Essay
„Klassisch oder modern?“
Reine Ansichtssache
Text: Johannes Beckmann
In: PROspekt, # 10 | August-November 2019, Theater Erfurt, S. 5 [Publikumszeitschrift]
Wenn ein potentieller Kunde sich an unserer Vorverkaufskasse beraten lässt, bemühen sich die Mitarbeiterinnen, dem Besucher einen Überblick über unsere aktuellen Produktionen zu verschaffen und ihn – seinen Vorlieben entsprechend – durch den Spielplan zu lotsen.
Nachdem das Gespräch vom Webber-Musical zum Tanzabend führte, von dort wieder zurück über Mozarts Zauberflöte mit einem Schlenker durch die STUDIO.BOX schließlich bei Verdis Rigoletto landete, folgt die alles entscheidende, ja, oft kaufentscheidende Frage des Kunden: „Rigoletto klingt gut. Irgendwie italienisch. Aber: Ist das klassisch oder modern???“
Was könnte die Kollegin nun antworten? Vielleicht: „Oh, es ist definitiv ganz klassisch, versprochen, da passiert nichts, was Sie nicht schon 100 Mal gesehen haben. Ich kann Sie beruhigen: Auch wenn Sie im 1. Akt einschlafen, ist das kein Problem. Glauben Sie mir: die Handlung ist gar nicht so wichtig, denn die ganzen anrührenden Emotionen, die bekommen Sie ja auch so mit. Und nicht zu vergessen die schönen Kostüme – der Herzog von Mantua mit goldbesticktem Mantel und wundervoll funkelndem Degen und der Rigoletto, ach, ich sage Ihnen, sein AnschnallBuckel ist seit 20 Jahren an jedem Theater der Hingucker, so herrlich bemitleidenswert …“?
Oder antwortet sie: „Nun, sehen Sie, die Lesart des lettischen Regiekombinats verortet Rigoletto in einer dystopischen Welt, in einer Art Matrix, in der Gilda eigentlich ihren Vater gefangen hält, weil der sie offenbar als Kind missbraucht hat. Die Farbgebung der – bis auf einen blutigen, aus dem Schnürboden herabhängenden Uterus (Symbol für Gildas und zugleich auch ihres Vaters Sack) – vollkommen leeren Bühne wabert in unterschiedlichen Grauschattierungen, so dass die ihrer Persönlichkeit beraubten und daher selbstredend notwendig nackten Darsteller erst durch gegenseitiges Bodypainting Gestalt annehmen. Eine wirklich großartige, moderne Inszenierung – es ist, als sähen Sie Rigoletto zum ersten Mal …“?
Vermutlich würden beide Antworten den potentiellen Kunden nicht beglücken. Aber hat er das nicht geradezu provoziert? Was ist das denn – eine „klassische“ Inszenierung oder eine „moderne“? Diese Gegenfrage müsste man ihm unbedingt stellen, denn die Antworten darauf fallen wahrscheinlich so vielfältig und subjektiv aus, wie es auch die Besucherinnen und Besucher des Theaters sind. Wir wissen also nicht so ganz genau, was gemeint ist, haben aber zumindest eine Ahnung davon.
Unterstellen darf man, dass die oft gehörte Frage impliziert: „Klassisch“ wäre etwas Gutes. „Modern“ wäre wohl tendenziell schlecht, das würde man beim Kartenkauf sicher umschiffen.
Mit jeder Inszenierung an unserem Haus bemühen wir uns, diese ominöse Frage unbedingt offen zu halten und uns nicht auf irgendeine Seite ziehen zu lassen. Wir versuchen, dem Publikum ganz unterschiedliche Ästhetiken und Handschriften anzubieten, gerade weil „modern“ und „klassisch“ keine allgemein definierten und überprüfbaren Begriffe sind.
Auch wenn ich also letztlich nicht sagen kann, ob eine Inszenierung „klassisch“ oder „modern“ ist, kann ich doch sagen, was wir mit jeder unserer Produktionen wollen oder eben nicht wollen.
Wir wollen nicht die Wiederkehr des Immergleichen, wollen nicht, dass das Publikum in seiner Erwartungshaltung nur bestärkt wird. Wir wollen keine Regisseure, die die Traviata oder den Parsifal in Erfurt genauso inszenieren wie in Klagenfurt oder Köln. Wir wollen keine schönen Kostüme, wo es um Mord, Totschlag und Krieg geht. Wir wollen keine Posen und keine Klischees von Sängerinnen und Sängern, wollen keine Berieselung fürs Publikum und wollen nicht, dass der Theaterabend am nächsten Tag schon wieder vergessen ist. In diesem abschätzigen Sinne wollen wir nicht „klassisch“ sein.
Wir wollen aber auch nicht belehren, wir wollen nicht, dass man nach dem Theaterabend gar nicht weiß, ob man Mozarts Zauberflöte oder Reimanns King Lear gesehen hat. Wir wollen kein Therapieangebot für Regisseure sein. Wir wollen die Liebesgeschichte nicht zu einer Konsumkritik 2.0 und aus der Revolutionsoper keine psychoanalytische Betrachtung des Zölibats machen. Wir wollen das Publikum nicht zwingen, die „eigene Leere auszuhalten“, wir wollen Musiktheater nicht grundsätzlich durch Performance ersetzen. In diesem Sinne wollen wir nicht „modern“ sein.
Was wir wollen: Wir wollen ganz klassisch unterhalten, wollen aber auch relevant und deshalb modern und heutig sein. Wir wollen mit unseren Inszenierungen das Publikum sinnlich verführen, wollen anregen, aber auch zum Widerspruch herausfordern. Wir wollen Fantasie leben auf der Bühne und Fantasie anregen im Parkett. Wir wollen manchmal nur andeuten, um nicht plakativ und banal zu werden. Wir wollen ein modernes Publikum, das sich kindliche Neugierde bewahrt auf etwas, das es noch nicht kennt und das bereit ist, den Theaterabend im Kopf mitzugestalten. Ganz im Sinne eines Solo-Programms der großen Lore Lorentz gilt nämlich auch im Theater: „DENKEN IST NICHT GESUNDHEITSSCHÄDLICH!“
Johannes Beckmann
Stellvertretender
Generalintendant
- Quelle:
- PROspekt
- Theater Erfurt
- # 10 | August-November 2019
- S. 5
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