• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • November 2020
  • S. 12-13

Premiere Le vin herbé

Der andere Tristan & zwei Isolden

Text: Zsolt Horpácsy

In: Magazin, November 2020, Oper Frankfurt, S. 12-13 [Publikumszeitschrift]

Er galt als Querdenker, als bekennender Außenseiter der Musikgeschichte des letzten Jahrhunderts: der Schweizer Frank Martin. Er nahm sich viel Zeit, bis er etwa 1935 als 45-jähriger die Gewissheit hatte, seine eigene musikalische Sprache gefunden zu haben. Als Spätentwickler schaffte er es, eine Musik zu komponieren, die eine Zwischenstellung zwischen Konservativismus und Avantgarde einnahm. So wie er sich selbst nicht als Teil der musikalischen Moderne verstand, plädierte er in seinen Schriften immer wieder für eine Modernität in seiner eigenen und eigensinnigen Definition. Martins Werke lassen keine klar festgelegten Schwerpunkte erkennen: Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Oratorium führte ihn zur Beschäftigung mit der Oper, dem Ballett und der Schauspielmusik. Neben einer beachtlichen Zahl von Klavierstücken und kammermusikalischen Kompositionen weist Martins OEuvre auch groß angelegte Orchesterwerke auf.

 

Der Mut eines Außenseiters

Begünstigt durch seine schweizerische Herkunft haben ihn seine Erfolge in der Nachkriegszeit zu einem zentralen Protagonisten des Musiklebens werden lassen. Seine Präsenz bei den Salzburger Festspielen (u.a. 1948 mit der szenischen Erstaufführung von Le vin herbé unter der Leitung von Ferenc Fricsay), seine Professur für Komposition in Köln oder die Uraufführung seiner Oper Der Sturm (nach Shakespeare) lassen vermuten, dass Martins Musik bestimmte Erwartungen nach 1945 erfüllte. Und vielleicht war deswegen später, in den 60er Jahren, die ablehnende Haltung der musikalischen Avantgarde (vor allem von Karlheinz Stockhausen) gegenüber Martins Werken so heftig. Der Vorwurf, seine Musik wäre unzeitgemäß, deutet auf ein grundsätzliches Missverständnis hin: Martins vielseitige, ständig wechselnde Klangfarben und seine unerschöpfliche Fantasie sind Kennzeichen seiner unbestechlichen Künstlerpersönlichkeit, die nie mit den stilistischen Strömungen schwimmen konnte und wollte. Der Dirigent und Mitstreiter Martins Ernest Ansermet, der sich für seine Musik seit den frühesten Stücken einsetzte, meinte: »Von Anfang an erwies er sich als Lyriker, nicht als Sinfoniker, und zwar als epischer Lyriker, als ein Künstler, dessen Musik vor allem Gesang ist, Gesang mit langem Atem, der sich in die Weite und in die Tiefe erstreckt.«

 

Gesang mit langem Atem

Als »einen anderen Tristan« bezeichnete 1948 ein Kritiker Le vin herbé anlässlich der szenischen Uraufführung dieses weltlichen Oratoriums bei den Salzburger Festspielen. Durchaus mutig war Martins Vorhaben, die Tristan-Sage sechzig Jahre nach Richard Wagner in einer grundlegend neuen Form zu vertonen. Und tatsächlich entstand ein anderer Tristan, dessen Gattungsbezeichnung als weltliches Oratorium wie ein klar gesetztes kompositorisches Gegenprogramm zu Wagners Musikdrama wirkt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger beschränkte sich der Komponist in seiner Partitur auf zwölf Stimmen, sechs solistische Streicher und Klavier. Auch bei der Wahl der Vorlage unterscheidet sich Martin von Wagner, indem er sich nicht auf Gottfried von Straßburg, sondern auf Le Roman de Tristan et Iseut des französischen Mittelalterforschers Joseph Bédier von 1900 bezieht. Daraus kreierte Martin eine objektivierte Erzählweise, in der die Handlung vom Vokalensemble erzählt und kommentiert wird und einzelne Protagonisten wie Tristan, Iseut oder König Marc solistisch hervortreten. In 18 Bildern mit einem Prolog und einem Epilog gestaltete Martin die Geschichte von Tristan und Isolde von der Überfahrt nach Cornwall, wo sie gegen ihren Willen König Marc heiraten soll, bis zu beider Tod.

Zunächst hatte Martin vor, nur das IV. Kapitel aus dem Roman von Bédier zu vertonen, als er 1938 vom Zürcher Madrigalchor den Kompositionsauftrag für ein Werk für Kammerchor erhielt. Dieses Kapitel endet, dem ersten Akt von Wagners Musikdrama ähnlich, mit der Erkenntnis von Tristan und Isolde, durch den Zaubertrank in eine aussichtslose Situation geraten zu sein, aus der sie letztlich nur durch den Tod erlöst werden können.

Bald nach der Zürcher Uraufführung der Vertonung des IV. Kapitels (in drei Sätzen) entschloss sich Martin, zwei weitere Abschnitte von Bédiers Roman anzufügen. Der zweite Teil der Komposition erzählt vom Glück der Protagonisten, das allerdings durch Schuldgefühle und Selbstzweifel getrübt wird. Ihre Verunsicherung bezieht sich auf Iseuts Ehemann und Tristans Onkel: König Marc. Der dritte Teil handelt – ähnlich wie bei Wagner – von den letzten Tagen und dem Tod der Liebenden, mit einem großen Unterschied: Bei Martin gibt es eine zweite Isolde, und Tristan lässt sich überreden, Iseut, die Weißhändige, zu heiraten, um die geliebte Iseut, die Blonde, zu vergessen. Im letzten Moment verhindern die Eifersucht und der Hass der anderen Iseut einen Abschied der beiden Liebenden.

 

Distanz und Emphase

In Le vin herbé verzichtet Martin grundsätzlich auf großangelegte Effekte und betont stattdessen mit komplexen kammermusikalischen Mitteln die Ambivalenz der handelnden Figuren. Die epische Form des Textes erzwingt hier eine epische Konzeption der Musik. Sie pflegt archaisierende Momente im Stil Gesualdos, und die deklamierende Textaufbereitung schlägt den Bogen zum frühen griechischen Theater. Die Singstimmen erzählen die Geschichte bisweilen auch im Unisono; dann schlüpfen Mitglieder des Vokalensembles in die direkte Rede der Solopartien und integrieren sich danach wieder in den Chor. Martin lässt das Kollektiv als den eigentlichen Hauptakteur auftreten und in verschiedenen Formen zu Wort kommen. Ohne eine starre Aneinanderreihung von Chor- und Solonummern wechselt er den Blick der Berichterstatter auf verschiedenen Ebenen, wodurch er eine außergewöhnliche, neu definierte Form der Dramatik entstehen lässt. Distanz und Emphase lösen sich gegenseitig ab, und die Erzählperspektiven werden immer wieder neu angelegt.

 

Zerbrechlichkeit der Gefühle

»Musik ist nicht die Sprache der Gefühle, aber sie ist Gefühl als Sprache«, schrieb Frank Martin in einem Brief an einen Freund. In diesem Sinne entstand auch sein weltliches Oratorium, ein außergewöhnliches, eigensinniges Meisterwerk der Moderne. Die Uraufführung der vollständigen konzertanten Version fand 1942 in Zürich, inmitten des Zweiten Weltkriegs statt und vermittelte eine erschütternde, humanistische Botschaft von der Zerbrechlichkeit der Gefühle, von Zweifel und Ambivalenz.

Einige hundert Kilometer entfernt spielten die Bayreuther Festspiele zur selben Zeit ganz im Sinne der nationalsozialistischpropagandistischen Theaterästhetik Wagners Musikdramen. Der Schweizer Frank Martin sandte mit einem kammermusikalisch konzipierten Werk aus Genf ein überdeutliches Zeichen des Protests in Richtung des Grünen Hügels: eine politische und ästhetische Botschaft des Komponisten-Außenseiters.


LE VIN HERBÉ
Frank Martin 1890–1974

Weltliches Oratorium (1938/1941) / Text nach drei Kapiteln des Romans Tristan et Iseut von Joseph Bédier / In französischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

PREMIERE Sonntag, 22. November

VORSTELLUNGEN 27. November / 3., 5., 11. Dezember / 14., 16., 22. Januar

MUSIKALISCHE LEITUNG Markus Poschner INSZENIERUNG Tilmann Köhler BÜHNENBILD Karoly Risz KOSTÜME Susanne Uhl LICHT Jan Hartmann CHOR Tilman Michael DRAMATURGIE Zsolt Horpácsy

ISEUT, DIE BLONDE Eleonore Marguerre ISEUT, DIE WEISSHÄNDIGE Marvic Monreal° TRISTAN Ian Koziara BRANGHIEN Bianca Tognocchi KÖNIG MARC Kihwan Sim KAHERDIN Theo Lebow DIE MUTTER VON ISEUT, DER BLONDEN Judita Nagyová HERZOG HOËL Anthony Robin Schneider

Mit freundlicher Unterstützung des Frankfurter Patronatsvereins

° Mitglied des Opernstudios

 

ZUGABE

OPER EXTRA
TERMIN 8. November, 11 Uhr, Holzfoyer

Mit freundlicher Unterstützung des Frankfurter Patronatsvereins