Wie politisch darf das Theater sein?
Text: Arne Langer
In: PROspekt, # 12 | März-August 2020, Theater Erfurt, S. 5 [Publikumszeitschrift]
Oder müsste man nicht eher fragen: Wie politisch muss Theater sein? Wobei hier „politisch“ nicht im Sinne von parteipolitisch oder tagespolitisch gemeint ist.
„Theater ist immer heute“ lautete das Credo Walter Felsensteins, des legendären Gründers der Komischen Oper Berlin, der mit seinen fesselnden und immer auch unterhaltsamen Inszenierungen nie den Bezug zu seiner Gegenwart – und das waren die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – aus dem Blick verlor. Mit seiner Arbeitsweise und stilbildenden Regiearbeiten prägte Felsenstein die Opernpraxis in Deutschland, Europa und letztlich weltweit.
Sein Nach-Nachfolger als Chefregisseur war Harry Kupfer, der leider vor wenigen Wochen verstorben ist. Ihm verdanke ich unvergessliche Aufführungen als Zuschauer und eine tief beeindruckende Zeit als Regiehospitant. Zu Beginn meines Praktikums liefen an der Komischen Oper die Endproben zur Lustigen Witwe. Und die Inszenierung hatte es in sich: Den optischen Rahmen bildeten Dreharbeiten zu einem Operettenfilm während der NS-Zeit; am Schluss ging auf der Bühne die Welt unter im Bombenhagel des Krieges. Das fand ich als junger Student schon ziemlich gewagt, mit dem Vorurteil im Hinterkopf, Operette müsse doch der gepflegten, entspannten Unterhaltung dienen. Auf meine Frage, warum er denn die Witwe so „politisch“ inszeniere, kam von Harry Kupfer leicht erbost ob meiner Naivität die klare Ansage: „Theater ist immer politisch!“
Daraufhin begann ich zu verstehen, dass auch – oder gerade – eine Inszenierung, die jeglichen Zeitbezug ausklammert, politisch ist, indem sie eine (ignorante) Haltung ausdrückt. Und damit eine Haltung, die vielleicht Teilen des Publikums gefällt, aber im Widerspruch zu den Absichten der Autoren und eben auch der Theatermacher steht. Denn ein anderer Leitsatz Felsensteins lautete: „Theater besteht aus Absichten, nicht aus Stimmungen.“ Und diese Aussage gilt eben auch dann, wenn die Absicht darin besteht, keine Haltung zu drängenden Fragen der Gegenwart, des menschlichen Miteinanders zu beziehen und stattdessen anspruchslose musikalische Abendunterhaltung zu servieren.
Im Falle der Lustigen Witwe spielte für Kupfer die Tatsache eine Rolle, dass diese Operette eines von Hitlers Lieblingswerken war und dass dieser gerne im nur wenige Schritte von der Reichskanzlei entfernten Metropol-Theater (der späteren Komischen Oper) die Witwe anschauen ging, um sich von seinem „Arbeitsalltag“ zu erholen.
Jetzt werden Sie möglicherweise fragen: Was hat das mit dem Theater Erfurt im Jahre 2020 zu tun? Und muss es denn in der Kunst immer um schreckliche, hässliche Dinge gehen? Muss es natürlich nicht. Zugegeben, das genannte Beispiel ist schon sehr speziell, aber die Haltung dahinter hat nichts von ihrer Bedeutung für uns Theatermacher verloren: Eine Aufführung, gerade auch die Neuinszenierung eines Repertoirewerkes, steht nie im historisch luftleeren Raum. Jeder Theatertext, jede Opernpartitur hat eine Rezeptionsgeschichte, die bei jeder Interpretation mitschwingt. Heiner Müller, einer der wichtigsten deutschen Dramatiker des 20. Jahrhunderts – dem wir auch das Textbuch zur Oper Lanzelot verdanken – hat das folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Autorität ist der Text, nicht der Autor – Der Text ist klüger als der Autor.“
Was heißt das nun für einen Regisseur? Soll er auf Biegen und Brechen die Handlung einer Oper in die Gegenwart „verlegen“, in „heutigen“ Räumen und Kostümen spielen lassen, um auch dem letzten Besucher klarzumachen: Was Sie sehen, geht uns alle an!?
Doch es gibt keine Patentrezepte für eine „richtige“ Ausstattung von Werken des historischen Repertoires. Es geht um die Inhalte, die Werte, die vermittelt werden sollen, und das kann durchaus auch im historischen Gewand oder in futuristischer Aufmachung geschehen. Wichtig ist nur, dass der Inszenierung eine Interpretation mit einer Haltung zugrunde liegt. Das Publikum soll spüren, dass sich jemand Gedanken gemacht und die Menschenbilder und Wertvorstellungen der Entstehungszeit mit heutigen in eine Beziehung gebracht hat.
Aber das zu spüren, soll nicht heißen, sich belehrt fühlen zu müssen. Theater funktioniert durch Anteilnahme, durch Empathie. Und Ausdrucksmittel des Modernen können sich abnutzen: Badewannen, SS-Uniformen, Handys und Autos bei Mozart, Verdi oder Wagner mag man vielleicht nicht (mehr) auf der Bühne sehen, doch es muss erlaubt bleiben, den Zuschauenden herauszufordern, Fragen zu provozieren, auf die die Aufführung keine Antworten gibt. Und die Kunst besteht darin, das Publikum dabei mitzunehmen, es intelligent – vielleicht auch ein wenig subversiv – zu unterhalten und zugleich mit ehrlicher Leidenschaft für Werte einzutreten.
Peter Konwitschny, der Regisseur unserer Lanzelot-Koproduktion mit dem DNT Weimar, ist kein Schüler Felsensteins und doch gibt es Verbindungen, die mit dem aufklärerischen und zugleich höchst sinnlichen Theater Bertolt Brechts zusammenhängen. Dass Konwitschnys Inszenierungen nicht nur die Fachwelt, sondern auch ein breites Publikum locken und begeistern, hat sicher auch damit zu tun, dass er das Theater als eine politische Anstalt begreift.
- Quelle:
- PROspekt
- Theater Erfurt
- # 12 | März-August 2020
- S. 5
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