• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • November/Dezember 2019
  • S. 14

Premiere Tamerlano

Heldenhaft im Sterben

Text: Mareike Wink

In: Magazin, November/Dezember 2019, Oper Frankfurt, S. 14 [Publikumszeitschrift]

Ein Tenor als Held? Was seit Jahrhunderten Usus ist, war zu Händels Zeiten außergewöhnlich. Die Protagonisten und Stars der Opernwelt waren Primadonnen und Kastraten. Mit der Partie des Bajazet steht in Händels Tamerlano 1724 ein Tenor in vorderster Reihe auf der Opernbühne. Und der Komponist, in diesen Jahren musikalischer Direktor der Royal Academy of Music London, geht noch einen Schritt weiter: Nicht nur, dass der eigentliche Held seiner 18. Oper offen und in der Musik deutlich hörbar Selbstmord begeht – ein Novum –, Händel bricht an dieser Stelle zugunsten einer realistischen Wirkung auch mit der formalen Tradition der Opera seria. Das Ergebnis ist eine der dramatischsten Opernszenen des 18. Jahrhunderts – nicht gefasst im Dualismus von Secco-Rezitativ und Arie, sondern durchkomponiert, wobei die von Pausen unterbrochenen Phrasen des Vokalparts die Redeweise des Sterbenden imitieren. Wie glaubwürdig kann das von der Konvention geforderte Lieto fine danach überhaupt noch sein? Setzt Händel nicht auch hinter diese Regel mit dem folgenden, melancholischen Schlussensemble in e-Moll ein Fragezeichen?

Obwohl der Komponist das wahre Gesicht seiner Titelfigur, den Zynismus des Despoten Tamerlano erst nach und nach offenlegt, ihn sogar als Friedensfürsten mit der Arie »Vuò dar pace« einführt, lenkt er die Sympathien und Interessen klar auf die Seite der »Verlierer«. Neben dem Mitgefühl für den sterbenden Bajazet nimmt das Dramma per musica Asterias, Andronicos und Irenes Gemütsregungen in den Blick und lässt damit beinahe schon die Epoche der Empfindsamkeit vorausahnen.

Timur-Leng versus Bayezid I.
Das Werk treibt in großer Stringenz einen Konflikt voran, der auf eine handfeste historische Auseinandersetzung zurückgeht: Timur-Leng, ein mongolischer Hirte, der sich als Nachfolger Dschingis Khans stilisierte, herrschte seit Mitte des 14. Jahrhunderts über Transoxanien, ein Reich, das sich bald von Delhi bis Anatolien erstreckte. 1402 besiegte er bei Angora (Ankara) Sultan Bayezid I. und unterbrach mit dessen Gefangennahme für rund 50 Jahre den Siegeszug der Osmanen gegen Byzanz, das inzwischen auf das Stadtgebiet Konstantinopels und Umgebung zusammengeschrumpft war.

Die Geschichtsschreibung reicht von Timur-Lengs höflicher Behandlung bis zur sadistischen Demütigung und der baldigen Ermordung seines Gefangenen Bayezid. Einig ist man sich aber über die Haltung des Sultans: Er soll dem Mongolenherrscher mit Würde und Stolz begegnet sein.

1402 – 1724 – 2019
Jacques Pradon bediente sich der Historie als Vorlage für seine Tragödie Tamerlan, ou la mort de Bajazet (1675). Pradon konstruierte die Liebes- und Loyalitätsverwicklungen sowie das Eheversprechen des Despoten an eine Prinzessin Araxide von Trebizond, die in der Oper zu Irene wird. Agostino Piovene hatte das Drama zu einem Libretto umgearbeitet, welches erstmals 1711 von Francesco Gasparini vertont wurde. Dieses bearbeitete Nicola Francesco Haym für Händel in London. In nur zwanzig Tagen schrieb der Komponist 1724 seinen Tamerlano, perfektionierte die Partitur dann allerdings unter Berücksichtigung der Sängerbesetzung sowie im Hinblick auf Dramaturgie und Wirkung. Zu einigen Veränderungen ließ er sich von Gasparinis Version anregen, andere gehen auf Vorschläge des Tenors Francesco Borosini (Bajazet der Uraufführung) zurück. Den »allerletzten Schliff« verpasste Händel seinem Werk zu dessen Wiederaufführung im Herbst 1731.

Die Entstehung der Oper Tamerlano liegt rund 300 Jahre zurück, die historischen Wurzeln des Sujets reichen über 600 Jahre in die Vergangenheit – und dennoch scheint die zugrundeliegende Situation hochaktuell: Innerhalb eines Gefüges, in dem sich Privates und Politisches mischen und stabile Machtverhältnisse durch Provokation ins Wanken geraten, hat rationale Klärung keine Chance, scheinen nur extreme Entscheidungen möglich.


TAMERLANO Georg Friedrich Händel 1685–1759

DRAMMA PER MUSICA IN DREI AKTEN / URAUFFÜHRUNG 1724
Text von Nicola Francesco Haym nach Agostino Piovene und Ippolito Zanelli, basierend auf Jacques Pradon. In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

PREMIERE Donnerstag, 7. November, Bockenheimer Depot
VORSTELLUNGEN 9., 11., 14., 16., 20., 22., 24. November

MUSIKALISCHE LEITUNG Karsten Januschke INSZENIERUNG R.B. Schlather BÜHNENBILD Paul Steinberg KOSTÜME Doey Lüthi LICHT Marcel Heyde DRAMATURGIE Mareike Wink

TAMERLANO Lawrence Zazzo BAJAZET Yves Saelens ASTERIA Elizabeth Reiter ANDRONICO Brennan Hall IRENE Cecelia Hall LEONE Liviu Holender

Mit freundlicher Unterstützung des Frankfurter Patronatsvereins