werke des Anton Salieri“ (1827), in der er zwei Jahre nach dessen Tod über den Musiker, Freund und Lehrer schreibt. Salieri selbst bestätigt seine Leidenschaft für Süßigkeiten in einer Kindheitserinnerung, die Mosel zu Beginn der Biographie mit den Worten des Meisters wiedergibt. Aber woher kommt der Mythos, dass Salieris Lieblingsdessert die „Capezzoli di Venere“ (Venusbrüstchen) waren? Mosel erwähnt diese nicht, und es gibt keine historischen Quellen, die sich auf Salieri oder andere beziehen, die die berühmte Süßigkeit erwähnen. Das Gleiche gilt für Kochbücher oder andere kulinarische Quellen aus dieser Zeit.


Der Mythos

Die „Capezzoli di Venere“ erlangten durch Peter Shaffers Theaterstück „Amadeus“ aus dem Jahr 1978 Berühmtheit. Erstmalig zu sehen waren sie in dem gleichnamigen Film „Amadeus“ von Miloš Forman, der auf Shaffers Komödie basiert. Obwohl Schaffers Stück auf dem Theaterstück „Mozart und Salieri“ von Aleksandr Puškin aus dem Jahr 1830 beruht, in dem es um Neid geht, gibt es hier keine Spur von Salieris süßen Gelüsten oder den „Capezzoli di Venere“.

In Legnago, Salieris Geburststadt, befindet sich die antike Konditorei Scarpato, die 1888 von Pierluigi Scarpato gegründet und später von seinem Sohn Luigi und seinem Enkel Pietro fortgeführt wurde. Letzterer soll in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts das originale und alte Rezept der berühmten Süßigkeiten entdeckt haben. Somit wurden sie bereits vor dem Film „Amadeus“ in der Konditorei Scarpato hergestellt. Waren sie es, die Shaffer und Formann inspiriert haben? 1985 stellte Pietro Scarpato den 14-jährigen Cristiano Pizzinato als Lehrling ein, der heute Eigentümer und Chef-Konditor der Pasticceria Scarpato ist. Er ist es, der das berühmte Originalrezept geerbt hat. Pizzinato stellt heute die Konfekte her, die Salieri so geliebt haben soll. Diese sind in einer musealen Vitrine in einer Ecke der Konditorei ausgestellt, begleitet von einem Kärtchen, das über den Musiker Salieri und seine Liebe für sie berichtet, die auch Mozart geteilt haben soll. Mit diesen Süßigkeiten ist auch eine eher unglaubwürdige Geschichte verbunden, deren Quelle unbekannt ist. Es wird erzählt, dass Salieri diese Pralinen so sehr liebte, dass er sie, wenn er nach Legnago kam, nicht nur für sich selbst kaufte, sondern auch als Geschenk für den damaligen Wiener Hof.

Aber nicht nur Legnago und seine Protagonisten beanspruchen die Urheberschaft und Originalität des Rezepts für sich, sondern auch die Stadt Salzburg. Anlässlich des 200. Todestages von Mozart (1991) kreierte Ludwig Rigaud, damaliger Besitzer der „Specerey Stranz & Scio“ in Mozarts Geburtshaus, eine köstliche Praline aus dunkler Schokolade, gefüllt mit Kastaniennougat und mittig einer würzigen Sauerkirsche. Die Kreation von Rigaud ist von einem nicht präzisierten Rezept aus der Barockzeit inspiriert. Heute sind sie als „Original Salzburger Venusbrüstchen ©“ bekannt und konkurrieren mit dem Produkt aus Legnago um den Titel der Lieblingssüßigkeit von Salieri und Mozart. Und sie sind nicht die Einzigen: Im Internet gibt es unzählige Rezepte für diese Pralinen, präsentiert von Food-Bloggern bis hin zu improvisierenden Schokoladeliebhabern. Zu guter Letzt kommen noch die Pralinen aus dem Film „Chocolat“ hinzu, die von der sinnlichen Juliette Binoche hergestellt werden, die in dem Film eine Chocolatière spielt, für die Schokolade die Quintessenz des Lebens ist.

Aber was sind diese „Capezzoli di Venere“? Ein Phönix, der seit fünf Jahrzehnten wiederauferstanden ist und in der ohnehin schon umfangreichen Mythologie um Salieri wütet? Fast immer handelt es sich um gefüllte Halbkugeln mit einer kleinen Spitze, dem Häubchen, das farblich einen Kontrast zur Halbkugel bildet, sodass das Ganze wie eine appetitliche Brustwarze aussieht. Die Halbkugel ist mit einer weißen oder dunklen Glasur überzogen. Im ersten Fall kann es sich um weiße Schokolade oder Zuckerguss mit weißer Schokolade handeln, im zweiten Fall meist um Zartbitterschokolade, manchmal aber auch um Milchschokolade. Das Häubchen variiert zwischen dunkler Schokolade, weißer Schokolade und Zuckerguss, der meist rosa gefärbt ist. Die Füllung besteht bevorzugt aus einer cremigen Masse aus Kastanien, Schokolade oder Kakao, Butter, Likör und sie ist in der Regel nicht gewürzt. Bei jenen von Binoche besteht die Füllung nicht aus Kastanien, sondern aus Mandeln. Dieser Variante sind viele Rezepte nachempfunden, bei denen klar ist, dass die Autoren noch nie von Salieri gehört haben, sondern nur den Film „Chocolat“ kennen.

So köstlich all diese Pralinen auch sein mögen, sie können nicht jene sein, die Salieri so geliebt hat, vorausgesetzt, Salieri hat jemals Konfekt namens „Capezzoli di Venere“ gegessen. Warum das so ist? Beginnen wir mit der Schokolade, die im 18. Jahrhundert sehr beliebt war. Schokolade war damals hauptsächlich ein Getränk, bitter und manchmal mit Chili gewürzt. Die getrockneten Kakaobohnen wurden gemahlen, um eine Paste herzustellen. Diese wurde Kakao genannt, und wenn sie zu einem Getränk verarbeitet wurde, Schokolade. Im 18. Jahrhundert wurde Kakao bereits in einigen Süßspeisen verwendet, die sich jedoch deutlich von unseren heutigen Schokodesserts unterscheiden. Die Kakaobutter wurde durch Kochen in Wasser und Abschöpfen gewonnen. Die Schokolade, wie wir sie kennen, ist eine Mischung aus Kakaopulver, kaltgepresste Kakaobutter und Zucker. Um kaltgepresster Kakaobutter zu erhalten, musste man bis 1828 warten, als der niederländische Chemiker Coenraad Johannes van Houten eine hydraulische Presse zur Gewinnung von Kakaobutter erfand. Van Houten hat auch die Methode entwickelt, Kakaobohnen mit Alkalisalzen zu einem feinen Pulver zu verarbeiten. Von hier aus vergingen nur noch wenige Jahre bis zur Erfindung der ersten Tafel Schokolade. Es war der englische Chocolatier Joseph Fry, der 1847 die erste Tafel Schokolade herstellte. Aber erst 1912 gab es die ersten Schokopralinen. Und es dauerte bis 1930, bis die Welt die erste Tafel weißer Schokolade verkosten konnte. Die Erfindung der weißen Schokolade geht auf Nestlé zurück – eine Möglichkeit, die Vorräte an Kakaobutter und Milchpulver aus dem Ersten Weltkrieg zu verwerten. Es ist also unwahrscheinlich, dass Salieri und auch Mozart sich mit den bisher beschriebenen „Capezzoli di Venere“ vollgestopft haben und dass die vermeintlichen Originalrezepte, falls es jemals welche gab, jene sind, die heute als solche gefeiert werden.


Was alle suchen und niemand findet, was ist das?

Die Antwort auf dieses Rätsel lautet: die Leere. Und genau das gilt auch für diese Süßigkeit, denn es gibt eine historische Leere. Alle reden davon, aber es gibt keine Dokumente, Rezepte oder Hinweise, die auf ihre Existenz zur Zeit Salieris hinweisen. Auch wenn der suggestive Name dieser Süßigkeit im Stil des 17. und 18. Jh. ist. In dieser Zeit entstehen verschiedene Süßspeisen, die an die weiblichen Reize erinnern. Hier nur zwei, die auch heute noch sehr beliebt sind: In Sizilien, in Catania, gibt es seit dem 17. Jh. die „Minne di Sant’Agata“ (Brüste der Hl. Agatha), die sich zwischen dem 18. und 19. Jh. zu ihrer heutigen Form entwickelt haben. Aus Altamura in Apulien in der Provinz Bari hingegen stammen die „Sise delle Monache“ (Nonnenbrüste) aus dem Klarissenkloster, die sogar im 16. Jh. entstanden sind und ihre heutige Form Ende des 18. Jh. erhalten haben.

Im 18. Jahrhundert hatte die Mode der Schokolade auch erotische Aspekte. Das Getränk galt als aphrodisierend, vielleicht wegen seiner Schärfe durch Chili. In Venedig interessierte sich auch Casanova dafür, nicht nur weil es trendig war, sondern auch weil es als Getränk galt, das das Feuer der Leidenschaft entfachte. Die Verbindung von Sinnlichkeit und Süßigkeiten ist zwar nicht ausschließlich im 18. Jh  zu finden, aber in diesem Jahrhundert erreicht sie einen Gipfel, der in verschiedenen Texten über die Liebe erläutert wird. Wie könnte man also nicht glauben, dass es Süßigkeiten namens „Capezzoli di Venere“ gegeben haben könnte? Die Frage ist, wie diese Süßigkeiten nach den Zutaten und Techniken der damaligen Zeit wohl aussahen.


Così fan tutti … i „Capezzoli di Venere“

Um Mozart zu zitieren, der wie Salieri in diese Querele um die Venusbrüstchen verwickelt ist. Uns scheint es angebracht, diesem Konfekt eine für das 18. Jahrhundert passende Form zu geben. Wir haben unser Rezept mit damals verfügbaren Produkten entwickelt, für die Fülle gekochte Edelkastanien, rohe und nicht alkalisierte Kakaomasse, gereiften und hoch aromatisierten Rum, unraffinierten Rohrzucker und Almbutter aus Rohmilch verwendet. Die Füllung ruht auf einem Mürbeteigboden, wie es damals üblich war. Ebenfalls den damaligen Modetrends folgend verwendeten wir Karamell für die erste Schicht des Konfektüberzugs. Darüber eine einfache Zuckerglasur, nur aus Wasser und Zucker. Eine zweite Glasur, die der ersten gleicht, jedoch mit Kakao gefärbt ist, rundet das Konfekt mit dem klassischen Häubchen ab. Wer weiß! Vielleicht hätte es sogar Salieri und Mozart geschmeckt.


Zur Rezeptbeschreibung weiter auf Seite 28.