• PROspekt
  • Theater Erfurt
  • # 8 | Dezember 2018 - Februar 2019
  • S. 5

Essay

Erfurt sucht den Superstar

Sänger finden – wie geht das?

Text: Johannes Beckmann

In: PROspekt, # 8 | Dezember 2018 - Februar 2019, Theater Erfurt, S. 5 [Publikumszeitschrift]

2. September 2018, 17 Uhr – Landung in Kiew Zhulyani Airport. Es ist Spätsommer, 25 Grad Celsius am frühen Abend und ich bin zum ersten Mal in der Ukraine. Auf Dienstreise. Drei Tage liegen jetzt vor mir, in denen ich genau eine Aufgabe habe: Sänger zu finden!

Am Theater oder am Opernhaus werden Rollen oder auch Positionen im Solistenensemble nicht öffentlich ausgeschrieben und es gibt kein förmliches Bewerbungsverfahren. Stattdessen haben Sängerinnen und Sänger andere Möglichkeiten, ein Engagement zu erhalten: durch die Vermittlung ans Theater über eine Künstleragentur; durch die Teilnahme an einem Wettbewerb und ein Engagement als Preis für den 1., 2. oder 3. Platz; durch ein informatives Vorsingen (am ehesten zu vergleichen mit der Initiativbewerbung); oder aber entdeckt und gehört zu werden im Rahmen einer Vorstellung an einem anderen Theater oder an einer Musikhochschule.

 

Der klassische Weg – die Vermittlung über eine Agentur

Weltweit haben Opernhäuser ein System der Vorauswahl etabliert, indem sie Künstleragenturen über ihre Vakanzen informieren und diese Agenturen dann auffordern, ihnen Vorschläge zu machen. Die Vorschläge der Agenturen werden geprüft anhand von Lebenslauf, gesungenem Repertoire, bisherigen Engagements an anderen Theatern sowie Hörbeispielen und Aufnahmen. Auf dieser Grundlage fällt die Entscheidung, ob die Sängerin oder der Sänger zum Vorsingen eingeladen wird. Das Vorsingen ist das Pendant zum Bewerbungsgespräch auf eine „normale“ Stelle und findet in unregelmäßigen Abständen auch bei uns im Theater Erfurt statt.

 

Der neue Weg – der Wettbewerbsgewinn

Immer häufiger werden Opernsänger aufgrund eines Erfolges in einem der renommierten internationalen Opernwettbewerbe entdeckt und dann engagiert. Das kann dadurch geschehen, dass ein Jurymitglied selbst Intendant ist (wie es bei Guy Montavon häufig der Fall ist), oder aber dass Casting-Direktoren, Operndirektoren und Intendanten zu den Finalrunden der Wettbewerbe fahren und sich diese sowie das Abschlusskonzert anhören. Dann übernimmt sozusagen die Jury des Wettbewerbs in den ersten Runden die Aufgabe der Vorauswahl und man hört sich vielleicht 20 Finalisten statt der 120 Teilnehmer der ersten Wettbewerbsrunde an.

Vor jedem Engagement müssen also die Sängerinnen und Sänger durch das Nadelöhr Vorsingen – in der einen oder der anderen Weise, im Wettbewerb oder am Theater.

 

Wie läuft ein Vorsingen ab?

In der Regel bringt der Sänger eine gewisse Anzahl an Arien aus verschiedenen Opern und unterschiedlichen musikalischen Stilen mit, die zu seinem Stimmfach passen und bei denen er der Meinung ist, damit seine Qualitäten und die Individualität der Stimme besonders gut zeigen zu können. Meistens darf der Sänger dann entscheiden, welche dieser drei bis fünf Arien er, begleitet am Flügel von einem unserer Korrepetitoren, als erste präsentieren möchte.

Die Kriterien, nach denen im Vorsingen beurteilt wird, kann man vereinfacht in objektive und subjektive Parameter unterteilen: Zu den objektiven Kriterien zählen zum Beispiel die Intonation, also ob der Sänger sauber singt oder latent zu hoch oder zu tief intoniert, was sowohl technische als auch auditive Gründe haben kann. Oder die Fähigkeit, legato zu singen, also nicht Note für Note zu denken, sondern das Ende der einen Note schon mit dem Beginn der nächsten Note zu verbinden, aber ohne ein Schleifen, das sogenannte glissando, entstehen zu lassen. Oder im Passaggio – das ist der Übergang von der Brust- zur Kopfstimme – keinen hörbaren Bruch entstehen zu lassen, sondern mit einem Stimmklang in allen Registern zu singen. Zu den subjektiven Merkmalen gehört zum Beispiel das Timbre der Stimme (metallisch, wattig, klar, gedeckt, farbig, monochrom, gaumig?), die Stilistik des Vortrags („Klingt das nach Mozart?“, „Ist es schön, jene Barock-Arie mit so weitem Vibrato zu singen?“, „Dieser Donizetti-Arie geht die Italianità völlig ab, sie klingt russisch …“), aber natürlich auch das Auftreten des Sängers oder der Sängerin, die Ausstrahlung (sympathisch, nervös, souverän, arrogant?).

 

Und was war nun mit Kiew?

Dort habe ich Anfang September während eines Vorsingens 114 überwiegend ukrainische, russische und armenische Sängerinnen und Sänger gehört. Habe 106 Mal gedacht: „Leider nein ...“, „So nicht!“, „Für uns nicht interessant.“, „Über den Zenit.“, „Gefällt mir überhaupt nicht!“. Aber 8 Mal habe ich aufgehorcht, war interessiert, begeistert, glücklich. 8 von 114 – das ist eine gute Quote!

Und einmal habe ich sofort zugeschlagen und per SMS-Absprache mit Guy Montavon, der gerade den Holländer in Shanghai probte, eine Sängerin für die DomStufen-Festspiele 2020 engagiert. Vom Fleck weg! Weil sie technisch perfekt sang und eine echte Künstlerin auf der Bühne ist! Nun darf das Erfurter Publikum sich auf Oksana Kramareva freuen, die ohne das Vorsingen in Kiew den Weg nach Thüringen vielleicht nie gefunden hätte.


Johannes Beckmann
Stellvertretender Generalintendant

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