• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • September/Oktober 2020
  • S. 26-27

Portrait

Nur fliegen ist schöner

Jonathan Abernethy. Tenor

Text: Stephanie Schulze

In: Magazin, September/Oktober 2020, Oper Frankfurt, S. 26-27 [Publikumszeitschrift]

Einen Tenor auf sein hohes C zu reduzieren, wäre vermessen, aber ohne brillante Spitzentöne geht es auch nicht. »Auf die hohen Töne läuft alles hinaus, jeder im Publikum erwartet sie. In diesen Momenten muss vieles stimmen, man muss ausgeruht sein, eine sichere Technik haben, gleichzeitig spielen auch Elemente des Unbekannten, etwas Mystisches hinein«, beschreibt der junge Sänger aus Neuseeland die für ihn beinahe enigmatische Fähigkeit, die Bruststimme bis in hohe Lagen zu führen. »Mir kommt es so vor, als gelte es, eine große Schlucht zu überbrücken, ohne zu wissen, wie und was auf der anderen Seite liegt. Darin besteht ein ganz besonderer Reiz.«

Höher, schneller, weiter

Jonathan Abernethy liebt Herausforderungen und Extreme, die Überwindung kosten. Nicht nur beim Singen sucht er den besonderen Kick. Bungee-Jumping aus Flugzeugen, Autorennen, Downhill Mountain Biking – Hauptsache schnell und ein bisschen gefährlich. »Ich bin ein Adrenalin-Junkie. ›Mäßigung in Maßen‹ ist höchstwahrscheinlich mein Motto«, sagt er augenzwinkernd. Von dem Traum Pilot zu werden, musste er sich früh verabschieden. Seine Augen beginnen jedoch zu leuchten, wenn er von Kunstfliegern wie den Red Arrows oder den Blue Angels und ihren atemberaubenden Stunts erzählt: »In meiner Freizeit baue ich kleine ferngesteuerte Maschinen und Drohnen und düse mit ihnen zumindest visuell mit einer Geschwindigkeit von bis zu 140 km/h durch verlassene Fabrikhallen oder übers Gebirge. Ich nehme sie überall mit hin. Wenn ich Michael Fabiano treffe, dann werde ich etwas wehmütig: Er ist Tenor und Pilot!«

Kontinuierliche Beschleunigung

Das Fliegen in der Musik selbst gehört für Jonathan Abernethy jedoch zu den unvergleichlichen Erlebnissen. »Das hohe C klappt ziemlich gut, und ist für mich bei Weitem nicht so beängstigend wie zum Beispiel Koloraturen!« Beim ersten Blick in die Noten für ein Konzert mit Thomas Hengelbrock im Concertgebouw Amsterdam im vergangenen Jahr dachte er sich: »Händel hätte ab und zu ruhig ein paar Töne weglassen können!« Er lacht. »Aber dann war es unglaublich beglückend. Wenn ich das Gefühl habe, völlig in der Musik zu sein, der Klang strömen kann wie auf einer geschmeidigen Achterbahn, in der keine Unebenheiten zu spüren sind, und alles in kontinuierlicher Beschleunigung geschieht, dann ist das wahnsinnig befriedigend. Mozart oder Donizetti verschaffen mir dieses Gefühl.« Neben seinen ersten Frankfurter Auftritten in Salome, Julietta und Romeo und Julia auf dem Dorfe debütierte er in seiner derzeitigen Lieblingsrolle Nemorino (L’elisir d’amore) bei den Tiroler Festspielen in Erl im Winter 2019. Mit Partien wie Don José (Carmen), Edgardo (Lucia di Lammermoor) oder Ferrando (Così fan tutte) – »eine Explosion von Emotion und Erregung« – liebäugelt er bereits.

Ein ernst gemeinter Rat von Kiri

Obwohl Jonathan Abernethy seit Kindertagen immer gern gesungen hat, konnte er sich nicht vorstellen, jemals eine professionelle Sängerlaufbahn einzuschlagen. Den ersten Kontakt mit der Opernwelt in einer »light-Version« hatte er bei einer Galaveranstaltung in Wellington. Er begann, Aufnahmen von Pavarotti und »good old« Fritz Wunderlich zu hören und war hingerissen. Obwohl er privat Gesangsunterricht nahm, studierte er zunächst Wirtschaft und Informationstechnik und kümmerte sich schließlich um die IT bei Motorsport New Zealand. Während einer Musik-Sommerschule kam dann ein Mitarbeiter von Kiri Te Kanawa auf ihn zu und schlug ihm vor, sie zu treffen. »Kiri riet mir, das Ganze vielleicht doch etwas ernster zu nehmen. Acht Monate später hatte ich einen Preis gewonnen und ein Stipendium für das Opernhaus in Sydney in der Tasche. Ich dachte nur, warum verschwenden die ihre Zeit mit mir? Nach einem Vorsingen wurde ich dann in das Young Artist Program aufgenommen und gab mein professionelles Debüt – am Opernhaus von Sydney, unglaublich!«

Über die Mozart Residency beim renommierten Festival d’Aix-en-Provence 2015, wo er später auch in Produktionen von Erismena und Ariadne auf Naxos gastierte, kam der junge Sänger 2017/18 in das Internationale Opernstudio des Opernhauses Zürich. Zwei Jahre später ist Frankfurt sein Zuhause – neues Land, neue Sprache, neue Rollen. Seine erste Spielzeit hier war unglaublich lehrreich und intensiv. Manchmal vermisst er Neuseelands Natur, Wald und Wasser, das angenehme Klima. Obwohl er scheinbar nichts so sehr liebt wie Geschwindigkeit, geht Jonathan gewisse Dinge gern Schritt für Schritt an. Bis zum Ende des Jahres hat er sich vorgenommen, seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Und vielleicht findet sich im Rhein-Main-Gebiet auch die Möglichkeit, einen Segelflugschein zu machen. Fürs Ankommen darf es gern ein bisschen weniger Speed sein.