• Magazin
  • Oper Frankfurt
  • November/Dezember 2010
  • S. 10-11

Wenn sie sterben – singen die Menschen

Über die Kunst des Singens

Text: Jürgen Kesting

In: Magazin, November/Dezember 2010, Oper Frankfurt, S. 10-11 [Publikumszeitschrift]

Als die in Italien bewunderte Toti dal Monte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Lucia di Lammermoor in London gastierte, spottete Ernest Newman als getreuer Proselyt Wagners über eine musikalische Kost für »Genießer von Nachtigallenzungen und Pfauenhirnen«. Der »canto fiorito« oder die sogenannte Sängermusik galten in dem Maße, wie das musikalische Drama und der Verismo die Bühnen eroberten, als ästhetisch minderwertig. Koloratur-Fähigkeit wurde als Kehl-Fertigkeit, durch das verächtliche Beiwort »leer« charakterisiert, abgetan. Dieser Bewertung hält Theodor W. Adorno in seinem Essay Bürgerliche Oper entgegen: »Die Opernform erfüllt sich vielleicht dort am vollkommensten, wo sie selbst den Anspruch auf Seele und Ausdruck opfert und zum künstlichen Naturlaut übergeht; die Koloratur ist keine bloße Form äußerlicher Übertreibung, sondern gerade an ihr als einem Extrem tritt die Idee der Oper am reinsten hervor, und nirgends ist Wagner ihr näher gewesen als eben in der Partie des Waldvogels.«

Wie aber kommt es, dass der Begriff »Künstlichkeit«, gerade beim Gesang, negativ besetzt ist? Über einen Zeitraum von rund zweieinhalb Jahrhunderten beruhte die Kunst des Singens auf der Einheit des Expressiven und des Dekorativen: der Schönheit und Stetigkeit des Tons (schön auch um seiner selbst willen), dem Fluss des Legato, der Beherrschung der Dynamik und der Agilität. Der schöne Ton wurde gehalten, schwoll an und ab (messa di voce); die Linie des Legato wurde rhythmisch flüssig gezogen und durch das Portamenta dergestalt geformt, dass ein architektonischer Bogen entstand. Ornamente und Verzierungen wurden in die Linie eingewoben wie Silberfäden in einen Brokat.

Das Ornament stand im Dienst der Expression. Mozart mahnte seine Sängerinnen und Sänger einerseits, auf die »Gewalt der Worte« zu achten, war aber andererseits bemüht, Arien zu schreiben, die »wie ein Kleid auf den Leib« passen. Die »entsetzlichen Passagen« in der Arie der Giunia – »Ah se il crudel periglio« – aus Lucio Silla, eine Vorform der romantischen Wahnsinns-Arie!, hätte er gewiss nicht geschrieben, wenn Anna de Amicis, die Sängerin der Mailänder Uraufführung, damit überfordert gewesen wäre. Das »ben vestir la prima donna« oder »ben vestir la virtuosa« blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein verbindlich, bis hin zu Rossini, Bellini, Donizetti und dem jungen Verdi, ungeachtet der Klagen vieler Komponisten über die Anmaßungen eitel-selbstgefälliger Sänger.

In seinem epochalen Aufsatz Über Schauspieler und Sänger erging sich Wagner voller Hohn über die »weiblichen Kastraten der Oper«. Weibliche Kastraten? Gemeint mit diesem Paradox waren Sängerinnen, die den verzierten Stil der Halbmänner fortführten. Wagner hingegen erwartete von seinen Darstellern, wie aus dem Tannhäuser-Brief an Albert Niemann oder den Briefen an Cosima über die Darstellung von Tristans Monolog hervorgeht, ein hohes Maß an »Ausdruck«, an »ekstatischer Phonation« bis hin zum Selbstopfer. In der italienischen Oper trat zum Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend die Affekt-Arie an die Stelle von Cantilena und Cabaletta – auch die »aria d´urlo«, in welcher Empfindungen mit naturalistischen Mitteln, mit Schluchzern und Seufzern, nachgeahmt wurden. 

Viele Sänger (und Dirigenten) verloren zunehmend aus den Augen, dass es auch in den Opern des späten Verdi und in den Werken der »nuova scuola« zahlreiche Passagen gibt, die ohne die erwähnten technischen Fertigkeiten nicht auszuführen sind. Wenn Ferrando zu Beginn von Il trovatore die Vorgeschichte erzählt, hat er ebenso einen Triller zu singen wie Manrico in seiner Arie »Ah sì, ben mio« im dritten Bild. Noch in den Partien des Don Carlo und des Posa finden sich zeremonielle Triller – von Plácido Domingo und Sherrill Milnes in der Aufnahme unter Carlo Maria Giulini ausgeführt –, die eine Steigerung des Ausdrucks bewirken. Und wenn Falstaff im dritten Akt der Oper, nachdem er von den Damen in die Themse geworfen, durchnässt im Gasthof zum Hosenband Zuflucht sucht, über die schändliche Welt (»mondo reo«) flucht und sich mit einem Glühwein aufwärmt, beginnen die Instrumente des Orchester zu trillern. Sir John kommentiert dies mit dem Satz: »Il trillo invade il mondo!« Der Triller hat hier die Bedeutung eines Weltgelächters, so wie im Otello das Trillern der Bratschen und der Klarinetten Chiffre ist für das Höllengelächter Jagos.

Noch Nedda, die untreue Frau des ungeliebten Pagliaccio, muss in ihrem Vogellied, von der Freiheit des Davonfliegens träumend, trillern. Woran liegt es wohl, dass die meisten Sängerinnen daran gescheitert sind? Die Kunstfertigkeit des verzierten Gesangs galt in der Epoche des Verismo als Anachronismus. Bis auf wenige Hauptwerke verschwanden die Opern Rossinis ebenso wie die der italienischen Opernromantik, selbst die des jungen Giuseppe Verdi, nach 1900 aus dem Repertoire. In seiner Zeit an der Scala und an der Metropolitan Opera hat Arturo Toscanini keine einzige Oper Verdis aus der Zeit vor der trilogia popolare – Rigoletto, Il trovatore und La Traviata – dirigiert, erst recht keine von Rossini und Bellini. Die meisten Werke der italienischen Opernromantik wurden für vier, fünf Jahrzehnte aus dem Kanon verbannt. Warum also hätten Soprane und Tenöre, geschweige denn Bässe, sich die Mühe machen sollen, Skalen und Triller zu üben? 

Die meisten Aufnahmen italienischer Belcanto-Opern aus den fünfziger und sechziger Jahren lassen erkennen, wie schwer sich Sängerinnen und Sänger mit dem verzierten Stil taten. Maria Callas hat in vielen ihrer Aufnahmen keine Partner gefunden, die ihr stilistisch ebenbürtig waren – Stil verstanden als Symbiose von musikalischer Formensprache und der Technik für deren Verwirklichung. Selbst aus den Opern Mozarts wurden bis in die sechziger und siebziger Jahre, bedingt durch die Verwechslung von Buchstabentreue mit Werktreue, Appoggiaturen getilgt: also dissonierende Vorhalte-Noten, die es erlauben, in Wörtern mit schwachen (weiblichen) Endungen die »Gewalt der Worte« nicht durch eine Sprachbetonung, sondern durch einen musikalischen Akzent – »Ach, ich lieb-te, war so glück-lich« – zu erreichen.

Das von Mozart in den »Gusto« der Sänger gesetzte Vertrauen in deren interpretatorische Freiheit, Verzierungen zur Verstärkung der Affekte zu nutzen – etwa »Eingänge« vor zweiten Strophen zu singen oder Fermaten und Phrasenenden auszuzieren – , galt als Vergehen. Es war das Insistieren auf dem »come scritto«, das zu einer Petrifizierung von Mozarts Opern geführt hat. Hingegen hat die historische Aufführungspraxis, um einen Begriff Friedrich Nietzsches aufzunehmen, nicht zu einer »antiquarischen Historie« geführt, sondern ein Zurück in die Zukunft ermöglicht. Dies betrifft Komponisten wie Georg Friedrich Händel oder Antonio Vivaldi ebenso wie den jungen, den »italienischen« Mozart, deren Werke für fast zwei Jahrhunderte im Canyon der Archive entsorgt worden waren.

Zu den Voraussetzungen für die »Renaissance« der Barock- und der Virtuosen-Oper gehörten zum einen die wissenschaftliche Vorarbeit, auch durch Dirigenten wie Charles Mackerras, Arnold Östman, Nikolaus Harnoncourt, William Christie, John Eliot Gardiner und René Jacobs, zum anderen Sänger, die ihre Hörer durch ein Singen von höchster Künstlichkeit verzaubern. Der singuläre Erfolg von Cecilia Bartoli beruht darauf, dass sie eine im tiefen Brunnen der Vergangenheit schlummernde Musik durch brillant-virtuose Aufführungen lebendig hat werden lassen. Mezzospranistinnen wie Vivica Genaux und Joyce DiDonato oder Countertenöre wie Andreas Scholl, David Daniels, Philippe Jaroussky u. a. haben zumindest die Wonnen der Ahnung von der Kunst der Kastraten vermittelt. 

Noch einmal: das Ornament und die Expression. In seinem Offenbach Essay Kunst und Leben – Lebenskunst (Magazin, September / Oktober 2010) bemerkte Rüdiger Safranski, der Komponist habe nicht für das Pantheon geschrieben, sondern für die Augenblickswirkung des Theaters. Mit der Sängerin Antonia aber hat er in Les Contes d´Hoffmann eine Figur auf die Bühne gestellt, die ihr Leben preisgibt um ihres Künstlertums willen. Das Singverbot überschreitend, folgt sie, verführt durch das Geigenspiel und die Beschwörungen des Doktor Mirakel, der Stimme ihrer Berufung. Sie beginnt zu singen und haucht – »C´est une chanson d´amour« – ihre Seele aus. Das Schreckliche aber findet seinen Ausdruck in einem Triller auf dem F der zweiten Oktave: in einem Naturlaut von höchster Künstlichkeit. Was den jedermännischen Realitätssinn angeht, der einwendet, dass die erdolchte Gilda, die schwindsüchtige Violetta oder der todwunde Otello eigentlich nicht singen können, sei ein magischer Vers des russischen Futuristen Welemir Chlebnikow, von Luigi Nono vertont, zitiert:  

Wenn sie sterben – welken die Gräser.
Wenn sie sterben – schnaufen die Pferde.
Wenn sie sterben – dunkeln die Sonnen.
Wenn sie sterben – singen die Menschen.


Jürgen Kesting ist einer der renommiertesten Experten für Oper und Operngesang. Sein Buch Die großen Sänger – 2008 als vierbändige Neuausgabe erschienen – ist seit Jahren ein Standardwerk. Für unser Magazin schreibt er über Triller, Läufe und Verzierungen und erklärt, wie eng im Belcanto Ornament und Ausdruck zusammenhängen: eine Spurensuche in der Geschichte des Schöngesangs.