• Orpheus
  • MuP Verlag
  • 01/2018, Jan/Feb (Auszug)
  • S. 74-77

Opus im Fokus

Der Kreis von Blut und Schrecken

Vor 70 Jahren feierte ein 29-jähriger Komponist namens Gottfried von Einem bei den Salzburger Festspielen seinen künstlerischen Durchbruch

Text: Edwin Baumgartner

In: Orpheus, 01/2018, Jan/Feb (Auszug), MuP Verlag, S. 74-77 [Magazin]

Es war eine aufregende Zeit für die Kunst und Kultur im deutschsprachigen Raum. Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur gärte es. Das Verdrängte und das Verbotene galt es zurückzugewinnen. Neue Wege wollten beschritten oder alte Wege neu erforscht sein. In dieser Situation betritt ein junger, kaum bekannter Komponist an prominenter Stelle die Bühne: Am 6. August 1947 wird bei den Salzburger Festspielen »Dantons Tod« von Gottfried von Einem uraufgeführt. In kurzer Zeit folgen Inszenierungen in Wien, Hamburg, Berlin, Hannover, Stuttgart, Paris, Brüssel und New York. In sechs Sprachen wird das Werk übersetzt. Die deutschsprachige Nachkriegsoper hat ihren ersten Welterfolg. Um die musikhistorische Bedeutung von »Dantons Tod« einschätzen zu können, ist ein Blick auf das Umfeld notwendig. Die nationalsozialistische Diktatur hat die zeitgenössische Oper ihrer größten Erfolge beraubt: Die Werke von Erich Wolfgang Korngold, Franz Schreker und Jaromir Weinbergers »Schwanda, der Dudelsackpfeifer« durften ebenso nicht mehr gespielt werden wie Alban Bergs »Wozzeck«. Der Hoffnungsträger Paul Hindemith wurde als »entartet« diffamiert und zur Emigration genötigt. Lediglich Richard Strauss sorgte für Kontinuität, doch der hochbetagte Komponist wurde mittlerweile eher mit der vorangegangenen Komponistengeneration in Verbindung gebracht als mit der Neuen Musik, die er gleichwohl um »Salome« und »Elektra« bereichert hatte.

Die Opern, die im sogenannten Dritten Reich entstanden, waren nur in seltenen Fällen Propaganda, wie Werner Egks musikalisch durchaus reizvolle »Zaubergeige« und »Peer Gynt«, die sich irgendwo zwischen bajuwarischer Volkstümlichkeit, dissonant aufgeputschten tonalen Akkorden und, horribile dictu, der Melodik so unterschiedlicher Komponisten wie Korngold und Weill bewegten. In der Regel nahmen die Komponisten Zuflucht zu weitestgehend entpersonalisierten Barockerneuerungen, wie es Rudolf Wagner-Régeny machte, oder zu neoklassizistischer Kantigkeit, die sich etwa Ottmar Gerster bei Hindemith abschaute – der Meister war vertrieben, der (freilich begabte) Epigone gefördert. Der einzige Komponist, der im Dritten Reich tätig war, für das er freilich keine Sympathien hatte, und eine eigene Sprache ausgeprägt hatte, war Carl Orff.

Gottfried von Einem, am 24. Januar 1918 in Bern als Sohn eines österreichischen Militärattachés geboren, kam aus einer anderen Richtung. In Berlin war er Schüler Boris Blachers gewesen. Blacher hatte wenig mit den Neoklassizisten zu tun und gar nichts mit Orff. Dem Jazz lauschte er die Synkopen der Rhythmik ab, über die er manch süffige Kantilene ausbreitete und den Zuhörer vergessen ließ, dass er im Grunde einem auf das Wesentliche beschränkten Kontrapunkt lauscht. Es ist eine ungeheuer mutige Musik, denn solche Reduktion bedingt, soll sie funktionieren, die Perfektion in allen Details, denn weder Instrumentalfarbe noch Reizharmonik können die Unebenheiten zudecken.

Einem lernte bei Blacher diese Reduktion, die er allerdings um seine ursprüngliche Begabung für melodischen Fluss und klanglichen Reiz erweiterte, ohne diesen überzubetonen. Sind Blachers Werke Schwarz-Weiß-Skizzen, so suggeriert Einem mit unzähligen Grautönen die Farben, die er im Grund verweigert oder sie, aus Gründen des Effekts, punktuell aufträgt.

Dass Einem sich gerade in seiner ersten Schaffensperiode, zu der »Dantons Tod« gehört, dem Effekt nicht verweigert, ist durchaus positiv zu werten: Das macht ihn zum geborenen Opernkomponisten. Paul Hindemiths anekdotenhaft überlieferter Ausspruch, mit dem »Danton« fange Einem »falsch herum an«, zeigt das grundlegende Missverständnis des Komponisten, der als ursprünglicher Symphoniker und Kammermusiker Opern schreibt, während Einem sich gerade diese Disziplinen erst später auf hohem Niveau aneignen wird.

Einem stößt im Jahr 1939 auf das Drama Georg Büchners. Büchner hatte es 1835 im Alter von 22 Jahren geschrieben. Als Einem es für sich entdeckte, war er mit 21 Jahren etwa gleich alt wie der Dichter. Boris Blacher und Einem selbst formen das Drama in den folgenden Jahren zum Libretto um. Zwei Teile zu je drei Szenen lassen eine klassisch anmutende symmetrische Anlage erkennen. Ende Juli 1944 beginnt Einem die Kompositionsarbeit. Ob ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem misslungenen Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 besteht, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Denkbar ist, dass Einem die blutige Rache der Nationalsozialisten an den Putschisten als Parallelität empfindet, zumal er selbst in Opposition zum Regime steht. Für seine Verdienste um zahlreiche jüdische Musiker, darunter Konrad Latte, wird er schließlich sogar vom Yad Vashem in Israel im Jahr 2002 postum als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet. Dass diese Oper gerade in unserer Zeit unversehens an Aktualität gewinnt und gleich von mehreren Opernhäusern entdeckt wird, zeigt, dass Einems Oper, ungeachtet ihrer fest im Dur-Moll-System wurzelnden Sprache, nichts an Brisanz eingebüßt hat.

Das Drama und damit auch die Oper spielt im Jahr 1794 vor dem Hintergrund der Französischen Revolution. George Danton und Maximilien Robespierre sind die Gegenspieler: Danton will gewaltlos eine Republik schaffen, Robespierre ist ein eiskalt taktierender Machtmensch, der über Leichen geht. Als der charismatische Danton das Volk hinter sich bringt, lässt ihm Robespierre den Prozess machen. Danton wird zum Tod verurteilt, ein diktatorisches System tritt an die Stelle eines anderen diktatorischen Systems.

Einems eigener Aussage zufolge war das Thema, das ihn am meisten interessierte, allerdings nicht die Frage der Macht, sondern der Vorgang eines Prozesses, der mit These, Gegenthese und Urteil nahezu eine archetypische theatralische Situation darstellt. Dementsprechend enthalten oder reflektieren fast alle Opern Einems mehr oder minder deutlich Prozesse oder zumindest Fragen von Recht und Gerechtigkeit: »Der Prozess« folgt dem Romanfragment Franz Kafkas, »Jesu Hochzeit« enthält eine Prozess-Szene, die der aus »Dantons Tod« frappierend ähnelt und der stärkste Teil des Werks ist. »Der Besuch der alten Dame« zeigt die Pervertierung eines Prozesses, Rechtsfragen stehen im Hintergrund von »Der Zerrissene« und »Kabale und Liebe«, während der Wüsterich des »Tulifant« wiederholt zum Rechtsbruch auffordert, und selbst in Einems letzter Oper, »Luzifers Lächeln«, steht am Beginn die Bestrafung des Engels Goldhut, der sich im Himmel daneben benommen hat.

Gleich der Anfang von »Dantons Tod« zeigt Einems Vorgangsweise. Es gibt weder eine Ouvertüre noch eine Musik, die in den Vorgang hineinführt, sondern eine Klanggeste: Drei Akkorde, ein konsonanter und zwei von zunehmender dissonanter Spannung münden in einen Akkord von geradezu schneidender Konsonanz, in den ein harter Schlag hineinfällt. Die Musik malt nicht das Drama aus, sondern erfasst es als einen Vorgang der Verdichtung, ob man den Schlag als rein musikalisch spannungsschaffende Geste sehen oder als den finalen Schlag interpretieren will, der Danton auslöscht, möge sich jeder selbst überlegen. Dass der Bogen von dissonant wirkender Konsonanz über konsonant wirkende Dissonanz zurück zu dissonant wirkender Konsonanz den Weg von der einen Diktatur in eine andere Diktatur anzeigt, mag Zufall sein, doch bei einem intellektuell kontrollierenden Komponisten wie Einem ist eher von einer konstruktiven Überlegung auszugehen.

Was sich musikalisch in der Folge abspielt, ist kurz und bündig in diesen Akkorden angelegt: Die Musik ist weder die Nachahmerin des szenischen Geschehens noch die Psychotherapeutin der Protagonisten. Einem verweigert sich vollständig der Seelensymphonie Wagners. An ihre Stelle tritt die Klanggeste. So führt Einem oft kurze, rhythmisch akzentuierte Motive einer immer größeren Verdichtung zu. Dantons Kantilenen zeigen einen zuerst gelangweilten Mann, doch im Gerichtssaal verdichten sie sich zu leidenschaftlicher Rhetorik. Robespierres Fanatismus findet in einer starren, unbewegt anmutenden Deklamation sein Äquivalent. Während in den introspektiven Arien eine nach-Mahler‘sche Zärtlichkeit Raum greift, orientieren sich die Chöre mit ihren rhythmischen Deklamationen und Wiederholungen am Vorbild Orffs. Fast scheint es, dass nicht die individuellen Schicksale für Einem am wesentlichsten sind, sondern das Volk, das, aufbegehrend, wankelmütig und manipulierbar, zum Spielball der Machttaktiker wird. Wenn die Volksmassen »Carmagnole« und »Marseillaise« gegeneinander anstimmen, ist das ein Höhepunkt, wie ihn die Oper des 20. Jahrhunderts nicht oft erreicht

Und doch kommt der intensivste Moment von »Dantons Tod« erst nach der Hinrichtung des Protagonisten: Zunächst das grotesk volkstümliche Lied der Henker, gebeutelt von stotternden und pochenden Rhythmen – und dann hebt das Lied der Lucile an: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod«, untermalt von Summchor und verfremdenden Oktavenlinien, eine tränenerstickte Musik, wie sie kaum ein Komponist geschrieben hat. »Es lebe der König«, schreit Lucile, die Frau des gemeinsam mit Danton hingerichteten Camille Desmoulins, und liefert sich selbst dem Henker aus. In der ersten Fassung verzichtete Einem auf diesen Ausruf, Lucile blieb da, dem Wahnsinn nahe, allein auf der Bühne zurück. Nochmals die Akkordfolge des Anfangs. Akkordakzent. Der Kreis von Diktatur, Blut und Schrecken ist geschlossen.
 

Der Autor war Kompositionsschüler von Gottfried von Einem.

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