Hans-Klaus Jungheinrich
In Memoriam
Text: Norbert Abels
In: Magazin, Saison 2018/19, März-April, Oper Frankfurt, S. 34 [Publikumszeitschrift]
Ich habe ihn immer nur vorwärts gehen sehen. Er war ein Wanderer – nicht nur in den Bergen, sondern auch in den Höhen und Tälern geistesstarker Kreativität. Er konnte mit derselben Emphase und immer wohlgeformten Sätzen von einem Queen-Konzert wie von Weberns Variationen für Orchester oder Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer sprechen.
Auch als Achtzigjähriger, strotzend vor Gesundheit, ungebrochen inflammiert von neuen Gedanken und neuen Plänen, war sein deshalb stets auch neugieriger Blick auf Entdeckungen aus. Ja, sogar ein gründlich durchdachtes Streichquartett wollte er endlich vollenden, anknüpfend damit an seine früheren kompositorischen Arbeiten. Jetzt freilich, im Nachhinein, fallen mir dunkler gefärbte Worte aus seiner letzten Daseinszeit ein, die noch anderes in sich trugen; sie zeigten sich nunmehr auch inspiriert von Erinnerungen. So sprach er etwa von Überlebensstrategien, darauf ausgerichtet, sich neuerlich und immer wieder in die musikalische Materie zu vertiefen. Er nannte das »sich hineingraben«. Auch fanden sich in seinen späten Texten Stellen, die mir jetzt erst zu denken geben. So sprach Klaus von den »Scherben des Gewussten«, von »Sinnresten«, kaum noch zu einem Ganzen zusammenfügbar, längst »im Schatten des Todesengels« stehend. Nur wenige Tage vor der wirklichen Ankunft dieses obskuren Himmelwesens saßen wir essend, trinkend, seit Langem nicht mehr rauchend, aber aufs Angeregteste parlierend und stundenlang beisammen. Klaus fragte mich, welches musikalische Werk ich allem anderen vorziehen oder als einzig klingendes auf die berühmte einsame Insel mitführen würde. Nach einigem Grübeln verriet ich ihm, dass mein Herz für das Adagio aus Schuberts C-Dur Quintett schlage. Er lächelte zustimmend und respondierte aus dem Stand mit einigen wunderbaren Formulierungen darüber. Nachdem ich die Gegenfrage gestellt hatte, gab es kein Zögern. Blitzschnell kam die Antwort. Es waren die Metamorphosen, jenes tieftraurige Spätwerk von Richard Strauss.
Als ich mit der Familie die Trauerfeier für Klaus vorbereitete, kamen wir überein, diese Stücke dort zusammen mit dem so bewegenden Anfang von Wolfgang Rihms musikalischem Traumgesicht Der Maler träumt und – zu Beginn – Bachs Aria (Goldberg-Variationen) erklingen zu lassen. In den letzten Jahren hatte Klaus, Abkömmling eines evangelischen Frankfurter Pfarrhauses und einst Organist und Chorleiter der Peterskirche, fast ausschließlich den jahrzehntelang gemiedenen Bach gespielt. Eine Fahrt zu dessen Wirkungsstätte nach Köthen war als nächstes Reiseziel nach Weihnachten fest eingeplant. Die Metamorphosen begleiteten den Gang von der Halle zum offenen Grab.
Unerwartet, im Schlaf, traf der Tod ihn an. Er starb in den frühen Morgenstunden des 16. Dezember 2018. Am Morgen rief mich sein Sohn an. Gitta, die Frau meines so plötzlich gestorbenen langjährigen Freundes, die 53 Jahre mit ihm zusammengelebt hatte, erzählte mir mit brechender Stimme von seinen letzten Worten am Abend zuvor. Sie galten der Musik. Zuvor hatte er am Spätnachmittag einem vorweihnachtlichen Chorkonzert in der Bad Homburger Erlöserkirche gelauscht. Unter anderem waren dort Bernsteins wunderbare Vertonungen einiger Psalmentexte zu hören. Er war tief von dieser Musik beeindruckt. Es war die letzte Musik, über die er sprach.
Er war, das sei hier nicht vergessen, sowohl in seinen stets fairen und von Verantwortung zeugenden Kritiken, in seinen zahlreichen Büchern und Sammlungen, in all den von ihm bewerkstelligten Symposien und Veranstaltungsreihen zur Neuen Musik einer der wirklich tiefgründigen Musikschriftsteller und überhaupt ein Glücksfall für das musikalische Leben in diesem der Tonkunst immer noch so zugewandten Land. Er selbst, lange Zeit der musikalische Kopf der Frankfurter Rundschau, resümierte in den letzten Wochen seines Wirkens: »Ein Leben lang Musik hören, Musik machen, darüber nachdenken und schreiben. Allmählich wird man, lernend und lebhaft wahrnehmend auch noch mit über 80, zum Kenner, zum Wissenden, der, immer auch der täglichen Welterfahrung zugewandt, ein ungeheures geschichtliches Panorama überblickt, es durchmisst, durchforscht, ja, auch genießt.«
Die Oper Frankfurt, wo ich ihn 1985 kennenlernte, ist ihm zu besonderem Dank verpflichtet. Viel zu Erinnerndes und vorm Vergessen zu Bewahrendes schrieb er über die Wege und bisweilen auch Irrwege dieses Hauses. Man sollte sich an seine eigenen Worte erinnern, die er, der Goethepreisträger, einst verfasste, als eine gerühmte Musiktheaterära dort, in der Goethestadt, zu Ende ging: »Kein beschwörender Zuruf bringt den Augenblick zum Verweilen. Das Absterben erst schafft neues Leben. Es muss Raum da sein für Neues, für die, die nach uns kommen. Doch sie leben kein ganz eigenes Leben; was sie sind, ist von uns mitgeschaffen, durch unser Leben, unseren Tod. (...) Das Vergehende verschwindet nicht restlos.«
Wir sollten uns diese Worte, um Hans-Klaus Jungheinrich trauernd, einprägen. Sie gelten immer noch.
- Quelle:
- Magazin
- Oper Frankfurt
- Saison 2018/19, März-April
- S. 34
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