- PROspekt
- Theater Erfurt
- # 11 | Dezember 2019 - März 2020
- S. 8-9
Premiere
Singende, tanzende und sterbende Schwäne
Text: Stephan Drehmann
In: PROspekt, # 11 | Dezember 2019 - März 2020, Theater Erfurt, S. 8-9 [Publikumszeitschrift]
Immer wieder wird er in Opern und anderen Musikwerken
gesichtet, dabei ist er im wirklichen Leben nicht mal besonders musikalisch:
Was macht den Schwan für Komponisten so interessant? Eine Spurensuche durch die
europäische Kulturgeschichte …
Ein Entenküken stellt fest, dass es anders ist als seine
Geschwister. Ausgestoßen und einsam verbringt es den Winter und erkennt
schließlich im spiegelnden Wasser, dass es zu einem hübschen Schwan
herangewachsen ist. Im Märchen von Hans Christian Andersen zeigt sich die
innere Schönheit des „hässlichen Entleins“ in der äußeren Verwandlung: Der
Schwan als höhere Daseinsform.
Die körperliche Transformation scheint ein wesentlicher
Bestandteil des Schwanenmotivs zu sein. Im Märchen handelt es sich bei den
großen weißen Vögeln oft um verzauberte Menschen. So in Die wilden Schwäne von
Andersen oder der deutschen Entsprechung Die sechs Schwäne aus der Sammlung der
Brüder Grimm.
Die Unschuld vom Wasser
Ein bekanntes Sagenelement in vielen eurasischen Kulturen
ist das des Schwanenmädchens: Eine junge Frau kann sich mithilfe eines
magischen Federkleids in einen Schwan verwandeln. In dieser Gestalt erlangt sie
die Freiheit, sich über das Wasser und durch die Luft zu bewegen, sie wird eins
mit der Natur. Um sie an der Verwandlung zu hindern, muss ein Mann ihr erst
eine Feder aus dem Gewand rauben. Nur durch diese gewaltsame Beschneidung ihrer
Fähigkeiten zeigt sich die Jungfrau zur Ehe bereit. In Alexander Puschkins Märchen
vom Zaren Saltan gibt die Prinzessin dagegen freiwillig ihre Schwanengestalt
auf, nachdem Fürst Gwidon sich als ihrer würdig erwiesen hat. Sie wird so zum
selbstbestimmten Gegenentwurf sowohl zu ihren überlieferten Vorgängerinnen als
auch im Märchen zu Gwidons Mutter Militrissa, die sich ihrem Ehemann stets
unterordnet.
In der Ballettmusik Schwanensee von Peter Tschaikowsky ist
die verzauberte Prinzessin gegen ihren Willen als Schwan auf einen Waldsee
gebannt worden. Odette kann dieser Lage nur durch die Liebe und Treue eines
Menschen entfliehen, doch Prinz Siegfried lässt sich von einer Nebenbuhlerin
ablenken und der Fluch bleibt bestehen. Damit ist Tschaikowskys Figur Antonín
Dvořáks Rusalka aus dessen gleichnamiger Oper näher verwandt als den vorher
genannten Schwanenmädchen.
Schwan gehabt
Freilich gibt es nicht nur Frauen, die als Schwan auftreten.
So verführt der griechische Göttervater Zeus die spartanische Prinzessin Leda
in Gestalt des weißen Vogels und zeugt mit ihr die schöne Helena und den
unsterblichen Helden Polydeukes. Der Schwan, der in Richard Wagners Oper
Lohengrin den Kahn des Titelhelden zieht, entpuppt sich am Ende als der
verloren geglaubte Gottfried, dessen Verschwinden seine Schwester Elsa
überhaupt erst in Bedrängnis brachte und somit Lohengrins Erscheinen notwendig
machte. Wagner greift mit seiner Handlung eine Reihe älterer Sagen auf, die sich
um den meist namenlosen Schwanenritter ranken. Immer umgibt dieser seine
Herkunft mit einem Geheimnis, das er mit einem Frageverbot belegt. Wird es
gebrochen, kehrt er der Welt der Sterblichen den Rücken.
Fifty Shades of White
Ob nun verzauberte Frauengestalt oder Wappentier des idealen
Ritters – stets scheint die Farbe des Schwans Ausdruck der Reinheit und des
Guten zu sein. Weiß symbolisiert die bräutliche Unschuld, in der katholischen
Liturgie ist es den höchsten Feiertagen vorbehalten und im Hermelinpelz wird es
zum Attribut der Könige. Doch diese Zuschreibung lässt sich auch ins Gegenteil
verkehren. Herman Melville widmet in seinem berühmten Roman Moby Dick ein
ganzes Kapitel der weißen Farbe des gejagten Wals. Darin lässt er den Erzähler
vorbringen, dass „Weiß nicht so sehr eine Farbe“ sei, als vielmehr „die
sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Gesamtheit aller Farben (…) –
eine farblose Allfarbe der Gottlosigkeit, vor der wir zurückschrecken“.
Nun sind auch die Schwäne, die in Musiktheaterwerken
auftreten, nicht durchweg unschuldige und makellose Figuren, ja sie sind nicht
einmal immer weiß: So tritt das Gegenbild der Schwanenkönigin in Tschaikowskys
Ballett in Gestalt eines schwarzen Schwans als Verführerin auf. Odette und
Odile verkörpern die beiden Aspekte der femme fragile und femme fatale,
filmisch zugespitzt in der Darstellung der Protagonistin in Darren Aronofskys
Thriller Black Swan aus dem Jahr 2010.
Schwanitas
Schon im Alten Ägypten galt ein schwarzer Schwan als Vorbote
des Niedergangs. Als Pharao Echnaton im 14. Jahrhundert vor Christus seine neue
Hauptstadt Achetaton aus der Wüste stampfen ließ, prophezeite er, sie solle
bestehen „bis der Schwan schwarz und der Rabe weiß“ werde. Unabhängig von der
Farbe ist der Schwan in vielen Kulturen eng mit dem Tod und dem Übertritt ins
Jenseits verbunden. Den Griechen galt er zudem als Symbol der Eitelkeit. In der
Sage stürzt sich Kyknos, der hochmütige Sohn des Apollon, von einer Klippe und
wird im Fall in einen Schwan verwandelt. Die Walküren erscheinen in der
nordischen Mythologie mit weißen Flügeln. Sie geleiten die auf dem Schlachtfeld
gefallenen Krieger nach Walhalla.
Aus Griechenland stammt die Vorstellung, dass ein Schwan vor
seinem Tod einen herrlichen Trauergesang anstimmt. Einer der ersten bekannten
Madrigalgesänge „Il bianco e dolce cigno“, komponiert von Jacques Arcadelt in
den 1530er Jahren, greift diesen Mythos auf. Unter Schwanengesang versteht man
allgemein das letzte Werk eines Künstlers. Berühmt ist vor allem die unter
diesem Namen veröffentlichte Liedersammlung Franz Schuberts, die einen Monat
vor seinem Tod entstand. Der sprichwörtlich gewordene „sterbende Schwan“ geht
auf eine Choreografie von Michel Fokine zurück, die dieser 1905 auf Camille
Saint-Saëns’ „Schwan“ aus dem Karneval der Tiere kreierte.
Thomas Mann setzt Trauerschwäne in seiner letzten
vollendeten Novelle Die Betrogene als Todesomen ein. Und auch in der Popkultur
ist das Motiv des Schwans als Wesen von morbider Schönheit vertreten. 1980 veröffentlichte
die Band Karat den Song „Schwanenkönig“ mit ihrem gleichnamigen Album. In
Dietmar Daths 2008 erschienenen Science-Fiction-Roman Die Abschaffung der Arten
tritt eine Schwanenfrau als Wahrerin der Erinnerungen der Menschheit auf und
wird schließlich von der künstlichen Intelligenz einer posthumanen Zivilisation
verzehrt.
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