Kolumne
Psst! Wenn der Kritiker reist
Text: Uwe Friedrich
In: PROspekt, # 9 | März-Juni 2019, Theater Erfurt, S. 27 [Publikumszeitschrift]
Also, das soll jetzt kein Gejammer werden. (Natürlich weiß der Kenner, dass jetzt eine ganze Kolumne über die Zumutungen des Reisens folgen wird.) Deshalb sei es ausdrücklich gesagt: Mit dem Zug über den verschneiten Brenner fahren, eine der schönsten Bahnstrecken überhaupt, um am Abend in die Mailänder Scala zu gehen oder ins Teatro La Fenice in Venedig, ist selbstverständlich grandios. Mit dem französischen TGV durchs Land zu brausen, um dann in Lyon erst gut zu essen und danach eine Premiere in Jean Nouvels schwarzem Theatersaal zu erleben, zweifellos auch. Aber selbstverständlich ist das nicht der Arbeitsalltag eines Kritikers. Wie bei den mittelalterlichen Reisekaisern sind die Anlässe, damals Hoftage, heute Opernpremieren, zwar meistens erfreulich, der Weg dorthin aber wenig glamourös.
Immerhin stehen Opernhäuser immer in der Nähe des Hauptbahnhofs. Also fast immer. Chemnitz, Leipzig, Gera: vorbildlich, Frankfurt, München, Erfurt: naja, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln problemlos machbar. Schwieriger wird es bei den Sommerfestivals, die gerne idyllisch auf der grünen Wiese, etwa im englischen Glyndebourne oder irgendwo in Oberbayern stattfinden. Bei jeder dieser Reisen plant der autolose Kritiker mindestens vier Stunden Verspätungspuffer bei der Bahn ein, also bleibt meistens vor Vorstellungsbeginn viel Zeit. Betrinken geht nicht, dann schliefe man nachher im Theater noch ein oder wäre so enthusiasmiert, dass auch der dümmste Regieeinfall wie ein Geniestreich erschiene. Das könnte zwar vielen Regisseuren gefallen, ist aber auch keine Lösung.
Journalist sein heißt warten können, ob auf den Interviewpartner oder den Vorstellungsbeginn. Also habe ich gewohnheitsmäßig ein gutes Buch in der Jackentasche und viele Hörspiele auf dem Telefon gespeichert. All das macht der Kritiker gerne im Dienst der guten Sache, schließlich führt der Beruf immer wieder an aufregende Orte voller Abenteuer und Entdeckungen. Sollte man meinen. In Wahrheit kenne ich inzwischen in jeder nennenswerten Stadt alle Drogeriemärkte zwischen Gleis und Theaterfoyer. Weil ich immer entweder das Duschgel oder die Zahnbürste zu Hause gelassen oder mich auf der Fahrt im Speisewagen bekleckert habe und noch fix Waschmittel für den Fleck brauche. Außerdem kenne ich über die Jahre jeden akzeptablen Imbiss und jedes vertrauenerweckende Restaurant auf dem Weg zur Oper, irgendwo muss noch schnell vor der Ouvertüre das Magenknurren beseitigt werden. Und die nicht akzeptablen kenne ich auch, denn man will schließlich auch etwas Abwechslung haben, aber solche Abenteuerlust wird meistens sofort bestraft.
Schon vor der Dienstreise muss gut geplant werden. Anzug oder Räuberzivil? Glücklicherweise reicht inzwischen meistens Alltagskleidung, nur bei ganz besonderen Anlässen muss der Dreiteiler aus dem Schrank. Ach ja, die Bekleidungsgeschäfte auf dem Weg zum Opernhaus kenne ich auch, denn im Anzugfall vergesse ich immer, einen passenden Gürtel einzupacken und muss dann einen neuen kaufen, was inzwischen zu einer beachtlichen Sammlung geführt hat. Über die Jahre schleicht sich also eine gewisse Routine bei der Anreise ein, gegen die immer wieder bewusst angekämpft werden muss. „Ach ja, heute mal wieder Dresden, hoffentlich komme ich morgen pünktlich nach Stuttgart, Wien oder Brüssel“, diese Sorgen hätte mancher Opernfan gerne, wenn er denn überhaupt an Premierenkarten käme. Dieses Privileg ist ohnehin das größte Glück meines Berufs: Von New York bis Annaberg-Buchholz genügt ein Anruf und ich darf in die Vorstellung. An die Mailänder Scala oder das Warschauer Teatr Wielki kann ich mich auch nach Jahren noch erinnern, in der Regel auch an die dort gesehenen Aufführungen. Ob ich mir auf der Reise dorthin den Magen verdorben habe? Ob ich wegen einer unzumutbaren Verspätung vom Bahnhof aus rennen musste? Das habe ich längst vergessen.