• Foyer5
  • Landestheater Linz
  • # 20 | September/Oktober 2021
  • S. 18-21

La Bohème | Oper

Klirrende Klänge

Wie klingt Kälte?

Text: Christoph Blitt

In: Foyer5, # 20 | September/Oktober 2021, Landestheater Linz, S. 18-21 [Publikumszeitschrift]

Kann man Temperaturen komponieren? Kann Musik das Thermometer in einem Opernhaus oder Konzertsaal fallen oder steigen lassen? Warum werden Tango-Rhythmen gerne als „heiß“ bezeichnet? Und wie viel Grad Celsius hatte etwa ein Johann Sebastian Bach im Sinn, als er sein Wohltemperiertes Klavier komponierte? Natürlich ging es Bach bei diesem Werk nicht um einen angenehmen Mittelwert zwischen warm und kalt. Vielmehr bezieht sich dieser Titel auf die damals noch recht neue Technik, ein Cembalo so zu stimmen, dass alle Tonarten auf ihm zu spielen waren. Und beim Tango sind vielleicht weniger die Rhythmen per se „heiß“, als vielmehr die erotisch aufgeladenen Schwingungen zwischen den Tanzenden. Aber diese beiden Beispiele suggerieren zumindest, dass es eine Verbindung zwischen Musik und Temperaturen zu geben scheint. Aber wie klingt dann etwa Hitze?

Um das herauszufinden, könnte es sich anbieten, ein Stück wie den „Feuerzauber“ aus Richard Wagners Die Walküre ein wenig genauer unter dem Brennglas zu analysieren. Die Situation auf der Bühne ist folgende: Weil seine Lieblingstochter Brünnhilde ungehorsam gegen ihn war, muss Gott Wotan sie wohl oder übel bestrafen. Er versetzt sie in einen tiefen Schlaf. Um sie zu schützen, umgibt Wotan aber ihren Schlafplatz mit einem Feuerring. Wagner lässt es sich an dieser Stelle natürlich nicht nehmen, eben dieses Feuer in seiner Musik zu evozieren: Ein durchgehender, aus kurzen Notenwerten engmaschig gewobener Klangteppich der Streicher erweckt den Eindruck von glimmender Glut, während gezackte Melodieverläufe in den Harfen und Bläsern züngelnde Flammen in Klang verwandeln. Ein immer dichter werdender Orchestersatz bei zunehmender Phonstärke vermittelt zudem die Vorstellung, dass das Feuer an Höhe und Intensität gewinnt. Das ist extrem beeindruckend und nachvollziehbar. Aber wenn man ehrlich ist: Selbst wenn beim Hören dieser Musik vor dem inneren Auge das Bild von Glut und Flammen entsteht, wird einem nicht zwangsweise auch warm dabei. Ins Schwitzen kommen wahrscheinlich nur die Streicher*innen mit ihren permanenten auf- und abwallenden, fitzeligen Zweiundreißigstel-Noten. Dass man sich aber an dieser Musik nicht wirklich wärmen kann, mag damit zusammenhängen, dass die Reaktionen, die Hitze beim Menschen auslöst, kaum adäquat in Musik zu übertragen sind. Bei Kälte jedoch ist das etwas anders: Denn Zittern oder Zähneklappern lässt sich etwa durch Wiederholung ein- und desselben Tons sehr eindrücklich kompositorisch ausdrücken. Auch das Gefühl des Erstarrens, das sich bei eisigen Temperaturen unangenehmerweise einstellt, ist durch langsame Tempi, stockende Rhythmen und schwerlastende Akkorde angemessen in Musik übertragbar. Angesichts dieser unterschiedlichen Empfindungen und Reaktionen, die der Mensch bei Kälte empfindet und die sich in stilisierter Form musikalisch transferieren lassen, kann es durchaus sein, dass man beim Hören entsprechender Werke leicht fröstelt. Verantwortlich dafür ist die Fähigkeit des menschlichen Unterbewusstseins, Analogien herzustellen. Das heißt, wenn es Komponist*innen tatsächlich gelingt, Zittern, Erstarrung oder eine allgemein frostige Atmosphäre musikalisch zu versinnbildlichen, werden diese Eindrücke beim Hörenden instinktiv mit der Erinnerung an reale Erfahrung des Frierens verknüpft, wodurch ein subjektives Kältegefühl hervorgerufen werden kann.

Wer das einmal in einem Selbstexperiment überprüfen möchte, dem sei eine Aufführung im Linzer Musiktheater von Giacomo Puccinis Klassiker La Bohème (Achtung Wortspiel:) wärmstens empfohlen. Denn diese Oper spielt im kalten Pariser Winter, und so findet sich am Anfang des dritten Bildes auch eine ausgedehnte musikalische Schilderung eines nebligen Februarmorgens, die viele der oben beschriebenen Gestaltungskriterien aufgreift: Da wäre zunächst das Moment der Kälte-bedingten Erstarrung, das sich vor allem in der Grundierung im tiefen Klangregister niederschlägt. Denn hier spielen die Celli über sage und schreibe 114 Takte hinweg immer die gleiche leere Quinte. „Leere Quinte“ bedeutet, dass für einen vollen Dreiklang die Terz in der Mitte fehlt, die den Akkord als Dur oder Moll definieren würde. Ohne diese Terz bleibt die Harmonik also im wahrsten Sinne des Wortes im Nebulösen. Über diesen permanent vibrierenden hohlen Bass tupfen Flöten und Harfe ein ebenfalls aus leeren Quinten bestehendes, immer wieder durch kleine Pausen unterbrochenes Melodiefragment, das die Assoziation an Schneeflocken weckt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Flöte und Harfe zwei Instrumente sind, denen ein metallisch-kalter Klang zu eigen ist. Später gesellen sich noch die Triangel und sogar zum Schlagwerk umfunktionierte Trinkgläser dazu, die einen wahrhaft „klirrenden“ Klang ergeben. All diese musikalischen Gestaltungsmittel in Verbindung mit der Szene, die eine verschneite Zollstation am Pariser Stadtrand zeigt, und in Verbindung mit der aktuellen gefühlsmäßigen Temperatur der Stückhandlung, die daraus resultiert, dass die Beziehung zwischen der schwindsüchtigen Mimì und dem Dichter Rodolfo momentan „erkaltet“ ist, sind der Analogie-Theorie gemäß also dazu angetan, die Zuschauer*innen tatsächlich ein wenig frösteln zu lassen. Aber Sie müssen dennoch nicht befürchten, sich beim Besuch einer La Bohème-Vorstellung aufgrund der Musik eine Verkühlung einzufangen, denn Puccinis Partitur hält genug andere Passagen bereit, die ob ihrer emotionalen Dichte die Herzen zu erwärmen vermögen.


LA BOHÈME

SZENEN NACH HENRI MURGERS „LEBEN DER BOHÈME" VON GIACOMO PUCCINI
TEXT VON GIUSEPPE GIACOSA UND LUIGI ILLICA UNTER MITWIRKUNG VON GIULIO RICORDI UND GIACOMO PUCCINI
In italienischer Sprache mit deutschen Übertitel

Premiere 25. September 2021
Großer Saal Musiktheater

Musikalische Leitung Markus Poschner
Inszenierung Georg Schmiedleitner (nach einem Konzept von Mizgin Bilmen)
Bühne Sabine Mäder
Kostüme Martina Lebert
Dramaturgie Christoph Blitt
Chorleitung Elena Pierini
Leitung Kinder- und Jugendchor Olga Bolgari
Nachdirigat Enrico Calesso, Marc Reibel

Mit Erica Eloff (Mimì), Ilona Revolskaya / Fenja Lukas (Musetta), Rodrigo Porras Garulo / Matjaž Stopinšek (Rodolfo), Adam Kim (Marcello), Martin Achrainer (Schaunard), Dominik Nekel (Colline), Grégoire Delamare / Petar Asenov Stefanov (Parpignol), Reinhard Mayr / Tomaz Kovacic (Benoit und Alcindoro), Markus Raab / Marius Mocan (Sergeant), Boris Daskalov / Marius Mocan (Zollwächter), Domen Fajfar / Jin Hun Lee (Verkäufer)

Chor des Landestheaters Linz
Kinder- und Jugendchor des Landestheaters Linz
Statisterie des Landestheaters Linz Bruckner Orchester Linz

Die schwindsüchtige Seidenstickerin Mimì und der erfolglose Dichter Rodolfo, der mit drei Künstlerfreunden zusammenlebt, verlieben sich, trennen sich, nähern sich wieder einander an, trennen sich erneut und kommen in dem Moment wieder zusammen, in dem Mimì ihrer Krankheit erliegt. Mit dieser einfach nachzuvollziehenden Handlung präsentiert sich La Bohème als eine Oper, die ganz ohne komplizierte Intrigen und ideologische Überlagerungen auskommt und deren Wirkung man sich trotzdem kaum entziehen kann.

Weitere Vorstellungen
30. September, 2., 6., 8. 26. und 29. Oktober, 15. November, 8., 14., 16. und 26. Dezember 2021
Weitere Termine auf landestheater-linz.at

75. Sonntagsfoyer
Einführungsmatinee | 12. September 2021, 11.00 Uhr | HauptFoyer Musiktheater

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