• PROspekt
  • Theater Erfurt
  • # 11 | Dezember 2019 - März 2020
  • S. 5

Essay

Der nächste, bitte!

Vom Auswahlverfahren für Orchestermusiker

Text: Norina Bitta

In: PROspekt, # 11 | Dezember 2019 - März 2020, Theater Erfurt, S. 5 [Publikumszeitschrift]

Die Solo-Flötistin, der Tutti-Bratschist und die Stimmführerin in den zweiten Geigen – jeder einzelne Musiker, jede einzelne Musikerin in einem deutschen Berufsorchester gehört zu einer kleinen Gruppe von Auserwählten, die den Sprung in einen professionellen Klangkörper geschafft haben. Die größte Hürde stellt dabei das Probespiel dar, eine Art Casting, in dem die Mitglieder eines Orchesters über den zukünftigen Kollegen abstimmen. 

Orchesterstellen sind begehrt und rar gesät, der Konkurrenzkampf gewaltig – und längst ist daraus ein internationaler Kampf geworden, in dem hochausgebildete Musiker/innen aus aller Welt gegeneinander antreten. Deutschland mit seinen über 130 öffentlich finanzierten Orchestern ist dabei Sehnsuchtsort für die meisten Instrumentalisten, die eine klassische Ausbildung durchlaufen haben. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viele Orchesterstellen mit allen Annehmlichkeiten einer sicheren Anstellung: festes Gehalt, Sozialversicherung, Vertrag auf Lebenszeit.

Kein Wunder also, dass auf jede einzelne ausgeschriebene Stelle ein Vielfaches an Interessenten kommt. Auf eine vakante Kontrabassstelle im Konzerthausorchester Berlin bewerben sich beispielsweise rund 100 Bassisten, von denen wiederum bloß die Hälfte zum Probespiel eingeladen wird. Je nach Instrument, Region und Orchester variieren die Zahlen, eines ist aber klar: Die meisten gehen leer aus. Und das, obwohl sie sich in ihren Qualifikationen und Fähigkeiten auf ähnlich hohem Niveau bewegen. Jeder Einzelne hat jahrelang Musik studiert, Meisterkurse besucht, sich ein hochwertiges Instrument angeschafft und gezielt auf die Probespielsituation hintrainiert.

Das Probespiel ist ein Auswahlverfahren, das sich über mehrere Runden erstreckt. Die Kandidaten werden nach und nach ausgesiebt, bis am Ende eine Art Stechen zwischen zwei oder drei Finalisten stattfindet. Diese dürfen dann manchmal auch ein Wahlstück vorspielen, um sich mit ihren individuellen Stärken zu präsentieren – in den ersten Runden hingegen wird von allen dasselbe Repertoire verlangt, um möglichst objektiv vergleichen zu können. Üblicherweise müssen zunächst ein Stück aus einem Standard-Solokonzert und anschließend sogenannte Probespielstellen dargeboten werden.

Probespielstellen sind instrumentenspezifische Abschnitte aus Orchesterwerken, die eine besondere Herausforderung für jeden Instrumentalisten darstellen. Die bei Probespielen geforderten Stellen ähneln sich orchesterübergreifend so sehr, dass es bei den Musikverlagen längst Sammel-Ausgaben für jedes Instrument gibt, in denen die Passagen gebündelt abgedruckt sind. Und schon in der Ausbildung werden die Studierenden entsprechend gedrillt: An den Musikhochschulen steht regelmäßiges Probespieltraining auf dem Lehrplan, in dem die angehenden Orchestermusiker sich gegenseitig immer wieder die einschlägigen Stellen vorspielen, um die Bewerbungssituation zu üben.

Mehr als gut vorbereitet sind also alle, die zum Probespiel antreten – jede Stelle wurde hunderte, vielleicht sogar tausende Male geübt, jeder Triller und jedes Piano bis ins Kleinste ausgefeilt. Umso wichtiger ist eine möglichst faire Vorspielsituation, um allen Bewerbern unabhängig von Geschlecht, Alter und Herkunft dieselben Chancen einzuräumen. Gängige Praxis ist es daher seit einigen Jahren, dass in der ersten Runde ein Vorhang zwischen Jury und Kandidaten angebracht wird, damit ausschließlich nach musikalischen Kriterien ausgewählt wird – was unter anderem zu einer signifikant höheren Frauenquote in Orchestern geführt hat.

Der Druck, der vor und während eines Probespiels auf den Musikern lastet, ist immens. In wenigen Minuten muss eine Punktlandung erbracht werden: Jeder Lauf, jeder Ton muss perfekt sitzen, jede Phrase durchdacht musiziert werden, auf der einen Seite die individuell künstlerische Persönlichkeit präsentiert und auf der anderen Seite die Eignung für das Gruppengefüge im Orchester gezeigt werden. Und selbst, wenn all das perfekt funktioniert, braucht es oft viele Anläufe: Vierzig Versuche, eine Stelle zu bekommen, sind durchaus Realität. Denn bei der Vielzahl an Konkurrenten, die sich ebenfalls fehlerlos und künstlerisch überzeugend präsentieren, braucht es eben auch das Quäntchen Glück, um als Sieger hervorzugehen.

Da verwundert es nicht, dass junge Instrumentalisten zunehmend auf ProbespielSeminare, Entspannungstechniken und Mental-Coachings setzen, um sich für den Stress zu wappnen und im entscheidenden Moment die volle Leistung abrufen zu können. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass auch Medikamente eine Rolle spielen, zum Beispiel Beruhigungsmittel und BetaBlocker zur Regulierung des Herzschlags. Das gilt zwar nicht als Doping, zeigt aber deutlich: Ein Probespiel ist eine mentale und physische Ausnahmesituation.

Unter anderem deswegen werden mittlerweile auch andere Auswahlverfahren diskutiert und vereinzelt erprobt, die eine ganzheitlichere Bewertung der Kandidaten ermöglichen: Zum Beispiel über eine projektweise Verpflichtung, die sich über mehrere Proben und Konzerte erstreckt. Auch wenn diese alternativen Verfahren bisher mehr Idee als Realität sind, tragen sie der Tatsache Rechnung, dass im Berufsalltag nicht nur musikalische Perfektion gefragt ist – ein Orchestergraben ist eng und gute Kommunikation mit den Kollegen wichtig. Denn: Nach dem Probespiel ist vor dem Probejahr, in dem der Neuzugang eingehend geprüft wird. Erst nach Ablauf dieser Zeit gibt es eine abschließende Abstimmung darüber, ob der Auserwählte sich musikalisch und persönlich bewährt hat und wirklich bleiben darf – so schnell kann der Traum vom Orchesterjob auf Lebenszeit also auch wieder zerplatzen.

Norina Bitta
Musiktheater- und Konzertpädagogin, studierte Flöte und Kultur-/ Musikmanagement 

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