• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • Saison 2018/19, März-April
  • S. 8-10

Der ferne Klang

Der Wind weht, wo er will

Text: Norbert Abels

In: Magazin, Saison 2018/19, März-April, Oper Frankfurt, S. 8-10 [Publikumszeitschrift]

Ist Verzweiflung über das Scheitern die Bedingung des Gelingens? Liegt in jeder künstlerischen Daseinsbegründung die Keimzelle einer Wirklichkeitsflucht? Darunter auch jene, welche die sinnliche Liebe im Vorgang des Scheiterns an ihr umprägt zur Vorstellung, zum Traum davon? Kunst also als Surrogat von Leben und damit auch als Surrogat der Liebe; Kunst ebenso als erlösungssüchtiges Fahnden nach Originalität, das von Anfang an und bei jeder Wegmarke zunehmend die Schwere der Verantwortung für die lebendige Gegenwart der anderen preisgibt zugunsten eines zum ästhetischen Ideal aufgerückten Lebenssinns; zugunsten wohl auch eines Idols von Selbstwesen und Selbstverwirklichung, immerfort und fiebrig von der Imagination zehrend, dass dem solcherart ästhetisierten Selbst eine außerfiktionale, eine wirkliche Existenz zukommt. Kunst also als »Vorstellung« im doppelten, somit auch performativen Sinn dieses durchaus ambivalenten Begriffs. Schrekers tragischer Opernheld Fritz, der nach Originalität dürstende Tonsetzer, drückt das unmissverständlich so aus: »Denn nicht Ruhe find ich zu Glück und Genuss, nicht Ruhe zu Liebe und Seligkeit: Eh ich ihn nicht habe und halte, den rätselhaft weltfernen Klang.«

Vielleicht aber ist es ein trügerisches Wort, wonach man nur seiner mutmaßlich eigenen Stimme zu folgen habe, um das Höchste, was immer dies auch sein mag, zu erreichen. Ein Irrtum wohl auch das gängige Postulat, dass jeder von uns einzig dazu bestimmt sei, seine eigene Natur, und sei es im Hinwegschreiten über die anderen, vollkommen zu verwirklichen habe. Am Ende führt auch die Suche nach Selbstverwirklichung in ein – so Franz Schreker – »Narrenspiel dieses Lebens mit unsicherem Ausgang«. Es führt wie alles andere an das unabwendbare Ende des Todes. Hiervon handelt das Stück, das am 18. August 1912 in Frankfurt am Main zur Uraufführung gelangte, vom davon hingerissenen Publikum mit nicht weniger als fünfundzwanzig Vorhängen gefeiert wurde und außerdem Schrekers internationalen Ruhm begründete.

Ein Werk, das vom Scheitern eines Werkes handelt, geriet damit – ein Paradoxon sondergleichen – höchstselbst zum Fanal künstlerischer Anerkennung. Steinig war gleichwohl der Weg dorthin, gefüllt mit »Halbheiten, Depressionen, Entwicklung, Lebensdurst«, umgeben von kurzen Amouren wie der mit Alma Mahler – »ich ging eine kurze Wegstrecke neben ihm und verließ ihn zur rechten Zeit«; nicht zuletzt auch einer bisweilen zwielichtigen Gesellschaft in »dunklen Spelunken« wie auch in kronleuchtenden Etablissements. Etwa das in der Oper als »La Casa di maschere« ausgegebene, dem Moulin Rouge vergleichbare »Varieté« und dergleichen mehr, »wie es eben in diesen jungen Jahren sich ergibt«. Der ungeheure Erfolg von Felix Saltens Roman über die Ottakringer Prostituierte Josefine Mutzenbacher flankierte diese Überschneidung von virilem Lustbetrieb und weiblichem Überlebenskampf mit pornografischer Belletristik. Ungleich sozialkritischer und zugleich empathischer sind die Schilderungen jener »dunklen Kontinente« in den Wiener Elegien des österreichischen Realisten Ferdinand von Saar, der nach kritischer Sichtung zu den wenigen gehörte, die Schreker zur Vollendung seiner Oper ermunterten. 

Dennoch: Nach tiefer Enttäuschung über den Misserfolg der ersten Oper Flammen (1902) brach Schreker seine Arbeit am – nunmehr mit selbstverfasstem Textbuch versehenen – Fernen Klang abrupt ab. Ein Stoff, der wohl erstmals auf einem Particell vom Frühjahr 1901 unter dem Titel »Greta. Musical. Drama in einem Act« auftauchte, um den Komponisten hernach immer wieder heimzusuchen. Sein »geliebter« Lehrer, der Spätromantiker Robert Fuchs, bezeichnete des Schülers klangversessene Arbeit als »verrücktes Zeug«. Welche Desillusionierung, welche Enttäuschung, welche Erfahrung des Scheiterns!

Und weiter noch: Nachdem 1909 das sinfonische Zwischenspiel Nachtstück, von Oskar Nedbals Tonkünstler-Orchester mutig aufgeführt, ausklang, setzten unvermittelt bösartige, von Zischlauten und Gepfeife skandierte Buh-Kaskaden ein. Auch die sublimere Kritik präsentierte sich nicht eben emphatisch. Jahre später erinnerte sich Schreker: »Worte wie ›konventionell‹, ›gefällig‹, ›eklektisch‹ erbitterten mich – gerade darum, weil ich ihre Berechtigung empfand.« Eine andere Erinnerung beschwor jenes Tohuwabohu an Eindrücken, Einflüssen und Eingebungen, aus denen sich schließlich die Summe all dieser variablen Werte herausschälte und die sowohl naturalistische wie zugleich auch symbolistische Aura der dreiaktigen Oper zum Ausdruck brachten. Schreker paraphrasierte dabei den berühmten Kohelet-Vers 1,17 vom Windhauch, der alles verflüchtigt, und vom vergeblichen Haschen nach dem Wind: »Eindrücke über Eindrücke, brausend, erschütternd, flammend, ruhelos; ein Greifen und Haschen nach fliehenden Dingen, immer voll Glauben, und immer aufs neue verdammt zu jagen, zu suchen und nicht zu finden: Frühlingssehnen. Alle Voraussetzungen für die Entstehung des Fernen Klanges waren gegeben.«

Beständig nehmen wir ferne Klänge wahr. Wir haben gelernt, dass strömende, ausgeströmte Luft das Medium des Schalls ist. Wir wissen ebenso um die Bewegung des Schalls, haben längst bewiesen, dass Schallwellen sich ringförmig ausbreiten wie bei ins Wasser geworfenen Steinen; ja dass sie sogar mit ihrem Trägerkorpus, wenn dieser sich ebenfalls bewegt, die gemeinsame Wanderschaft antreten. Sind die Klänge musikalisch, dann bewegen sie sich in periodischen Schwingungen, nehmen in Luftwellen gleichsam Gestalt im Zeitfluss an. Nur über diese Wellen gelangen sie in unser Ohr. Noch mehr aber und Geheimnisvolleres vollzieht sich in solcher Luft- und Klangbewegung, auch wenn wir ihren Ursprung und ihr Ziel weder kennen noch beeinflussen können, wie es Johannes Evangelista (3,8) tiefgründig zusammengefasst hat: »Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht woher er kommt und wohin er geht.« Aeolus, in der griechischen Mythenfabulistik Meister der Winde, schuf die Windharfe und begründete damit die von nun an immer erneut variierte Vorstellung von der Natur als Instrument, das wie in der Welt des Lebens so auch in der Welt des Todes die Räume, respektive Klangräume durchhallt. »Der Sturm als ein tüchtiger Harmoniker«, so beschrieb E.T.A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler das Walten der Äolsharfe.

Samuel Taylor Coleridge erweiterte dieses Sinnbild. Er fand in seinem geheimnisvollen Gedicht The Æolian Harp das hochromantische Bild vom Licht im Klang. Ebenso sprach er darin vom Windgesang der Vögel und davon, dass die Stille der Luft Musik in sich trage; Musik, die das Instrument der schlummernden Welt sei. Bei Mörike hören wir von der luftgeborenen Muse und ihrem geheimnisvollen Saitenspiel, bei Novalis von der unermesslichen Mannigfaltigkeit der Windharfentöne, die aber nicht nur die äußere, sondern deren Konterfei, die innere Natur erfüllt: »Der Mensch ist die Harfe, soll die Harfe seyn.« Und in Goethes die Vergänglichkeit unseres Daseins reflektierenden Gesang der Geister über dem Wasser findet sich die Übertragung dieses Gedankens auf das Werden von allem, auch auf den Weg, den jeder Mensch zu gehen hat: »Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!«

Gleich mit dem siebten Takt beginnt in Schrekers Oper nicht zufällig eine Reihe gleichmäßiger Zweiunddreißigstel-Arpeggien dieses Windmediums. Der Name leitet sich ja schon selbst von »arpa«, Harfe, ab. Hier umspielen und verwehen diese in kleinen Terzen gesetzten Glissando-Figuren arabeskenhaft und sukzessive den maestosen Es-Dur-Akkord des Vorspielanfangs. »Bald stärker, bald schwächer«, kommentiert Schreker diesen der Natur abgelauschten Schwingungsverlauf und präzisiert noch: »doch nie so stark, dass der Eindruck eines entfernten, von einem Windhauch auf Äolsharfen hervorgebrachten Rauschens zerstört wird.« Immer wieder, wie Erinnerungszeichen, kehren bis hin zu den Introduktionen des viel späteren Csárdás diese Harfenklänge, bisweilen auch mischfarbig anverwandelt von den Streichern, zurück. Michael Gielen, ehemaliger Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt, strich die Archaik jenes Elements heraus: »Es sind weder rhythmische noch melodische Gebilde, es ist wirklich nur so, als ob der Wind durch die Saiten streiche. Es handelt sich fast um ein vorkünstlerisches Ereignis.« Fritz, der für dieses Klangmaterial die kompositorisch adäquate Musik zu finden oder erfinden sich anschickt, klärt die von ihm schon bald verlassene Geliebte über den äolischen Klang selbst auf: »Weißt du, Gretel, wie wenn der Wind mit Geisterhand über Harfen streicht.« Geistesverwandt hiermit erscheint die Mythe von Pan, der während seiner Klagen um die verlorene Baumnymphe hört, wie der leise Windhauch im Röhricht Töne erzeugt. Statt der verlorenen Liebe sucht er den Klang. Er verbindet jener Töne Klang mit seiner Sehnsucht, entnimmt dem Schilf kurze und lange Rohre, schafft aus ihnen das erste, vom mimetischem Impuls inspirierte Musikinstrument – die Entstehung der Musik aus dem pantheistischen Walten der Natur. Schreker war von dergleichen Gedanken durchaus berührt. Gegen Ende des ersten Dezenniums des 20. Jahrhunderts schrieb er nach einer Prosadichtung Grete Wiesenthals in sehr freier harmonischer Faktur die Ballettpantomime Der Wind für Violine, Klarinette, Horn, Violoncello und Klavier, die klang-malerisch in ihren Amalgamierungen von Streicher- und Bläserklängen eine musikalische Imagination des Windes erstehen ließ. Grete Wiesenthal stellte als Tänzerin den sich in den Bäumen verfangenden Wind dar, ebenso das Staunen des Gottes Pan über dieses Element.

Vielleicht war der erste Impuls zu dieser Oper Schrekers Idee vom Klang als Raum und Zeit, Leben und Tod, Sein und Werden, Ganzes und Nichtganzes und nicht zuletzt Einklang und Missklang synthetisierende Urmacht. Eine Idee zudem, die bereits eine elementare Kindheitserfahrung prägte: »Schon als Knabe liebte ich es, mir einen jener ›Wagner’schen‹ Akkorde am Klavier anzuschlagen und lauschte versunken seinem Verhallen. Wundersame Visionen wurden mir da, glühende Bilder aus musikalischen Zauberreichen. Und eine starke Sehnsucht! Der reine Klang, ohne jede motivische Beigabe (...) Ihn übertrifft an Wirkung vielleicht nur – die Stille.« Nicht zu übergehen die viel spätere, kaum ohne Selbstironie und Wortwitz geformte Selbstanzeige: »Ich bin Klangkünstler, Klangphantast, Klangzauberer, Klangästhet.«

Adornos beherzte wie kritische Auseinandersetzung mit Schrekers Tonkunst akzentuierte 1959 den Klang als deren tragendes Element: »Nicht nur bildet der Klang meist den stofflich symbolischen Vorwurf der Opern: auch musikalisch war er, als Einheit von Harmonie und instrumentaler Farbe, bei Schreker wichtiger als alle anderen kompositorischen Dimensionen.« Und Michael Gielen, der zwanzig Jahre später eine Schreker-Renaissance auslöste, pries die unterirdischen Klangfelder und Zentralklänge des zwischen Spätromantik und Moderne stehenden Komponisten, seine an Freuds Traumdeutung orientierte Verknüpfung thematischer Gebilde. »Schrekers Oper thematisiert das nicht nur musikalisch, sondern unablässig auch poetisch. Noch in den einfachen Worten der am Seeufer stehenden, den Freitod erwägenden Grete taucht dies Moment auf: ›da komm ich wohl bald ins Paradies, / wo niemand mehr greint / und mich niemand mehr schlägt – da hör ich ihn auch, jenen herrlichen Klang‹ – den Fritz gemeint ...« Die Welt von Schrekers Dichtung ist trostlos. Unabhängig von ihrer stilpluralistischen Durchmischung von Milieunaturalismus, pastelligem Impressionismus, ins Groteske mündendem Expressionismus und – nicht zuletzt – symbolistisch-jugendstilhaften Versatzstücken, präsentiert sie ein Panorama der Niedertracht; ein Mosaik aus Macht- und Geldgier, Alkoholismus, Daseinskampf, Depression, Resignation, Prostitution, Rausch, Konkupiszenz, Laszivität und dergleichen mehr. Ein notorisch besoffener Vater, der seine Tochter verschachert, eine Mutter, die außer »was ist denn dabei?« hierfür keine Worte findet, eine scheinheilige Alte, die sich als hinterhältige Zuhälterin entpuppt, sodann die schwülhedonistische und halbseidene Edelbordellsphäre, hernach die fratzenhafte Stadttheaterwelt und die Einblicke in die Topografie des Straßenstrichs. Das Bild des Helden schließlich, »von bitteren Qualen krank und reif für das Grab«, spiegelt sich im Bild der einstigen süßen und holdseligen Braut und Geliebten, die uns nun als Kranke, »fahl und bleich«, wiederbegegnet; ganz am Ende,unmittelbar nach einer in den Abgrund fahrenden Oktavbewegung, ihr Verzweiflungsschrei als Kulminationspunkt existenzieller Verlassenheit. »Und es kommt nichts nachher«, heißt es demgemäß bei Brecht. Einzig die Sehnsucht nach einem, die zerrissene Harmonie der Dinge wieder herstellenden Klang, die Musik des Noch-Nicht, überwölbt dieses erbarmungswürdige Szenario. Um es mit Ernst Blochs Worten zu sagen: »Selbst das Niemals hat ebenso sein eigentümliches Dasein aus den Luftwurzeln des Klangs.«

Keiner indessen, so legt es das Ende von Franz Schrekers klangvollem Desillusionsroman vom Fernen Klang nahe, verirrt sich so weit, dass er nicht zurückzufinden vermag, und sei es im erlebten Vollzug des Sterbens. Fritz, der Antiheld, greift sich am Ende schwer atmend ans Herz. Heiserkeit macht ihm das Singen unmöglich, das Eingeständnis des endgültigen Scheiterns wird gesprochen und nicht gesungen: »Der letzte Akt ist verfehlt«, flüstert er, auf gleicher Tonhöhe verharrend, zu abwärts gleitenden Oktavenintervallen. Schreker führt ihn erst in den allerletzten Worten – »Nun ich dich gefunden« – zum Gesang zurück und lässt diesen Gesang, fremd anmutend, auf einen einzigen Fünfvierteltakt endigen; ein Takt, worin sich beim Hören immer das Streben danach einstellt, den letzten Schlag des Taktes zu verlängern. Die Auflösung dieses Taktes vollzieht sich ohne Stimmen im extremen Pianissimo des Orchesters, dem bei Schreker gleichsam inkorporierten Schicksal, dessen »irgendwie höhere Gewalt, die das Spiel lenkt«, mehr zu sagen hat als Worte es vermögen. 

Es ist der Tod selbst, der den Takt nach dem Eingeständnis des endgültigen Scheiterns zum Vierviertel zurückführt und damit vervollständigt. Der Rest ist, was ihn, den Künstler betrifft, Schweigen. Ein Schweigen indessen, welches das endliche Hören des gesuchten fernen Klanges transformiert in den Gestus des wirklichen Berührens – so, als höben die sieben Akkorde, die erklingen, wenn er stumm in die Arme der Frau sinkt, die sieben Silben des vorausgegangenen Eingeständnisses der Verfehlung auf. Kein bengalischer Theaterglanz aber illuminiert diese unvergleichlich geglückte Szene.