- Foyer5
- Landestheater Linz
- # 20 | September/Oktober 2021
- S. 22-25
Premierenfieber | Operette
„Operette sich, wer kann!“
Bestandsaufnahme eines Genres
Text: Magdalena Hoisbauer
In: Foyer5, # 20 | September/Oktober 2021, Landestheater Linz, S. 22-25 [Publikumszeitschrift]
Was nach einem flotten Marketing-Slogan einer unterhaltsamen Sonntagsmatinee klingt und wohl bereits vielfach als Titel eines lauschigen Sommernachtskonzerts oder einer tingelnden Provinztournee verwendet wurde, ist längst zu einer Standardformulierung, einem sogenannten Stehsatz geworden: „Operette sich, wer kann!“ Ursprung und Herkunft dieses gerne zum Einsatz gebrachten, meist gut gemeint augenzwinkernden Bonmots sind ebenso unklar, wie ein näher unternommener Blick auf das herangezogene sprachliche Bild vielleicht aufschlussreich sein könnte. Wussten Sie, woher der Begriff „Stehsatz“ kommt? Im analogen Buchdruck wurden einzelne in Bleilettern gesetzte Zeilen oder Sätze nach ihrer Verwendung in der Druckmaschine im Ganzen archiviert und für eine spätere Neuauflage in eigenen Stehsatzregalen aufbewahrt. – In ihrem Ist-Zustand konserviert, um später zum unveränderten Einsatz wieder „ausgegraben“ zu werden … Ist die Operette womöglich selbst zu einem Stehsatz in der Welt des Theaters geworden? Dem wollen wir – anhand des vielleicht lieb gewonnenen Kalauers im Titel – Wort für Wort auf den Grund gehen.
1) OPERETTE, DIE
Ihr haftet mitunter ein zweifelhafter Ruf an: walzerselig oder Polka-polternd, banal und süßlich kitschig, freizügig bis frivol. Die Operette bewegt sich im Dunstkreis der Sonntagnachmittag-Filme der 1950er Jahre, sie lässt die sogenannte „heile Welt“ oder die „gute alte Zeit“ wieder aufleben, erfreut uns traditionell mit Champagnerlaune zum Jahreswechsel, und sie ist alles andere – aber sicherlich nichts für junge Leute. Ist der Ruf erst ruiniert, … ? Mitnichten: Das Genre der Operette wird mit dieser gängigen Sichtweise schlichtweg verkannt, und das genauso schmerzlich wie humor- und mutlos.
Denn in ihren Anfängen war sie eine Mischung aus satirisch-politisch-subversivem Musikkabarett und frechem, angriffslustigem und temporeichem Unterhaltungstheater. Erst kürzlich feierte die Theaterwelt den 200. Geburtstag ihres Begründers und Erfinders, Jacques Offenbach (1819–1880), der – von Köln in die damalige Welt-Musikstadt Paris ausgewandert – zunächst als Cellist an der Opéra comique seinen Dienst versah und dort alle Regeln der damals aktuellen Komik im Musiktheater kennenlernte. Zum Theaterunternehmer und Komponisten avanciert, schrieb Offenbach – ausgehend von einaktigen Operetten-Miniaturen – 1858 schließlich die erste abendfüllende Operette: Orphée aux enfers (Orpheus in der Unterwelt). Wortwörtlich als „kleine Oper“, als „opérette“, hat Offenbach seine Werke nicht bezeichnet; der heute geläufige Genrebegriff ist vielmehr Ergebnis ihres Siegeszuges in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ganz Europa. In der österreichischen Kaiserstadt Wien mit ihren damals unzähligen kleinen Theatern angekommen, entfachten die Werke Offenbachs den Ehrgeiz des Urvaters der Wiener Operette: Tanzmusik-Kapellmeister Johann Strauss, dessen Bühnenschaffen mit der Fledermaus die heute wahrscheinlich berühmteste Operette überhaupt birgt.
2) WO ABER IST GEFAHR?
Der flotte Spruch zur vermeintlichen Attraktivierung des Genres spielt offensichtlich auf die defätistische Redewendung „Rette sich, wer kann“ an. Doch wovor? Ein Blick ins Lexikon erläutert die Bedeutung dieses geflügelten Wortes wie folgt: „Ein panischer Ausruf, dass jeder Kameradschaft vergessen und sich selbst retten soll.“ Warum die Drastik? (Allein zuliebe eines Wortspiels?) Zugegebenermaßen gibt und gab es Probleme, ja sogar Notsituationen: Aufgrund der Vielzahl jüdischer Komponisten und Librettisten, die in der Blütezeit der Wiener Operette das Genre maßgeblich prägten, gehörte diese zu einer der massiv von der Ideologie des Nationalsozialismus in Mitleidenschaft gezogenen und „verfemten“ Kunstformen. Mit sogenannten Durchhalte-Operetten für Soldaten wie Zivilisten und der Annullierung vor allem vieler jüdischer Librettisten durch die NS-„Kulturpolitik“ wurde die Operette missbraucht und geschändet. Man kann getrost feststellen, dass sich das Genre nach dem Zweiten Weltkrieg, zumindest in Europa, lange nicht erholt hat. Die in großer Zahl in die USA emigrierten Autoren aber haben ein anderes Genre maßgeblich vorangetrieben und geprägt: das Musical. Ja, die Grenzen sind fließend, und es gibt mit Broadway-Operetten wie The Student Prince (1924) von Sigmund Romberg oder The Firebrand of Florence (1945) von Kurt Weill sicherlich Ausnahmen, aber interessanterweise ist der Broadway eben keine Ansammlung von Operettentheatern, sondern eine Meile von Musicalbühnen geworden. Manch einer hat bereits behauptet, die Operette sei vom Musical abgelöst worden, das Musical sei ihre heutige Variante. Darüber lässt sich veritabel streiten; aber die Operette hat als quasi „inaktives“ Genre ohne derzeit nennenswert stattfindende Uraufführungen in dieser Gegenüberstellung leider denkbar schlechte Karten … Daher stellt sich doch die Frage: Ist die Operette noch zu retten?
3) DER NEUE TREND: „SICH OPERETTEN“
Jetzt wird es kurz ein wenig „i-Tüpferl-reiterisch“: Was könnte das Reflexivpronomen „sich“ vor dem Fantasieverb in unserem Sprüchlein bedeuten? Kann man „sich operetten“, wie man sich kleiden, waschen oder verlieben kann? In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat man sich der Operette in jedem Fall allgemein wieder angenähert; im Bereich der Wissenschaft beispielsweise gab es zahlreiche einschlägige Unternehmungen: Der „Operettenpapst“ Volker Klotz hat seinem Standardwerk Operette. Portrait und Handbuch einer unerhörten Kunst (1991) im Jahr 2014 eine Nachfolgepublikation – Es lebe: die Operette – hinzugefügt, und das Symposium „Kunst der Oberfläche“ an der Komischen Oper Berlin im Jahr 2015 hat eine gleichnamige Publikation nach sich gezogen. Auf den Bühnen Europas gab es in den letzten Jahrzehnten, vor allem ausgelöst durch historisch informierte Aufführungspraxis, zwei große Revivals: das der Barockoper und eben jenes der Operette! Die einschlägigen sogenannten Operettenhäuser – die bereits genannte Komische Oper, die Volksoper Wien, das Gärtnerplatztheater in München und die beiden Operettenbühnen der ehemaligen DDR, die Staatsoperette Dresden sowie die Musikalische Komödie in Leipzig – erstrahlen in neuem Glanz und Selbstbewusstsein. Sie beleben das Genre durch Wiederentdeckungen (v. a. im Bereich der Berliner Operette mit Werken von Paul Abraham oder Eduard Künneke), mit neuen musikalischen Arrangements und sogar der einen oder anderen Uraufführung. Die mannigfaltige österreichische Operettentradition, die vor den Toren Wiens etwa in der Kurstadt Baden, in Mörbisch oder Bad Ischl ihre „sommerfrischen“ Blüten treibt, ist von diesem Trend wohl nur in ihren Ausläufern beeinflusst – diese traditionsreichen Institutionen hatten zum Glück zu allen Zeiten ein treues Publikum. Und wie steht es um die spezifische Qualität der Werke im Zuge dieser „Renaissance der Operette“? Die Partituren von Strauss, Lehár, Kálmán, Offenbach und all ihren Komponistenkumpanen bestechen durch ihre (manchmal verblüffende) Zeitlosigkeit und ihren ungebrochenen Esprit. Die größte Herausforderung für die Operette im 21. Jahrhundert wird es jedoch sein, dass ihre Libretti doch sehr viel schneller altern als ihre Musik.
4) … WER KANN?
Wer sich nur ein wenig mit Opern- und Musiktheatergeschichte beschäftigt, wird auf die historische Begebenheit stoßen, dass Jacques Offenbach und Richard Wagner nicht nur Antipoden, sondern geradezu Gegenspieler waren. Die galoppierende Unterwelt-Anarchie von Offenbach und die hehre Endzeiterzählung von Wagners Götterdämmerung scheinen – vielen bis heute! – unvereinbar. Genauso gibt es die gängige Meinung, dass sowohl das eine wie das andere Musiktheater-Extrem die „Königsdisziplin“ für Dirigent*innen, Regisseur*innen und Darsteller*innen wäre. Braucht es daher Operetten-Spezialist*innen? Die zunehmende Wertschätzung, die dem Genre entgegengebracht wird, beantwortet diese Frage mit „ja“, denn es braucht recht spezifische Fähigkeiten, der Operette zum „Glücken“ zu verhelfen: Dazu gehören Timing, Ironie zu sich selbst sowie zur Rolle (auch im Gesang!), sprachliche Raffinesse und die Fähigkeit, etwas „zwischen den Zeilen“ zu vermitteln, und musikalisch ganz einfach das „gewisse Etwas“ (eine Intuition, die man schwer erlernen kann). Die unter diesem Punkt eingangs etablierte Konkurrenz zwischen Jacques Offenbach und Richard Wagner verhält sich vermutlich in jenem Sinne, wie es das beliebte Sinnbild von den Äpfeln und Birnen besagt … beides einfach unvergleichlich!
EPILOG UND AUSBLICK: DER GRAF VON LUXEMBURG
Franz Lehárs 1909 uraufgeführte Operette Der Graf von Luxemburg kann nun famos als absolut typisches Studienobjekt in der Praxis herangezogen werden: Von karnevaleskem Treiben eröffnet, wird von der Titelfigur – dem Grafen eines heute als Steueroase geltenden Kleinstaats – sogleich die Geringschätzung des schnöden Mammons besungen („So liri, liri, lari, das ganze Moos ging tschari!“), woraufhin das traditionelle Buffo-Paar („Wir bummeln durchs Leben“) in eine Operetten-Version von Puccinis La Bohème entführt. Doch wie steht es um den zentralen Konflikt des Stückes – eine zur Überwindung von Standesgrenzen blind geschlossene Scheinehe –, ist dieser für uns als Publikum heute überhaupt noch nachvollziehbar? In einer Zeit, in der Liebesbeziehungen zu einem großen Teil von Algorithmen und im anonymen digitalen Raum begründet werden, kann die tatsächlich entstehende Liebe zwischen Angèle und René in Lehárs Operette vielleicht als aus der Zeit gefallene romantische Utopie gelesen werden.
DER GRAF VON LUXEMBURG
OPERETTE IN DREI AKTEN VON FRANZ LEHÁR
Text von Alfred Maria Willner,
Robert Bodanzky und Leo Stein
In deutscher Sprache mit Übertiteln
Premiere 15. Oktober 2021
Großer Saal Musiktheater
Musikalische Leitung Marc Reibel
Inszenierung Thomas Enzinger
Bühne Bernd Franke
Kostüme Götz Lanzelot Fischer
Dramaturgie Magdalena Hoisbauer,
Anna Maria Jurisch
Choreografie Evamaria Mayer
Chorleitung Elena Pierini
Leitung Extrachor Martin Zeller
Nachdirigat Claudio Novati
Mit Matjaž Stopinšek (René, Graf von Luxemburg), Alfred Rauch / Matthäus Schmidlechner (Fürst Basil Basilowitsch), Franziska Stanner (Fürstin Stasa Kokozow), Johannes Strauß (Armand Brissard), Ani Yorentz (Angèle Didier), Fenja Lukas (Juliette Vermont), u. a.
Chor des Landestheaters Linz
Tanzensemble
Bruckner Orchester Linz
Weitere Vorstellungen
17., 22., 24. Oktober 2021
Weitere Termine auf landestheater-linz.at
76. Sonntagsfoyer
Einführungsmatinee
3. Oktober 2021, 11.00 Uhr
HauptFoyer Musiktheater
- Quelle:
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- # 20 | September/Oktober 2021
- S. 22-25
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