- Die Musik der Fremde. Komponisten im Exil
- Reclam Verlag
- 1. Auflage, 2025 (Auszug)
- S. 164-209
4 | Musik des Widerstands
Text: Michael Haas
In: Die Musik der Fremde. Komponisten im Exil, 1. Auflage, 2025 (Auszug), Reclam Verlag, S. 164-209 [Buch]
Es ist eine erstaunliche Zeit gewesen, eine widerspruchsvolle Zeit. Und ich kann mir gar nicht vorstellen etwas Schöneres. Mit all den Schrecken und auch der Kümmerlichkeit und den Schwierigkeiten, die wir hatten – es war fabelhaft. Also ich wünsche jedem jungen Künstler so was Produktives. Es wurde produziert! Wir waren nämlich sehr fleißig. […] Und unser echter Glaube, daß, was wir für den Schreibtisch schreiben, das nie Aufführbare, ganz groß einmal aufgeführt werden wird. […] Nicht den Glauben in sich, sondern den Glauben an die Nützlichkeit einer Arbeit. Wir schreiben nützliche Dinge, und deswegen machen wir es.
Hanns Eisler im Gespräch mit Hans Bunge1
Widerstand wurde bereits angesprochen, wenn auch lediglich als Trotzreaktion: Richard Fuchs und seine Weigerung, seine deutsche Identität aufzugeben, oder Hartmann und seine Weigerung, hinsichtlich der kritischen Werke, die er jenseits seines Heimatlandes aufgeführt hatte, Kompromisse einzugehen, während er gleichzeitig aktiv Aufführungen ablehnte oder sich zumindest nicht um Aufführungsmöglichkeiten in Deutschland bemühte. Die Klugen nahmen diese Aktivitäten als Ausdruck des Widerstands wahr. Sie waren damit nicht allein. Auch ihre nationalsozialistischen Oberherren witterten Widerstand.
Der deutsche Historiker Wolfgang Benz definiert »Widerstand« als einen »Oberbegriff«, der »verschiedenartige Einstellungen, Haltungen und Handlungen zusammen[fasst], die gegen den Nationalsozialismus als Ideologie und praktische Herrschaft gerichtet waren«. Und weiter führt er aus, dass es sich um »bewusste Anstrengungen zur Änderung der Verhältnisse« handeln muss.2 Das als aktiven Widerstand zu beschreiben, schmälert nicht die verdeckten Widerstandshandlungen von Musikern und Komponisten im Ghetto Theresienstadt, die sich weigerten, sich durch die Internierung ihrer Menschlichkeit berauben zu lassen. Die Beibehaltung des normalen Alltagslebens war als solche ein Akt des Zurückschlagens. Dasselbe könnte man von Komponisten sagen, die – trotz beengter Verhältnisse – nicht aufhörten zu komponieren: auf Dachböden, in Kellern, in geräumigen Schränken oder auch als »U-Boote«: So bezeichnete man Personen, die in regelmäßigen Abständen ihren Aufenthaltsort von einem Unterschlupf zum nächsten veränderten.
Musik als aktiver Widerstand ist jedoch ein Widerspruch in sich. Musik verfügt nicht über physische Kraft, sie kann lediglich inspirieren und beeinflussen. Sie gehört zu einer völlig anderen Kategorie als Partisanen, die sich im Wald verstecken, ein Scharfschütze auf einem Kirchturm oder eine selbstgebastelte Bombe. »Musik als politische Waffe« war früher einmal eine gängige Metapher. Allerdings müssen solche »Waffen«, damit sie wirksam werden können, dort eingesetzt werden, wo der Feind sich aufhält. Geheime BBC-Ausstrahlungen von Mahler und Offenbach können beispielsweise als Widerstand gegen den Feind bewertet werden. Es ist dagegen fraglich, welche Wirkung Agitprop und Kampflieder bei Kundgebungen außerhalb des besetzten Europas gehabt haben können. Sie stärkten nur das Rückgrat derjenigen, die ohnehin schon Gegner der Nationalsozialisten waren und sich weitgehend außerhalb der Gefahrenzone aufhielten.
Doch Protestmusik musste nicht unbedingt ein Kampflied sein, um politisch zu sein. Es ist überraschend, wie viele Komponisten auf Vorlagen aus der Vergangenheit zurückgriffen, um sich und andere an die Größe und Humanität der deutschen Kultur zu erinnern, einer Kultur, um die sie sich nun betrogen fühlten. Hanns Eislers Deutsche Sinfonie ist ein Werk, das an Bachs Passionen gemahnt; Paul Dessaus Deutsches Miserere nimmt eine liturgische Struktur auf, um Deutschlands äußerste Tragödie darzustellen. Ebenso verweist Hans Gáls De Profundis aus dem Jahr 1936, das auf Gedichten von Gryphius und anderer Dichter aus dem Dreißigjährigen Krieg beruht, auf die verheerenden deutschen Kriege vergangener Jahrhunderte und verwendet dafür die Form des Oratoriums. Das bemerkenswerteste und zugleich umstrittenste Werk in dieser Kategorie ist wohl Paul Hindemiths Mathis der Maler, eine Geschichte, die während des Bauernaufstands (1524–25) spielt und in der der Künstler versucht, sich sein Recht auf Kreativität selbst unter den schwierigsten politischen Umständen zu bewahren. Die Oper wurde sowohl als ein Werk des Widerstands wie als Werk der Versöhnung verstanden. Als die Nationalsozialisten alles ablehnten, was Hindemith zu bieten hatte, wurde sein Versuch, an den Adel der deutschen Vergangenheit zu erinnern, zum Fehdehandschuh, welcher der Barbarei als Herausforderung hingeworfen wurde.
Das heißt: Die große Bandbreite von Werken, die als »Widerstand« gegen Hitlers Regime gelten können, fällt in ganz unterschiedliche allgemeine Kategorien. Die erste Kategorie wäre Musik als »politische Waffe«: Agitprop und Kampflieder. Die zweite Kategorie besteht aus Werken, die – als Versuch, im allgegenwärtigen Chaos Normalität zu schaffen – in Lagern komponiert wurden. In die dritte Gruppe gehören Werke jener Komponisten, die in ihren Verstecken weiterhin Musik komponierten. Die letzte und vierte Kategorie umfasst Kompositionen, die ein besseres, edleres Deutschland evozieren als das von Hitler versprochene.
Widerstand wogegen?
Aus heutiger Sicht ist es sehr schwierig, das europäische Biotop in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Ein Weltkrieg zerstörte einen Kontinent der Imperien und Monarchien, in dem die Aristokratie nach wie vor Einfluss auf das Leben der einfachen Männer und Frauen hatte. Sogar Frankreich war von der Republik zur Monarchie und dann wieder zur Republik übergegangen, was darauf hindeutet, dass eine Republik nicht notwendigerweise die ›Standardform‹ einer Regierung ist. Lediglich die USA hatten erfolgreich das Gleichgewicht zwischen Bundesstaaten und einer zentralen, demokratisch gewählten Regierung bewahrt. Sie verfügten über eingebaute Kontrollmechanismen in ihrer Justiz, ihrer Verfassung und der Bill of Rights. Sie waren das offensichtliche Modell für die neuen Republiken, die aus dem Netzwerk aus Imperien und Monarchien in der Zeit nach 1918 hervorgingen.
Aber Europa war nicht die USA. Es war kein »neues« Land, das von Menschen bevölkert wurde, die vor Monarchien und Despotismus flohen; vielmehr lebten hier Menschen, die es geschafft hatten, sich mit solchen Regierungsformen einigermaßen abzufinden. Die Idee gewählter Staatsoberhäupter und eines uneingeschränkten Wahlrechts war für viele befremdlich, wahrscheinlich sogar für die meisten einfachen Leute, die sich nie irgendwelche anderen Möglichkeiten hatten vorstellen können, ihre Gesellschaften zu organisieren. Als Imperien und Monarchien hinweggefegt waren, wurden sie nicht automatisch durch voll funktionsfähige, demokratisch legitimierte Republiken ersetzt.
Sogar die relativ fortschrittliche Weimarer Verfassung verwandelte sich unmerklich in ein älteres, vertrauteres System. Der Reichspräsident wurde mit enormer Macht ausgestattet, fast als ginge es um einen Ersatz für den Kaiser. Als Paul von Hindenburg im Jahr 1925 zum Präsidenten von Deutschland gewählt wurde, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 1934 innehatte, war er zu einer Art Regent geworden, der bis zur Rückkehr eines Königs oder Kaisers die Macht ausübte. Ein weiteres Hindernis für die Republik war der Artikel 48, mit dem sich die Verfassung aufgrund von nur wenig mehr als einer Laune des Präsidenten außer Kraft setzen ließ. Während der 15 Jahre der Weimarer Republik wurde Artikel 48 bei zahllosen Gelegenheiten angewendet, in Fällen, die aus heutiger Sicht wie hysterische Überreaktionen wirken.
Im Lauf der folgenden beiden Jahrzehnte entwickelten sich die neu geschaffenen Demokratien in diverse totalitäre Systeme, von denen einige als progressiv galten, andere hingegen reaktionär waren. Eine Trennlinie wurde gezogen zwischen Systemen, die überzeugt waren, dass das Volk das brauchte, was ein strenger Zentralstaat leisten konnte, der nicht von Parlamenten behindert wurde, und Systemen, die sich als erste Schritte hin zu einer Wiederherstellung früherer Erbmonarchien verstanden. Im Jahr 1938 war von all den nach dem Zerfall der europäischen Reiche neu entstandenen Nationalstaaten nur noch die Tschechoslowakei eine Demokratie. Auch sie fiel nach dem Münchner Abkommen von 1938, welches im März 1939 zur Folge hatte, dass Hitler Böhmen und Mähren als deutsches »Protektorat« ausrief.
Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus waren drei Systeme, die sich als progressiv verstanden, indem sie einen starken kollektivistischen Staat boten, der sich für den gemeinen Bürger einsetzte: Straßen, Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut; Züge fuhren pünktlich; die Großindustrie wurde verstaatlicht und die Landwirtschaft kollektiviert. Diese drei Systeme prägten die Staaten in der Sowjetunion, in NS-Deutschland und im faschistischen Italien. Von außen betrachtet schien es nur wenige Unterschiede zwischen ihnen zu geben. Diese offensichtlichen Ähnlichkeiten ermöglichten es ihnen, zu verschiedenen Zeitpunkten während der 1930er und 1940er Jahre Verträge und Bündnisse miteinander zu schließen. Zu anderen Zeiten ließen die Unterschiede zwischen ihnen tödliche Feindschaften entstehen. In anderen europäischen Staaten wie Polen, Österreich, Spanien, Portugal, Ungarn, den baltischen Republiken und Rumänien übernahmen Regenten, militärische und/oder klerikale Diktaturen die Macht. Diese erklärten ihre Absicht, früher abgesetzte Monarchien wiederherzustellen, wenn die Zeit reif war. Die Diktatoren verstanden sich als Übergangslösung, die nur Bestand hatte, bis Könige, Kaiser oder andere absolute Herrscher zurückkommen konnten. Alle Staaten, ob reaktiv oder kollektivistisch, waren autoritär, sie arbeiteten mit Entmündigung und Beschlagnahmungen, mit Spitzeln, Spionen und Geheimpolizei; in allen Staaten gab es große Gefängnisse, die voll besetzt waren, und die Rechte von Individuen wurden unterdrückt.
Die stets sich verändernde Natur von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus kann man anhand ihrer sich wandelnden Allianzen beobachten. 1933 war der Kommunismus der größte Feind des Nationalsozialismus; 1939 hingegen unterzeichnete Hitler einen Pakt mit Stalin und begann den Zweiten Weltkrieg. Der italienische Faschismus wiederum hatte als sozialistische Bewegung begonnen, bevor er später militant nationalistisch wurde. 1934 zwang Italien Hitler, seinen Putschversuch in Österreich aufzugeben. 1938 waren dann der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus zu Verbündeten geworden, und die Eingliederung Österreichs in jenem Jahr vollzog sich ohne italienische Einmischung. Die Bemühungen von General Franco, die demokratisch gewählte Regierung der spanischen Republik zu stürzen, waren von Grund auf reaktionär und zielten auf die Wiederherstellung der Autorität eines Monarchen und der katholischen Kirche. Dennoch wurde Franco sowohl vom faschistischen Italien als auch von NS-Deutschland unterstützt, wohingegen die Kommunisten Spaltungen und innerparteiliche Konflikte innerhalb der Franco-kritischen Kräfte anzettelten.
Ein autoritärer Nationalismus war all diesen totalitären Systemen gemeinsam, und es gab beträchtliche Über-Kreuz-Verbindungen. Der Nationalsozialismus und der italienische Faschismus verbündeten sich bald mit privaten Industriellen und dem Großkapital – ein Merkmal reaktionärer Systeme, denen es um die Wiederherstellung der Privilegien der Aristokratie geht. Aus diesem Grund scheint es in der Rückschau nur wenig Unterschiede zwischen diesen autoritären Regierungsformen zu geben; damals empfand man jedoch große, ja sogar tödliche Unterschiede. Daher war ein Kampflied im spanischen Bürgerkrieg als Widerstandslied in NS-Deutschland oder im besetzten Frankreich verwendbar.
Das United States Holocaust Museum in Washington, DC, führt unterschiedliche Typen von Widerstandsliedern an. Zu diesen Typen gehören unter anderem Lieder aus Konzentrationslagern, Lieder aus dem Ghetto, die Musik von Theresienstadt, Protestmusik und Partisanenlieder. Außerdem gehören Stücke dazu, die von Untergetauchten geschrieben wurden. Das Spektrum ist breit gefächert, doch es lohnt sich, einige dieser Besonderheiten herauszugreifen, angefangen bei KZ-Liedern, die dialektisch in Widerstandslieder verwandelt wurden.
Die Lager
Über Musik in Konzentrationslagern und Ghettos im von den Nationalsozialisten besetzten Polen, wo es eine Fülle jiddischer und polnischer Kampf- und Widerstandslieder gab, liegt bereits umfangreiche Literatur vor. Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die Idee von Widerstand. Diese kristallisiert sich aus dem breiten Umfeld des musikalischen Lebens in den Lagern heraus, zu dem Orchester, Chöre und Ensembles gehörten, mit beträchtlichen Unterschieden zwischen den einzelnen Lagern. Ghettos und Konzentrationslager waren nicht dasselbe, kein Lager glich dem anderen; auch gab es keine zwei Ghettos, die sich ähnlich gewesen wären. Der überwiegende Teil der Kampf- und Widerstandsmusik aus Ghettos und Lagern entstand spontan und basierte auf bekannten Volksmelodien, Liedern aus Filmen oder lokalen Schlagern. Meistens wurden sie von Amateuren erdacht und gesungen. Alle waren sie gültige Ausdrucksformen des Widerstands. Aus Gründen des Umfangs beschränkt sich der folgende Abschnitt auf Musik, die von professionellen Musikern und Komponisten in der Sprache der Unterdrücker, also auf Deutsch, geschrieben wurden.
Die erste nationalsozialistische Erwähnung eines Konzentrationslagers findet sich bereits im Jahr 1921 im NS-Propagandablatt Völkischer Beobachter: »Man verhindere die jüdische Unterhöhlung unseres Volkes, wenn notwendig, durch die Sicherung ihrer Erreger in Konzentrationslagern.«3 Damals galt ein Konzentrationslager als ein Mittel, unerwünschte Elemente aus der allgemeinen Gesellschaft auszusondern. Die Vorstellung, dass daraus Todeslager werden könnten, entwickelte sich erst später, offiziell dann nach der Wannseekonferenz im Januar 1942. Letztlich gab es 15 unterschiedliche Lagertypen, angefangen bei Umerziehungslagern über Arbeitslager bis hin zu Todeslagern und Ghettos. Das führte dazu, dass in unterschiedlichen Lagern unterschiedliche Menschen untergebracht waren, aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Sprachen. Singen wurde für die Häftlinge zu einem Mittel, ihr Aufbegehren zum Ausdruck zu bringen; vonseiten der Lagerleitung und des Personals wurde es andererseits, etwa beim Appell oder bei Zwangsmärschen, zu einem Mittel der Repression gemacht. Bei den meisten Liedern handelte es sich um Gebrauchsmusik für einen ganz bestimmten Zweck; häufig waren es die Melodien von bekannten, beliebten Liedern mit veränderten Texten. Am zweckbezogensten von allen war wohl die Lagerhymne.
Das früheste dieser Lieder, das als Modell für spätere diente, war das »Moorsoldatenlied«. Es handelt von Gefangenen, die zum Torfstechen abkommandiert sind. Sie marschieren mit ihren Schaufeln, die sie wie Gewehre halten, was ihnen das Aussehen von Soldaten gibt. Zwei der berühmtesten späteren Lieder waren das »Dachaulied« und das »Buchenwaldlied«. Das »Moorsoldatenlied« entstand im Konzentrationslager Borgermoor an der holländischen Grenze zu einem Text des Dichters Johann Esser und des Schauspielers Wolfgang Langhoff, zu einer von Rudi (Rudolf) Goguel komponierten Melodie. Das »Moorsoldatenlied« ist rund fünf Jahre älter als die anderen Lieder, und seine rasche Verbreitung über Borgermoor hinaus auf andere Lager, auch Konzentrations-, Straf- und Internierungslager, bildete eine Vorlage, die im »Dachau-« und im »Buchenwaldlied« anklingt. Goguel, der die Melodie komponierte, war ein politischer Aktivist, kein Musiker. Im Unterschied zu den Komponisten und Textdichtern des »Dachau-« und des »Buchenwaldliedes« war keiner der Autoren des »Moorsoldatenliedes« ein Jude. Esser schrieb später, nach seiner Entlassung, sogar rühmende Verse auf Hitler und das Dritte Reich, wobei das wohl aus der Angst heraus geschah, erneut als Dissident verhaftet zu werden. Das frühe Kompositionsdatum und die Tatsache, dass die Verfasser des Moorsoldatenliedes politische und keine »rassischen« Häftlinge waren, katapultierten das Lied ganz direkt in das Reich der Agitprop; später wurde es paradigmatisch für sämtliche Hymnen, die von NS-Lagerleitern in Auftrag gegeben wurden – und die von den aufrührerischen Gefangenen, die gezwungen waren, sie zu singen, unweigerlich in Kampflieder umgedeutet wurden. Später wurde das »Moorsoldatenlied« von Hanns Eisler aufgegriffen sowie von Ernst Busch gesungen und aufgenommen, einem Sänger politischer Lieder, der unter dem Namen »Der Tauber der Barrikaden« bekannt wurde, ein Name, der auf den Ruhm des berühmten Opernsängers Richard Tauber anspielte. Obwohl sich der Text auf eine bestimmte Arbeit und einen bestimmten Ort bezieht, an dem die Häftlinge schuften mussten, wurde die Botschaft als so weitreichend erachtet, dass Busch sie bei einer antifaschistischen Veranstaltung während des spanischen Bürgerkrieges vortragen konnte:
Wohin auch das Auge blicket,
Moor und Heide nur ringsum.
Vogelsang uns nicht erquicket,
Eichen stehen kahl und krumm.
Refrain:
Wir sind die Moorsoldaten
und ziehen mit dem Spaten
ins Moor!
Hier in dieser öden Heide
ist das Lager aufgebaut,
wo wir fern von jeder Freude
hinter Stacheldraht verstaut.
Refrain: Wir sind die Moorsoldaten …
Morgens ziehen die Kolonnen
in das Moor zur Arbeit hin.
Graben bei dem Brand der Sonne,
doch zur Heimat steht der Sinn.
Refrain: Wir sind die Moorsoldaten …
Heimwärts, heimwärts jeder sehnet,
zu den Eltern, Weib und Kind.
Manche Brust ein Seufzer dehnet,
weil wir hier gefangen sind.
Refrain: Wir sind die Moorsoldaten …
Auf und nieder gehn die Posten,
keiner, keiner kann hindurch.
Flucht wird nur das Leben kosten,
vierfach ist umzäunt die Burg.
Refrain: Wir sind die Moorsoldaten …
Doch für uns gibt es kein Klagen,
ewig kann’s nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
Heimat, du bist wieder mein.
Dann zieh’n die Moorsoldaten
nicht mehr mit dem Spaten
ins Moor!
Seine spätere Popularität und seine Bedeutung als Hymne des kämpfenden Proletariats verdankt das Lied seinem Texter Wolfgang Langhoff zufolge dem Umstand, dass vor seiner ersten Aufführung im August 1933 massenhaft Kopien davon herausgeschmuggelt wurden. Die weite Verbreitung führte sogar zur Entstehung einer Mini-Gattung von Moorsoldatenliedern – einige hielten sich eng an das Original, andere wichen weiter davon ab.
Eine der Abweichungen vom Original war die spätere Bearbeitung durch Hanns Eisler. Busch erzählte, er habe das Werk zuerst gehört, als er im Januar 1935 in London Tonaufnahmen machte. Es wurde von jemandem gesungen, den sie für einen Gefangenen hielten. Tatsächlich war der Sänger ein verdeckter deutscher Informant, der sich an die Melodie nicht erinnern konnte und sie bei jeder Wiederholung veränderte. Eisler bearbeitete das Lied so, wie er annahm, dass es komponiert worden war; später komponierte er das ganze Lied noch einmal neu und behielt nur wenige Elemente des vermeintlichen Originals bei.
Das »Dachaulied« wurde von dem Österreicher Herbert Zipper (1904–1997) komponiert, mit einem Text von Jura Soyfer (1912–1939), einem russischen Flüchtling, der als Kind nach Wien gekommen war. Sowohl Zipper als auch Soyfer waren Juden, wobei Soyfer seit seiner Schulzeit ein marxistischer Aktivist war; er war bereits als provokanter Autor politischer Kabaretttexte bekannt. Er wurde von der österreichisch-faschistischen Schuschnigg-Regierung im Jahr 1937 verhaftet, allerdings nach einer Generalamnestie nur einen Monat vor Hitlers Annexion Österreichs freigelassen, die ihrerseits zur Folge hatte, dass sowohl Soyfer als auch Zipper als Juden festgenommen wurden. Sie wurden beide nach Dachau deportiert, wo sie ein Lied nach der Vorlage der »Moorsoldaten« schufen: ein Lied, das von den Häftlingen während des Arbeitsdienstes gesungen werden sollte. Der Text ist deutlich trotziger als der subtiler formulierte Text der »Moorsoldaten«. Trotz des offensichtlich sarkastischen Bezugs auf die Losung am Eingang des Konzentrationslagers Arbeit macht frei im oft wiederholten Refrain wurde es nicht nur von den Arbeitsmannschaften, sondern auch von den Wachen gesungen, die in den schmissigen Refrain mit einstimmten. In Dachau mussten die Häftlinge Waggonladungen mit schweren Steinen ziehen:
Stacheldraht, mit Tod geladen,
ist um uns’re Welt gespannt.
D’rauf ein Himmel ohne Gnaden
sendet Frost und Sonnenbrand.
Fern von uns sind alle Freuden,
fern die Heimat, fern die Frau’n,
wenn wir stumm zur Arbeit schreiten,
Tausende im Morgengrau’n.
Refrain: Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt
und wurden stahlhart dabei.
Sei ein Mann, Kamerad. Bleib ein Mensch, Kamerad.
Mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad.
Denn Arbeit, Arbeit macht frei.
Sowohl Zipper als auch Soyfer erhielten Entlassungs- und Auswanderungspapiere aus Buchenwald, wohin sie im Herbst 1938 verlegt worden waren. Tragischerweise starb Soyfer im Februar 1939 im Alter von 26 Jahren noch in Buchenwald an Typhus. Zipper emigrierte zuerst nach Guatemala, dann auf die Philippinen. Die letzten drei Verse sind ein Beleg für Soyfers überragende Begabung als politischer Kabarettist, sie sind konfrontativer, wohingegen sich die allgemeine Struktur mit der Darstellung von Arbeit und Leben eher an das Vorbild des »Moorsoldatenliedes« anlehnt. Abgesehen von Zippers eingängigem Refrain waren die sonstigen Verse absichtlich so angelegt, dass sie schwer zu lernen waren. Zipper und Soyfer hielten das für ein Mittel, die Gefängnisarbeiter geistig beschäftigt zu halten. Solche pädagogischen Ideen waren typisch für Zipper, der den größten Teil seines Lebens nach dem Krieg der musikalischen Ausbildung junger Menschen widmete.
Das »Buchenwaldlied« stammt von Hermann Leopoldi (1888–1959), Österreichs berühmtestem Komponisten von Kabarettliedern. Der Text wurde von Fritz Löhner-Beda (1883-1942) verfasst, einem der Librettisten von Franz Lehár (Das Land des Lächelns und Giuditta), der außerdem Paul Abrahams populäre Operetten-Hits Viktoria und ihr Husar, Ball im Savoy, Die Blume von Hawaii und Joseph Beers Polnische Hochzeit verfasst hatte. Mit Ausnahme von Beers Operette, die erst mit der Ankunft Hitlers populär wurde, waren Löhner-Bedas Operetten damals riesige Publikumserfolge. Sein Name war in aller Munde, wahrscheinlich war er der populärste Lyriker seiner Generation. Nach seiner Festnahme infolge der Annexion Österreichs wurde er am 1. April 1938 nach Dachau deportiert, im September dann nach Buchenwald. 1942 wurde er nach Auschwitz geschickt und dort als Zwangsarbeiter in der IG-Farben-Fabrik eingesetzt, wo er von den Schergen der Fabrikdirektoren ermordet wurde:
Wenn der Tag erwacht, eh’ die Sonne lacht,
die Kolonnen ziehn zu des Tages Mühn
hinein in den grauenden Morgen.
Und der Wald ist schwarz und der Himmel rot,
und wir tragen im Brotsack ein Stückchen Brot
und im Herzen, im Herzen die Sorgen.
Refrain: O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,
weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann es erst ermessen,
wie wundervoll die Freiheit ist!
O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unsre Zukunft sei –
wir wollen trotzdem »Ja« zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag,
dann sind wir frei!
Und das Blut ist heiß und das Mädel fern,
und der Wind singt leis, und ich hab’ sie so gern,
wenn treu sie, ja, treu sie nur bliebe!
Und die Steine sind hart, aber fest unser Tritt,
und wir tragen die Picken und Spaten mit
und im Herzen, im Herzen die Liebe.
Refrain: O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen …
Und die Nacht ist kurz, und der Tag ist so lang,
doch ein Lied erklingt, das die Heimat sang:
wir lassen den Mut uns nicht rauben.
Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut,
denn wir tragen den Willen zum Leben im Blut
und im Herzen, im Herzen den Glauben.
Refrain: O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen …
Leopoldi war ein Komponist von Schlagern, Kabarettnummern und Chansons, die so bekannt und beliebt waren, dass es nahezu unmöglich ist, seine Bekanntheit in der deutschsprachigen Welt zu überschätzen. Das »Buchenwaldlied« ist in seiner Trotzhaltung dezenter, es bringt stattdessen eine Sehnsucht nach Heimat und Familie zum Ausdruck, ein damals für Operette und Schlager typisches Thema, das auch der Vorstellung einer »Hymne« für das Lager entspricht. Die Umwidmung ist eine offensichtliche Aufforderung, stark zu bleiben und zu überleben. Dabei sind das »Buchenwaldlied« und das »Dachaulied« ebenso wie das »Moorsoldatenlied« Marschgesänge, die markant den Eindruck eines Durchhaltens mit zusammengebissenen Zähnen vermitteln.
Alle Lieder wurden öffentlich gesungen, sogar die Wachen sangen mit, entweder sie konnten oder wollten die verschlüsselten Anspielungen nicht verstehen. Diese waren tatsächlich häufig so verklausuliert, dass sie erst nach dem Krieg entziffert wurden. Allerdings blieben die letzten Verse des »Moorsoldatenliedes« mit ihren Worten »ewig kann’s nicht Winter sein« gerade zweideutig genug, um einen möglichen Verdacht auf aktiven Widerstand zu entkräften.
Auch in vielen anderen Lagern gab es ›Hymnen‹, einige von ihnen geheim, andere offiziell. Viele von den frühesten, etwa diejenigen für die Lager in Lichtenburg und Esterwegen, waren lediglich Abwandlungen von bekannten Soldatenliedern – in diesem Fall »Ich bin ein Bub vom Elstertal«. Andere waren von Volksliedern oder aus der Agitprop übernommen. Noch überzeugender waren die ›offiziellen‹ Hymnen, die von Lagerkommandanten in Auftrag gegeben wurden. Das oben angeführte »Buchenwaldlied« etwa wurde im Auftrag des Lagerleiters Arthur Rödl von Hermann Leopoldi komponiert. Seine Herkunft als offizieller Auftrag erklärt seine Qualitäten als populäres Lied oder Operettenmelodie. Gegenstücke zum Buchenwaldlied wurden sowohl in Wewelsburg als auch in Treblinka gesungen. Diese ›Hymnen‹ wurden beim Appell und beim Marschieren gesungen, und selbst wenn sie auf einen Auftrag der Lagerleitung zurückgingen, nahmen die Häftlinge sie schnell selbst in Besitz, indem sie Melodien oder Wörter veränderten, wenn sie von einem Lager in ein anderes gebracht wurden.
Das »Dachaulied« hingegen war mit seiner Anspielung auf das Schlagwort Arbeit macht frei offen subversiv. Ein weiteres unverhohlenes Widerstandslied war das »Auschwitzlied«, das auf einem populären Lied von Friedrich Fischer-Friesenhausen aus dem Jahr 1922 mit dem Titel »Wo die Nordseewellen« basiert; der Text stammt von Camille Spielbichler, Camilla Mohaupt und Margot Bachner:
Zwischen Weichsel und der Sola schön verstaut
Zwischen Sümpfen, Postenketten, Drahtverhau
Liegt das Kl-Auschwitz, das verfluchte Nest,
das der Häftling hasset, wie die böse Pest.
Wo Malaria, Typhus und auch andres ist,
wo dir große Seelennot am Herzen frisst,
wo so viele Tausend hier gefangen sind
fern von ihrer Heimat, fern von Weib und Kind.
Häuserreihen steh’n gebaut von Häftlingshand,
bei Sturm und Regen musst du tragen Ziegeln, Sand,
Block um Block entsteh’n für viele tausend Mann,
Alles ist für diese, die noch kommen dran.
Außer Flöhen, Läusen plaget Fieber dich,
viele Tausend mussten sterben kümmerlich,
ja du wirst gequälet hier bei Tag und Nacht
und bei jedem Schritt ein Posten dich bewacht.
Traurig siehst Kolonnen du vorüberzieh’n,
Vater, Bruder kannst du oft dazwischen seh’n,
darfst sie nicht mal grüßen, es brächte dir den Tod,
vergrößerst unwillkürlich dadurch nur ihre Not.
Traurig zieh’n die Reihen nun an dir vorbei,
schallend hörst Befehle du, wie »Links, zwei, drei!«
Hier etwas zu sagen hast du gar kein Recht,
Wenn dein Mund auch gern um Hilfe schreien möcht’.
Vater, Mutter! Ob ihr noch zuhause seid?
Niemand weiß von uns’rem großen Herzeleid,
träumen darfst du hier nur von dem Elternhaus,
aus dem das Schicksal jagte so schnöde dich hinaus.
Sollte ich dich Heimat nicht mehr wiederseh’n
und wie viele andere durch den Schornstein geh’n,
seid gegrüßt ihr Lieben am unbekannten Ort,
gedenket manchmal meiner, der ich musste fort.
Es gab auch ein »Ravensbrücklied«, basierend auf einem russischen Volkslied, mit Versen von sowjetischen Häftlingen. Offenkundig werden bei der Beschäftigung mit diesen Liedern ihr unbeschwerter musikalischer Charakter und ihre Amateurhaftigkeit. Wie bei vielen damals gängigen Kabarettnummern wurden politische Texte zu bekannten Melodien aus Film oder Operette vertont, wodurch man sich die Mühe ersparte, eine neue Melodie zu lernen oder zu komponieren. Zipper und Soyfer hatten gezeigt, dass die Schaffung einer neuen Melodie, die regelmäßig durch einen einprägsamen Refrain unterbrochen wird, eine Möglichkeit sein konnte, die Gefangenen aufzurütteln und sie aus ihrem drögen Arbeitsalltag herauszuholen.
Theresienstadt
Kunst ist ein Stück Lebensgestaltung in dem Sinne, als sie wesentlich dazu beiträgt, die menschliche Persönlichkeit zu formen im Geiste humanistischer Ideale – ein Element der Lebensgestaltung, der Lebensförderung, der Lebensbestätigung im Dienste der Humanität … Kunst war Widerstand im tiefsten Sinne dieses Wortes, sie war Widerstand gegen den Untergang in die Barbarei.4
Diese Worte äußerte Wilhelm Girnus zu Beginn einer Konferenz im Jahr 1979 über die Rolle der Kunst im Konzentrationslager. Musik hatte auch den Zweck, die Häftlinge aus ihrem Alltag herauszuholen. Das wurde immer wieder konstatiert, sei es bei der Lektüre von Berichten einzelner Mitglieder von Lagerorchestern oder bei der Lektüre der Memoiren des österreichischen Komponisten Hans Gál und seinen Erfahrungen als »feindlicher Ausländer« in einem britischen Internierungslager im Jahr 1940. Seine Huyton Suite für Flöte und zwei Violinen war insofern Gebrauchsmusik, als er diese drei Instrumente sowie fähige Spieler zur Verfügung hatte, und das Werk steht auch in einem gewissen Kontrast zu seinen dunkleren Werken, die in diesen Kriegsjahren entstanden. Die Huyton Suite ist leicht und voller überraschender Einfälle, sie mokiert sich sogar über das Elend des Morgenappells. Wenn man Gáls Erinnerungen liest, dann wird man daran erinnert, dass Internierung entmenschlichend wirkte, ganz gleich, von wem sie ausging.5
Das musikalische Leben in Theresienstadt (Terezín) ist gut dokumentiert, und es kommt immer wieder neues Material ans Licht.6 Wir kommen später noch einmal auf die Vorstellung einer »jüdischen Identität« der Insassen zurück, die als »nicht arisch« verurteilt wurden, obwohl sie praktizierende Christen waren. Interessant sind die Konzerte in Theresienstadt, bei denen Werke, die im Prinzip verboten waren, aufgeführt wurden, und natürlich der Propagandawert von Musik, der von den Nationalsozialisten als Teil der »Potemkin’sches Dorf«-Show für das Rote Kreuz und des begleitenden Propagandafilms Der Führer schenkt den Juden eine Stadt ausgenutzt wurde.
Theresienstadt war die vorletzte Station einer Generation tschechischer Komponisten, deren Inspiration mehr von Janáček und wohl auch von Bartók und nicht so sehr von Hindemith oder Schönberg ausging. Sie bildeten eine Generation, die sich von den österreichisch-deutschen Traditionen tschechischer Komponisten wie Smetana, Dvořák und Josef Suk abwandte, einer Generation, die zuversichtlich Janáček’sche Polyrhythmen und gebrochenen Lyrizismus mit französischem Neo-Klassizismus und Bartók’scher Dissonanz zu verbinden suchte. Die einzigen Überlebenden dieser Generation waren wohl Bohuslav Martinů und Hans Winterberg.
Allerdings hatte es mit der tschechischen Identität mehr auf sich als nur den zerklüfteten Lyrizismus Janáčeks. Wie in der damaligen Literatur gab es einen Hang zum Surrealismus und zum Phantasmagorischen. Der magische Realismus der 1920 gegründeten Künstlervereinigung Devětsil bildete einen unverkennbar tschechischen Ton heraus, der einen Gegensatz bildete zur zeitgleichen Neuen Sachlichkeit von Weimar-Deutschland, wo Musik, Bildende Kunst und Architektur auf Nützlichkeiten reduziert wurden. Das Opernschaffen einer von Devětsil beeinflussten Generation tschechischer Komponisten erzählt seine eigene Geschichte: Erwin Schulhoffs dadaistische Adaption Flammen, eine dadaistische Fassung von Don Juan; die Oper Der Scharlatan von Pavel Haas; Hans Krásas Verlobung im Traum; Martinůs Julietta; und Viktor Ullmanns Der Sturz des Antichrist. Man könnte geradezu – im Gegensatz zur deutschen Neuen Sachlichkeit – von einer »Neuen Subjektivität« in der tschechischen Ästhetik sprechen.
Hans Krásas Oper Brundibár ist eine Kinderoper. Musikalisch ist sie kaum repräsentativ für Krásas Bedeutung als Komponist, und die Popularität des Werks hat sein bedeutenderes Schaffen in den Schatten gestellt. Die von der Oper vermittelte Botschaft von Freundschaft und Solidarität, die über grausamen Geiz siegt, findet jedoch nach wie vor Anklang. Ursprünglich wurde das Werk im Jahr 1938 von Krása und seinem Librettisten Adolf Hoffmeister als Beitrag für einen staatlichen Wettbewerb verfasst. Nachdem die Nationalsozialisten Böhmen und Mähren im März 1939 zum »Protektorat« erklärt hatten, fand die Aufführung der Oper im Jahr 1941 in Prags jüdischem Waisenhaus statt. Nach der Verlegung der Kinder und der Belegschaft nach Theresienstadt gelang es Krása, eine neue Version zusammenzustückeln, die er auf der Grundlage seines Klavierauszugs und unter Einsatz der verfügbaren Instrumente neu orchestrierte. Die Handlung der Oper ist schlicht: Brundibár ist ein böser Leierkastenmann, der Kinder wegjagt, die versuchen, Geld zu verdienen, indem sie auf seinem Platz singen. Die Kinder müssen für ihre kranke Mutter Milch kaufen und appellieren schließlich an die Tierwelt und einen allgemeinen Gerechtigkeitssinn, um den bösen Leierkastenmann zu besiegen. Ob es beabsichtigt war, Brundibár als Symbol für Hitler zu verwenden, ist nicht rekonstruierbar, doch die damaligen Umstände legten den Bewohnern des Ghettos den Vergleich nahe. Die Kinder, die Brundibár im Namen natürlicher Gerechtigkeit überlisten, vermittelten einen trotzigen Symbolismus, der von der NS-Kommandantur des Ghettos nicht erkannt wurde. Joža Karas erwähnt in seinem Buch Music in Terezín 1941–1945, dass der Autor Emil Saudek eine Zeile der Oper in einen offenen Akt des Widerstands verwandelte, indem er das harmlose »wer Mutter und Vater und die Heimat liebt, ist unser Freund« verändert zu: »wer Gerechtigkeit liebt und sich an sie hält, und wer keine Angst hat, ist unser Freund«.7
Für die Kinder, die das Werk aufführten, war es ein Weg zurück in eine Kindheit, die ihnen genommen worden war. Anna Flachová, eine Überlebende, die in der Produktion mitsang, beschrieb das folgendermaßen:
Wir haben die Oper geliebt […] unsere Kindheit war uns geraubt worden. Wir mussten schnell ein bisschen reifer werden […] Und wir haben das Kindsein vermisst. In dieser Oper konnten wir singen und Kindsein spielen. Wir haben uns damals befreit gefühlt. In der Wirklichkeit konnten wir doch gar nicht kämpfen gegen die Ungerechtigkeit. Aber in der Oper konnten wir kämpfen und den ungerechten Brundibar, der uns das Geld gestohlen hat, bestrafen. Das hat uns Hoffnung gegeben.8
Brundibár ist deshalb wichtig, weil es in Theresienstadt tatsächlich aufgeführt wurde, was bei Viktor Ullmanns viel tiefgründigerer Kabarett-Operette Der Kaiser von Atlantis nicht der Fall war. Für Ullmann war das Leben eine Mission, und jedes Element sollte als Teil eines individuellen Weges verstanden werden. Sein Manifest Goethe und Ghetto war ein Schrei des passiven Widerstands, der Trotz durch Akzeptanz ausdrückte:
Bedeutende Vorbilder prägen den folgenden Generationen ihren »Habitus«, ihren Lebensduktus auf. So scheint es mir, dass die Haltung der gebildeten Europäer seit 150 Jahren von Goethe bestimmt wird in allem, was Sprache, Weltanschauung, Verhältnis des Menschen zum Leben und zur Kunst, zu Arbeit und Genuss ist. Ein Symptom dafür ist, dass sich jeder gerne auf Goethe beruft, sei die dialektische Ideologie noch so verschieden. (Der zweite grosse Einfluss, gewissermaßen die Antithese, die Gegenströmung, kommt von Darwin und Nietzsche.)
So schien mir Goethes Maxime: »Lebe im Augenblick, lebe in der Ewigkeit« immer den rätselhaften Sinn der Kunst ganz zu enthüllen. Malerei entreißt, wie im Stilleben, das ephemere, vergängliche Ding oder die rasch welkende Blume, so auch Landschaft, Menschenantlitz und Gestalt oder den bedeutenden geschichtlichen Augenblick der Vergänglichkeit. Musik vollzieht dasselbe für alles Seelische, für die Gefühle und Leidenschaften des Menschen, für die »libido« im weitesten Sinne, für Eros und Thanatos. Von hier aus wird die »Form«, wie sie Goethe und Schiller verstehen, zur Überwinderin des »Stoffes«.
Theresienstadt war und ist für mich Schule der Form. Früher, wo man Wucht und Last des stofflichen Lebens nicht fühlte, weil der Komfort, diese Magie der Zivilisation, sie verdrängte, war es leicht, die schöne Form zu schaffen. Hier, wo man auch im täglichen Leben den Stoff durch die Form zu überwinden hat, wo alles Musische in vollem Gegensatz zur Umwelt steht: Hier ist die wahre Meisterschule, wenn man mit Schiller das Geheimnis des Kunstwerks darin sieht: den Stoff durch die Form zu vertilgen, was ja vermutlich die Mission des Menschen überhaupt ist, nicht nur des aesthetischen, sondern auch des ethischen Menschen.
Ich habe in Theresienstadt ziemlich viel neue Musik geschrieben, meist um den Bedürfnissen und Wünschen von Dirigenten, Regisseuren, Pianisten, Sängern und damit den Bedürfnissen der Freizeitgestaltung des Ghettos zu genügen. Sie aufzuzählen scheint mir ebenso müssig wie etwa zu betonen, dass man in Theresienstadt nicht Klavier spielen konnte, solange es keine Instrumente gab. Auch der empfindliche Mangel an Notenpapier dürfte für kommende Geschlechter uninteressant sein. Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloss klagend an Babylons Flüssen sassen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war; und ich bin überzeugt davon, dass alle, die bestrebt waren, in Leben und Kunst die Form dem widerstrebenden Stoffe abzuringen, mir Recht geben werden.9
Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung war der endgültige Titel; der ursprüngliche Untertitel lautete Der Tod dankt ab. Es ist nicht rekonstruierbar, wann Viktor Ullmann und Peter Kien (1919–1944)10 mit der Arbeit an Der Kaiser von Atlantis begannen oder wie das Konzept entstanden ist. Dass der Kaiser von Atlantis, genannt Kaiser Overall, in erster Linie ein Abbild Hitlers ist, dürfte selbst dem Dümmsten klar gewesen sein. Aber sowohl Ullmann als auch Kien waren sich trotz ihres Altersunterschieds der Tatsache bewusst, dass Hitler nur der Letzte in einer Reihe todbringender Machthaber war, die über weite Teile Europas herrschten. Kaiser Overall ist wohl eine Mischung aus Hitler und einem Schuss des preußischen Kaisers Wilhelm. An einer Stelle im Werk wird die vollständige Liste der Titel von Overall verkündet, von denen sich viele auf die Eroberungen Hitlers beziehen; und es werden weitere historische Titel hinzugefügt, die mit denen des Hauses Habsburg übereinstimmen. Dabei verortet das Konzept von »Atlantis« die Erzählung der Oper stärker in der Ideologie der NSDAP und ihrer Vorstellung von einer überlegenen arischen Rasse, die sich aus mythologischen Assoziationen mit der verlorenen Stadt Atlantis ableitet.
Der Kaiser von Atlantis lässt sich nicht eindeutig als Kabarett, Revue oder Operette klassifizieren; das Werk vereint Elemente aus allen diesen Gattungen. Möglicherweise wird die Bezeichnung »Kabarett-Operette« ihm am ehesten gerecht; sie stellt es in eine Reihe mit anderen schwer zu definierenden Genres wie Kurt Weills Mahagonny-Songspiel oder Stefan Wolpes Zeus und Elida. Mit seiner phantasmagorischen, allegorischen Behandlung des Materials und seiner dadaistischen Stilmischung steht es der dominierenden Devětsil-Ästhetik Prags und dem neoklassizistischen Paris näher als der Berliner Neuen Sachlichkeit oder dem Schönberg’schen Wien. Gleichzeitig bedient es sich des Brecht’schen Konzepts der Verfremdung, indem es die Schauspieler von ihren Figuren trennt und so in den Köpfen der Zuschauer einen parallelen Kommentar entstehen lässt. Die Figur des Lautsprechers ist geradezu eine Verkörperung der Idee der Verfremdung an sich.
Das Werk kann mit einem Minimum von fünf Darstellern aufgeführt werden, die jeweils zwei Rollen übernehmen; in Theresienstadt arbeitete Ullmann mit sechs Schauspielern. Warum er das englische »Overall« als Namen für den Kaiser wählte, weiß man nicht – wahrscheinlich kam es dazu auf ähnliche Weise wie bei Brecht, der mit nur rudimentären Englischkenntnissen versuchte, dem Publikum vor Ort ein Gefühl von Exotik zu vermitteln. »Overall« als Bezeichnung für ein Kleidungsstück kannte Ullmann sicher nicht.
Die Rollen von Der Kaiser von Atlantis und ihre Auftritte, Stimmlagen und Originalbesetzung in Theresienstadt:11
Rolle | Auftritte | Stimmlage | Besetzung in Theresienstadt |
Kaiser Overall | Szenen 2 und 4 | Bariton | Walter Windholz |
Der Tod | Szenen 1 und 4 | Bass | Karel Berman |
Harlekin | Szenen 1 und 4 | Tenor | David Grünfeld |
Der Lautsprecher | Prolog, Szenen 2 und 4 | Bass | Bedřich Borges |
Ein Soldat | Szene 3 | Tenor | David Grünfeld |
Bubikopf – ein Soldat | Szene 3 | Sopran | Marion Podolier |
Der Trommler | Szenen 1, 3 und 4 | Alt/Mezzosopran | Hilde Lindt-Aronson |
Lautsprecher kündigt das Werk und die Protagonisten an: »Kaiser Overall hat man schon seit Jahren nicht mehr gesehen, denn er ist in seinem Riesenpalast eingeschlossen, ganz allein, um besser regieren zu können.« Der Trommler ist »eine nicht ganz wirkliche Erscheinung, wie das Radio«, wird jedoch als Repräsentant des Krieges oder als die Stimme von Kaiser Overall verstanden. Der Lautsprecher wird »gehört, aber nicht gesehen«. Ein junger Soldat und ein junges Mädchen, das auch Soldat ist, stehen für die Liebe; der Tod wird als »abgedankter Soldat in der zerschlissenen Uniform eines habsburgischen Regiments« dargestellt; der Harlekin versteht sich als sein Gegenstück: das Leben. In früheren Fassungen der Oper heißt Harlekin »Pierrot«, eine Figur, die man bereits aus Schönbergs Pierrot Lunaire, Korngolds Die tote Stadt und dem Ballett Der letzte Pierrot von Karol Rathaus kannte. Im Kaiser von Atlantis ist der einst junge und naive Pierrot zu einem zynischen Harlekin gealtert, der bei seinem ersten Auftritt ein schwammig lächerliches Lied über den Mond singt, möglicherweise eine Anspielung auf Schönbergs Pierrot Lunaire und eine entfernte Erinnerung an die Jugend:
Der Tod und der Harlekin sitzen in einer Unterkunft für alte Soldaten. Wir sehen das Leben, das nicht mehr lachen, und das Sterben, das nicht mehr weinen kann, in einer Welt, die verlernt hat, am Leben sich zu freuen und sich der Sterblichkeit zu ergeben. Der Tod ist verärgert über die Geschwindigkeit und Hast, die ihm das moderne Leben aufgezwungen haben. Er ist geradezu beleidigt und beschließt, der Mensch heit eine Lektion zu erteilen, indem er sein Schwert zerbricht. Von diesem Augenblick an ist es keinem Menschen mehr ge stattet zu sterben.12
Natürlich macht es den Sinn des Krieges überhaupt zunichte, wenn der Tod seine Mitarbeit aufgekündigt hat. Kaiser Overall versucht zunächst mit der Situation dadurch fertigzuwerden, dass er seinen tapferen Kämpfern das ewige Leben verspricht. Das Werk führt Situationen vor, in denen Hinrichtungen erfolglos bleiben, und Soldaten, die sich nicht gegenseitig umbringen können, sondern sich ineinander verlieben. Lieben statt Töten ist ein eindeutiger Akt des Widerstands in Hitlers (Overalls) überhitztem Konzept eines »totalen Krieges«. Des Trommlers Ruf zu den Waffen ist eine dissonante, verzerrte Fassung der deutschen Nationalhymne. Die verliebten Soldaten ignorieren ihn.
Harlekin, Trommler und Kaiser sind in der vierten Szene gemeinsam auf der Bühne. Ohne die Hilfe des Todes wird Overall an allen Fronten besiegt, und aus dem Radio ertönt ohne Musikuntermalung eine Ankündigung über die Blindheit einer Nation, die geheilt werde, auf dass das ungeheure Ausmaß ihrer Sünden erkennbar werde und die Strafen vorhersehbar würden. Overalls Feinde drohen die Festung des Bösen niederzureißen und das Unkraut zu entfernen, das sich zu Hass auswächst. Der Kaiser singt in seiner letzten Wut ein Trio mit dem Harlekin und dem Trommler:
Fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, hundert, tausend Bomben, eine Million Kanonen. Ich habe mich in fensterlosen Mauern eingeschlossen. Sogar das wurde berücksichtigt! Wie sieht eine Person aus? Bin ich noch eine Person oder nur eine Rechenmaschine Gottes? (Er reißt von einem Spiegel die Verhüllung herunter, und im gerahmten Spiegelbild sieht er den Tod. Er versucht, den Spiegel wieder zuzuhängen.)
Ausgehend von der Idee, »das Unkraut des Hasses auszureißen«, stellt sich der Tod dem Kaiser Overall als »der Gärtner Tod« vor. Overall fleht den Tod an, zurückzukehren: »Die Menschen können nicht leben, ohne zu sterben!« Der Tod erklärt sich nur unter der Bedingung zur Rückkehr bereit, dass Overall bereit ist, als Erster zu sterben.
Das Werk ist ungemein kraftvoll, sarkastisch und voller Anspielungen: Zitaten aus einem polnischen Weihnachtslied; Deutschland über alles; Suks Asrael neben Dvořáks Requiem und ein direktes Zitat aus einem beliebten Schlaflied aus Des Knaben Wunderhorn: »Schlaf, Kindlein, schlaf«. Die Oper endet mit einer Variante des Luther-Chorals »Ein’ feste Burg ist unser Gott«. Dem Kaiser Overall stellt sich der Tod zwar als trostreiche Erlösung dar, nach dem Choral folgt jedoch sein ernüchterndes Versprechen von weiteren bevorstehenden Kriegen.
Es kann kaum überraschen, dass Der Kaiser von Atlantis in Theresienstadt nie zur Aufführung kam, obwohl immerhin eine Generalprobe stattfand. Ullmanns Vorstellung war nicht immer mit der des Librettisten Peter Kien in Einklang zu bringen. Ullmann war Anthroposoph, Kien hingegen ein zorniger junger Mann, der sich mit dem Platz des Todes im Leben weniger abfinden konnte als Ullmann. In einem Gedicht aus seiner Zeit in Theresienstadt schrieb er prophetisch:
Ich fürchte mich
vor dem riesigen blauen Dunkel
des Todes
Es packt mich ein Grauen
denk ich an ihn, der heimtückisch lauert
Ich will nicht.13
Möglicherweise scheiterten die Aufführungen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, wie konfrontativ der Text sein sollte. Möglicherweise hörten Wachen die verzerrte Version der deutschen Nationalhymne und stoppten die Aufführungen, aber vielleicht wurde auch schlicht jeder auf die Deportationsliste für Auschwitz gesetzt, ohne dass die Vor- und Nachteile des Werks eine Rolle gespielt hätten. Im Oktober 1944 wurden sowohl Kien als auch Ullmann nach Auschwitz deportiert, wo Ullmann ermordet wurde und Kien an einer Blutvergiftung starb. Der vorliegende Text und die Ausgaben des Kaiser von Atlantis sind eine Mischform, rekonstruiert aus dem Orchesterauszug (der auf Rückseiten der Listen von Häftlingen niedergeschrieben war, die in andere Lager, darunter auch Auschwitz, deportiert werden sollten), dem Klavierauszug von Karel Berman, der die Rolle des Todes sang, und den Konjekturen des Ullmann-Forschers Ingo Schultz, die später im Jahr 1992 von Schott in einer von Andreas Krause und Henning Brauel besorgten Ausgabe veröffentlicht wurden.
Peter Kien war wie Gideon Klein im Jahr 1919 geboren und starb 1944 (Klein starb im Januar 1945). Kien war nicht nur ein hellsichtiger Schriftsteller und Dichter; er war außerdem ein hochbegabter Porträtist und hinterließ Hunderte von Kohle- und Bleistiftzeichnungen von Mitgefangenen. Außerdem gab es zahlreiche Ölporträts; sein Freund Peter Weiss schrieb: »Es war, als müsse er mit seinen Bildern ihr Leben bewahren.«14 Die Skizzen und Zeichnungen wurden seiner Geliebten Helga Wolfenstein übergeben. Kien war in Theresienstadt bereits ein anerkannter Schriftsteller, dessen Stück Marionetten 25-mal aufgeführt wurde; sein Gedicht Peststadt wurde von Gideon Klein vertont. Andere von Kien in Theresienstadt verfasste (allerdings nie aufgeführte) Stücke waren Medea, An der Grenze und Der böse Traum. Ullmans Partitur und das Material zu Der Kaiser von Atlantis wurden dem Theresienstädter Bibliothekar Emil Utitz übergeben, bevor sie an den Dichter Hans Günther Adler (später H. G. Adler) weitergereicht wurden, der seinerseits den einschlägigen Bericht über das Leben in Theresienstadt verfassen sollte.15
Ullmanns Partitur von Der Kaiser von Atlantis bietet einen Querschnitt durch österreichische und tschechische Musiktraditionen, die zu einer persönlichen Sprache verschmolzen sind. Janáček’sche Polyrhythmen und gebrochene Melodien bleiben eher im Hintergrund. Seine Verbindung mit Schönberg ist kaum präsent, auch eine Ähnlichkeit mit Kurt Weills Werk ist kaum erkennbar, obwohl sie gerade im Hinblick darauf häufig behauptet wurde. Ullmanns frühe Jahre in Wien, seine Verbindung mit dem Schönberg-Kreis und seine Variationen und Doppelfuge über ein Thema von Schönberg lassen auf ein enges musikalisches Verhältnis zu Wien schließen. Subjektiv betrachtet überlagert der tschechische Charakter des Werks den deutschen Duktus durch seinen Einsatz von Dissonanzen und Surrealismen, wobei er sich nie weiter von der Tonalität entfernt, als es der Ausdruck erfordert. Das Deutsche ist militaristisch, in der Szene mit dem Soldaten und dem jungen Mädchen schlägt es in einen surrealen Lyrizismus um.
Eigentlich war Ullmann ein österreichischer Komponist. Er wurde 1898 im heutigen Polen geboren, lebte jedoch seit 1909 in Wien. Am Rasumowsky-Gymnasium freundete er sich mit den zukünftigen Schönberg-Schülern Hanns Eisler, Josef Trávníček, genannt Joseph Trauneck, und Erwin Ratz an. Bevor er in die österreichische Armee eintrat und an der italienischen Isonzo-Front kämpfte, studierte Ullmann Klavier bei Eduard Steuermann und Musiktheorie bei Josef Polnauer, die ebenfalls Schönberg-Schüler waren. Eine kurze Studienzeit bei Schönberg selbst festigte Ullmanns Position im Kreis der zeitgenössischen Musikszene Wiens. Sein Umzug nach Prag als Berufsmusiker im Alter von 22 Jahren diente dem Ziel, sich Zemlinksy an der Deutschen Oper anzuschließen, und setzte diese Entwicklungslinie fort, die wohl in seinem Werk Variationen und Doppelfuge über ein kleines Klavierstück von Schönberg aus dem Jahr 1925 gipfelte. Es basierte auf dem vierten von Schönbergs Klavierstücken, op. 19. Diese Kompositionsperiode erstreckte sich von 1918 bis 1920, als Ullmann Prag für eine kurze Zeit verließ und in den sudetendeutschen Bezirk Außig (heute Ústi nad Labem) umsiedelte. 1929 ging er nach Zürich, wo er sich der Anthroposophie zuwendete, und im Jahr 1931 wandte er sich ganz von der Musik ab. Er zog nach Stuttgart, wo er einen auf anthroposophische Literatur spezialisierten Buchladen betrieb.
Als Österreicher mit jüdischen Vorfahren verließ Ullmann 1933 Deutschland und kehrte nach Prag zurück. 1933 begann seine zweite und letzte Kompositionsphase mit einer Überarbeitung seiner Variationen, die bereits 1929 von 21 Variationen und Doppelfuge über ein Thema von Arnold Schönberg zu Fünf Variationen und Doppelfuge umgearbeitet worden waren; 1933 schuf er eine neuere Version, die Polnauer gewidmet war, und schließlich eine 1939 fertiggestellte Orchesterfassung. Im Jahr 1936 erhielt er den Hertzka-Preis für seine Oper Der Sturz des Antichrist mit einem Libretto von Albert Steffen. Angesichts des Antisemitismus auf Europas größtem Markt für neue Musik gab es keine Hoffnung, dass seine Werke veröffentlicht oder aufgeführt würden. Ullmann veröffentlichte die ersten vier seiner sieben Klaviersonaten selbst, außerdem auch seine beiden Opern: die bereits erwähnte Oper Der Sturz des Antichrist und einen Einakter, basierend auf Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug, fertiggestellt im Jahr 1941. Die meisten Werke Ullmanns, die er nicht zwischen 1933 und 1942 selbst veröffentlichte, sind verloren. Paradoxerweise sind hingegen fast alle seine in Theresienstadt entstandenen Werke erhalten geblieben. Es war eine Zeit enormer Produktivität für Ullmann, aber auch eine Zeit des stilistischen Eklektizismus.
Ullmann steht gewissermaßen zwischen zwei Welten, er lässt sich nicht einem bestimmten Land, einer bestimmten Bewegung oder Tradition zuordnen; in seinem musikalischen Ausdruck ist er zu individuell, als dass er sich uneingeschränkt zu Wien, Berlin, Paris oder Prag bekennen würde. Von 1933 an bis zu seiner Deportation nach Theresienstadt im Jahr 1942 hätte man ihn als einen von vielen deutschsprachigen Tschechen in Böhmen und Mähren eingestuft. Seine musikalische Sprache war häufig expressionistisch-schroff, neigte aber auch zu einem gefälligeren Romantizismus, wie man ihn von Richard Strauss oder seinen tschechischen Kollegen in der Tradition von Janáček kennt.
Nicht alle deutschsprachigen Tschechen sehnten sich danach, ins »Vaterland« des nationalsozialistischen Deutschlands umzusiedeln. G. E. R. Gedye, ein damals aktiver britischer Journalist, erklärte in seiner Zusammenstellung von Artikeln aus jener Zeit – veröffentlicht unter dem Titel Fallen Bastions –, dass die meisten deutschsprachigen Tschechen tschechische Patrioten waren. Sie waren stolz auf ihre Demokratie, die im Jahr 1938 noch Bestand hatte, während alle anderen aus dem Habsburg-Reich hervorgegangenen Länder unterschiedlichen Formen totalitärer Herrschaft anheimgefallen waren. Man konnte noch den Eindruck gewinnen, dass ein natürliches Gespür von Liberalismus und Toleranz es möglich machen würde, dass die unterschiedlichen sprachlichen und religiösen Gemeinschaften als stolze tschechische Bürger zusammenleben konnten.
Das war eine trügerische Hoffnung, wie der Fall Hans Winterberg zeigen sollte. Wir kommen auf Winterberg noch einmal zu sprechen – aber seine Suite für Klavier »Theresienstadt 1945« in drei Sätzen, komponiert im Winter und frühen Frühjahr 1945 während seiner Gefangenschaft in Theresienstadt, ist ein Paradebeispiel für Musik als Flucht oder Ablenkung von der düsteren Umgebung des Ghettos. Sie diente demselben Zweck wie Hans Gáls Huyton Suite, komponiert im Internierungslager auf der Isle of Man. Dieses Werk ist jedoch nicht nur düsterer als die Huyton Suite, es verbirgt sich darin auch Widerstand, indem man einfach weitermacht wie gewohnt. Für Musiker und Komponisten bedeutete das, Musik zu machen. Es ist interessant, dass Winterberg die Theresienstadt-Suite in keine seiner später zusammengestellten Werklisten aufnahm.
Der verborgene Widerstand von Wilhelm Rettich
Einigen bemerkenswerten Komponisten gelang es, aus dem Untergrund heraus musikalischen Widerstand zu leisten, während sie auf die Gunst von Nachbarn, Freunden oder Fremden angewiesen waren und sich von einem Versteck zum nächsten bewegten. Der in Leipzig geborene Wilhelm Rettich (1892–1988) ist von diesen Musikern wohl einer der bemerkenswertesten. Schon bevor er bei Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Jahr 1933 Berlin verließ und in die Niederlande auswanderte, hatte er ein abenteuerliches Leben geführt. 1914 war er in Kriegsgefangenschaft geraten und in Westsibirien festgehalten worden. Mit dem Dichter Franz Lestan komponierte er König Tod, eine Oper, deren Uraufführung erst 1928 in Stettin stattfand. Er schaffte es, in einem Kriegsgefangenenlager zu überleben, bis er durch die Russische Revolution 1917 befreit wurde; dann unterrichtete er Musik in Tschita in Ostsibirien, eignete sich die russische Sprache an, die er fließend beherrschte, und kehrte über Shanghai, Triest und Wien nach Deutschland zurück.
Dem Erfolg von König Tod im Jahr 1928 verdankte Rettich seine Anstellung beim neugegründeten Mitteldeutschen Rundfunk (mDR) in Leipzig. 1931 zog er nach Berlin, wo er Musikdirektor des Schillertheaters und des Berliner Rundfunkorchesters wurde. 1932 drückte er seine pazifistischen Ansichten in dem Oratorium Fluch des Krieges mit Texten des chinesischen Dichters Li-Tai-Pe und in einer Reihe von Liedern auf Texte von Else Lasker-Schüler aus, Werke, die später von den Nationalsozialisten gezielt angegriffen werden sollten.
Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler floh er aus Berlin über Prag und kam schließlich in die Niederlande, wo er viele Freunde fand und sich sicher genug fühlte, obwohl er zuvor geplant hatte, nach Amerika auszuwandern. Er veränderte seinen Namen von Wilhelm zu Willem und wurde holländischer Bürger. Seit 1934 lebte er in Haarlem, wo er unterrichtete, für das Holländische Radio VARA (Vereinigung der Arbeiter-Radioamateure) arbeitete und das Haarlemer Symphonieorchester gründete. Als die Deutschen im Jahr 1940 Holland besetzten, war es nur eine Frage der Zeit, bis Rettich seine bezahlte Stelle bei der VARA verlieren würde. 1942 tauchte er im Haus eines Schülers in Blaricum unter, in der Nähe des Musikwissenschaftlers Casper Höweler, dessen Musikbibliothek er weiterhin heimlich konsultierte.
Prägend für Rettichs musikalische Entwicklung und seine Selbstidentifikation als Jude waren seine Eltern. Seine Mutter stammte aus Riga und war mit dem jüdischen Musikhistoriker Abraham Zevi Idelsohn verwandt, der oft als Vater der moder nen jüdischen Musikwissenschaft bezeichnet wird. Rettichs Va ter war ein orthodoxer Jude, der ursprünglich aus Tarnów im polnischen Galizien stammte, das früher zum österreichischen Habsburgerreich gehört hatte. Im Alter von 17 Jahren studierte Rettich Komposition bei Max Reger in Leipzig und begann nach seinem Abschluss als Korrepetitor an der Leipziger Oper zu ar beiten, während er gleichzeitig Aufführungen an der Oper in Wilhelmshaven leitete.
Während seiner Jahre des Verstecks in Blaricum ab 1942 kehrte Rettich zu Idelsohns Vermächtnis zurück und komponierte seine Symphonischen Variationen für Klavier und Orchester über ein hebräisches Thema aus Idelsohns Sammlung. Er widmete sie seiner Mutter, die zusammen mit seinem Bruder in Haarlem verraten, deportiert und ermordet worden war. Ein weiteres Werk aus dieser Zeit war seine Dritte Symphonie, die Sinfonia Giudaica – in memoriam fratrum, ein Werk für großes Orchester mit einer Dauer von über einer Stunde. Die Symphonischen Variationen sind bemerkenswert. Sie sind zwar in einem Stil gehalten, der noch immer an die deutsche Spätromantik erinnert, aber sie stellen eine bruchlose Synthese aus deutschen und jüdischen Tonalitäten dar. Das jüdische Thema klingt deutsch, und die deutsche Behandlung des Themas klingt modal und bietet einen Exotismus, der vollkommen natürlich und kontextkonform wirkt. Die Sinfonia Giudaica ist in ihrem Charakter deutlicher jüdisch, mit einem Zitat des Kol Nidre im langsamen Satz und der Hatikva im Finale. Sie ist den Opfern des Krieges gewidmet. Bemerkenswert ist der enorme pianistische Anspruch der Symphonischen Variationen, die ebenso wie andere Werke in einem Schrank bei Kerzenlicht ohne Klavier komponiert wurden. Ebenfalls aus dieser Periode stammt Rettichs Hebräische Rhapsodie für Cello und Klavier, die als Opusnummer 53A zu einem Ableger seines op. 53, der Sinfonia Giudaica, erklärt wurde. Noch aus der Zeit vor seinem Untertauchen stammt das Violinkonzert op. 51, das mehr als nur einen Hinweis auf dieselbe nahtlose Verknüpfung deutscher und jüdischer Tonarten bietet. Ein weiteres Werk aus dieser Zeit ist sein op. 52A, Rembrandts Portrait eines Rabbi für eine Singstimme und Klavier, das dieselbe Opusnummer hat wie seine Zweite Symphonie für Chor, Solisten und Orchester, die Sinfonia Olandese.
Im Unterschied zu seiner Familie überlebte Rettich den Krieg. Danach schwor er, nie nach Deutschland zurückzukehren – ein Schwur, den er im Jahr 1964 brach. Die musikalischen Werte hatten sich verändert, und bereits vor dem Krieg war Rettich konservativ und wurde als konventionell abgetan. Zyniker der Nachkriegszeit spotteten, wenn er kein Jude gewesen wäre, dann hätte er die Art von Musik gemacht, die der NS-Hierarchie gefallen hätte. Er gehörte zu einer langen Liste jüdischer Komponisten, die in ähnlicher Weise von neuen Generationen von Musikmanagern, Interpreten und Komponisten missachtet wurden, die so viel ästhetische Distanz wie möglich zwischen sich und ihre kollektiven Vergangenheiten bringen wollten.
Dennoch komponierte Rettich viel: Sein Werk umfasst über 150 Opusnummern, und er kehrte immer wieder zu jüdischen Themen zurück. Seine Musik war sicher konservativ, aber nicht konventionell, trotz der Vorwürfe nach dem Krieg. Wenn überhaupt, dann hielt Rettich wie viele andere verfolgte jüdische Komponisten wie etwa Richard Fuchs hartnäckig an seinem deutschen musikalischen Selbstverständnis fest, in das die jüdi schen musikalischen Traditionen perfekt eingebettet wurden.
Kampflieder und die Erinnerung an ein besseres Deutschland
Hanns Eisler kann als der musikalische Vater der deutschen Agitprop gelten. Seine Bearbeitung des »Moorsoldatenliedes« war lediglich ein Punkt in einem Kontinuum, in dem er Protest- und politische Belehrungsmusik verfasste. Im Jahr 1919 waren seine ältere Schwester Elfriede Eisler, die bald unter dem Namen Ruth Fischer berühmt-berüchtigt wurde, und sein älterer Bruder Gerhart Eisler in Berlin bereits politisch aktiv geworden. Damals dirigierte Hanns Eisler, der mit Männern wie George Lukács in einer Kaserne für Kriegsheimkehrer lebte, den Arbeiterchor der Siemens-Schuckert-Fabrik im Wiener Arbeiterbezirk Floridsdorf.
Eisler blieb von 1920 bis 1925 in Wien und genoss einen frühen Erfolg als Avantgarde-Komponist. Er unterzeichnete einen Fünfjahresvertrag mit Universal Edition und zog nach Berlin um. Seine Frau Charlotte ließ er zurück, damit sie sich um seine kranke Mutter kümmerte. Die politische Szene in der Hauptstadt der Weimarer Republik war sehr viel turbulenter und konfrontativer als diejenige im österreichischen Wien. Erst 1927 begann Eisler – in Zusammenarbeit mit Erwin Piscators Theater für das Werk Heimweh von Franz Jung –, selber politische Musik zu schreiben. 1928 komponierte er die Musik für das Agitprop-Straßentheaterstück Das rote Sprachrohr; im selben Jahr kam es bei der Ballade vom Soldaten zur ersten Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Im Jahr darauf beteiligte er sich bereits am ISCM-Festival-Projekt Music for Workers. Er traf auch mit Ernst Busch zusammen. 1931 leitete er eine Vereinigung mit dem politisch sperrigen Namen Dialectical Materialism and Music. Seit 1932 besuchte er regelmäßig die UdSSR und entwickelte sich zum bevorzugten musikalischen Mitarbeiter Bertolt Brechts, zuerst mit einem Stück, das in ein Oratorium namens Die Mutter umgewandelt wurde, anschließend mit dem politischen Film Kuhle Wampe, oder Wem gehört die Welt?16
Zu der Zeit, als Hitler sich zu Deutschlands Diktator machte, war Eisler bereits als politischer Agitator berüchtigt; dass er einen jüdischen Vater hatte, fachte den nationalsozialistischen antisemitischen Furor noch weiter an. Einer seiner Kampfsongs, »Roter Wedding«, war so bekannt, dass er mit verändertem Text – »Unsere Fahne flattert uns voran« – für die Hitlerjugend übernommen wurde. Sein »Solidaritätslied«, bekannt geworden durch den Film Kuhle Wampe, wurde in der NS-Ausstellung Entartete Musik im Jahr 1937 verrissen. 1932 schrieben er und Brecht eine Hitlerparodie zur Melodie von »It’s a Long Way to Tipperary«: »Der Marsch ins Dritte Reich«. Das Stück entstand ein Jahr, bevor das Dritte Reich tatsächlich Realität wurde, und sowohl Brecht als auch Eisler bedauerten später die Verharmlosung Hitlers. Bereits 1933 war Hitler keine Lachnummer mehr. Ein Jahr später schrieben sie einen weiteren Song, der ein Loch in die aufgeblasene öffentliche Wahrnehmung von Adolf Hitler stechen sollte: »Das Lied vom Anstreicher Hitler«. Andere folgten, so etwa »Das Lied vom Baum und den Ästen«. 1934 waren Brecht und Eisler mit einem Song für die Volksabstimmung im Saarland, dem »Saarlied«, erneut am Werk.
Eisler war in Wien bei Anton Webern, als Hitler in Berlin die Macht übernahm. Er kehrte nach Berlin zurück, löste seine Wohnung auf und begann ein unstetes Leben als Reisender von einem sicheren Hafen zum nächsten. Der pendelnde Charakter seines Exils wurde zu einer eigenständigen Propagandaform. Eisler war überzeugt, dass Hitlers Reich keinen Bestand haben konnte, und er begann mit einer Koalition aus antifaschistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Bewegungen zusammenzuarbeiten, der sogenannten Einheitsfront. Er war innerhalb des kulturellen Bereichs speziell für die Musik zuständig. Auf eine Nachfrage von Erwin Piscator im Jahr 1935 hin schrieben er und Brecht das »Einheitsfront-Lied«. Später übernahm Eisler das Internationale Musikbüro der Komintern und versuchte sogar – allerdings erfolglos –, eine Zusammenarbeit mit der betont unpolitischen ISCM in die Wege zu leiten. Während der nächsten Jahre schrieben Brecht und Eisler weiterhin Kampflieder gegen Hitler und sein Drittes Reich. Mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Jahr 1936 weitete sich ihr Horizont mit Versionen von »¡No Pasarán!« und »Marcha del 5. Regimiento« auf Lieder gegen den Faschismus ganz allgemein aus. Eisler war außerdem in diversen Arbeitermusikfestivals und Arbeiterveranstaltungen engagiert, so etwa einer »Arbeiterolympiade«-Musik in Straßburg im Jahr 1935 und einem ähnlichen Festival der Arbeitermusik in Reichenberg (heute Liberec) im nördlichen Böhmen. Bei dergleichen Ereignissen fand sich Eisler in Stadien vor Zehntausenden Teilnehmern wieder.
Es ist generell schwierig zu erkennen, wie propagandistische Protest-, Trutz- und Widerstandslieder eine eigene Identität im Kontext des Exils annehmen. Dennoch schrieb und redete Eisler ausführlich über Aspekte des Exils und dessen Auswirkungen auf sein Komponieren. 1938 schrieb er sogar einen Song »Über die Dauer des Exils«, und sein Song »Der Kälbermarsch« war 1943 ein Versuch von Brecht und Eisler, das nationalsozialistische »Horst-Wessel-Lied« zu parodieren.
Wie wir später sehen werden, wirkte sich das Exil auf Eisler dergestalt aus, dass er sich von der Rolle des Agitators entfernte, auch wenn seine Werke weiterhin politisches Engagement vermittelten. Sie verloren ihren kantigen Kampfsong-Charakter und bewegten sich in Richtung subtilerer Methoden, beispielsweise unterwanderten sie Strukturen der Passionen von Johann Sebastian Bach als Ausdruck politischer Verzweiflung. Er hatte bereits in seinem politisch-didaktischen Bühnenwerk Die Maßnahme aus dem Jahr 1930 mit dergleichen Strukturen experimentiert, das in seiner äußeren Form an ein alpenländisches Osterspiel (man denke nur an die Oberammergauer Passionsspiele) erinnert.
In derselben Weise, wie Bach-Kantaten Eingang in Oratorien und Passionen fanden, fand eine Reihe weltlicher Kantaten ihren Weg in ein größeres Werk, dem Eisler den Titel Deutsche Symphonie gab. In seinen Interviews mit dem ostdeutschen Dramaturgen und Regisseur Hans Bunge erwähnte er es Jahre später:
Vielleicht mag der Ursprung eines großen Werkes eine Laune sein. Ich erinnere mich ganz genau, als ich von einer Tournee in Amerika müde wurde, jeden Abend über die Kulturbarbarei Deutschlands den Amerikanern was zu erzählen – ich wurde einfach müde, weil das einförmig war; ich habe ja fast immer mit wenigen Variationen denselben Vortrag gehalten –, beschloss ich, um wieder etwas zu arbeiten – auch an einem trüben Herbstabend, in einem Chicagoer Hotel – die Deutsche Sinfonie zu komponieren. Der Ursprung war eine Laune. Ja, die Laune dauerte dann fünf Jahre.17
In einem Brief an Brecht vom 20. Juli 1935 ging er detaillierter auf seine Absichten ein:
Ich … will eine große Symphonie schreiben, die den Untertitel »Konzentrationslagersymphonie« haben wird. Es wird auch in einigen Stellen Chor verwendet, obwohl es durchaus ein Orchesterwerk ist. Und zwar werde ich Deine beiden Gedichte: Begräbnis des Hetzers im Zinksarg (das wird der Mittelteil eines gross angelegten Trauermarsches) und an die Gefangenen in den Konzentrationslagern verwenden.
Selbst in einem so kraftvollen Werk wie Eislers Deutscher Symphonie blieb der Hang zur Agitprop bestehen, was aus seiner ursprünglichen Absicht, das Werk Konzentrationslagersymphonie zu nennen und ausschließlich politische Texte zu vertonen, deutlich hervorgeht. Wie eine auf musikalische Versatzstücke erpichte diebische Elster versuchte Eisler, für jedes Element einen Platz in seinem kreativen Werkzeugkasten zu finden. Das Werk ist seriell angelegt, mit Zwölftonreihen, die wie Straßenballaden klingen. Er fügte zahlreiche Zitate ein, beispielsweise aus der Internationalen, aus Unsterbliche Opfer und sogar seinem eigenen Solidaritätslied. Trotz der Versuche, das Werk als marxistische politische Unterweisung an den Mann zu bringen, sind dessen grundlegende Merkmale Verlust und Hoffnung. Letztlich ist es kein Agitprop-Werk, sondern eine Aussage, die aus dem Exil selbst stammt. Jahrzehnte später sollten sich seine Hoffnungen, das Werk als aufgeklärten Marxismus darzustellen, nicht erfüllen. Die Kommunistische Partei der DDR lehnte seine Benutzung von Texten des italienischen Abtrünnigen Ignazio Silone ab. Die Deutsche Symphonie ist eine massive Synthese aus Melancholie, Verzweiflung, Pessimismus und Hoffnung, wobei politische Parolen natürlich nicht fehlen. Sie bildet eine vielschichtige Passion des 20. Jahrhunderts, in der nicht Christus, sondern Deutschland das Thema ist. Eislers eigene Absicht war, »Trauer ohne Sentimentalität und Kampf ohne Militärmusik« auszudrücken.18
Im Jahr 1935 begann Eisler, an der Symphonie zu arbeiten; es sollte 24 Jahre dauern, bevor sie erstmals in ihrer endgültigen Fassung erklang. Von den elf Sätzen begann Eisler mit demjenigen, der dann letztlich mit seiner Etüde für Orchester der dritte Satz werden sollte, entstanden war er als Teil seiner Orchestersuite Nr. 1 aus dem Jahr 1930. 1936 und 1937 machte er mit der Komposition der Sätze 1, 2, 4, 5, 7, 8 und 9 weiter, die Orchestersätze 6 und 10 komponierte er 1939 beziehungsweise 1947. Den Kern des Werks bildet der siebte Satz Begräbnis des Hetzers im Zinksarg zusammen mit den beiden »weltlichen Kantaten« in den Sätzen 8 und 9: der Bauernkantate und der Arbeiterkantate, die Brechts Lied vom Klassenfeind benutzt. Der letzte Satz, Epilog, wurde rechtzeitig für die lange aufgeschobene ostdeutsche Premiere im Jahr 1959 komponiert und ging auf Brechts Kriegsfibel zurück. Dieser letzte Satz soll die Herausforderungen darstellen, denen sich der zurückkehrende Emigrant gegenübersah, wenn er mit denen zusammenleben musste, die kurz zuvor noch Todfeinde gewesen waren. Dieses Gefühl des Unbehagens war selbst dann noch vorhanden, wenn man in einem marxistischen Staat lebte, der erklärtermaßen »anti-faschistisch« war. Im Rückblick lässt sich sagen, dass die tatsächlichen Lebensbedingungen in der Deutschen Demokratischen Republik die eigentliche Motivation waren, die dieser Aufnahme in letzter Minute zugrunde lag – und ein weiterer Grund für die anschließende Ablehnung durch das ostdeutsche musikalische Establishment.19
Die Titel der einzelnen Sätze stellen eindeutig Aufrufe zum Handeln dar, die typisch sind für Agitprop und Kampfgesänge: Der zweite Satz ist überschrieben Für die Kämpfer in den Konzentrationslagern, und eine Dialektik à la Brecht erklärt die Häftlinge in den Lagern zu Deutschlands wahren »Führern«. Der vierte Satz ist eine weitere Vertonung von Brechts Zu Potsdam unter den Eichen, zusätzlich zu der besser bekannten Version von Kurt Weill. Der Text bezieht sich auf die gewaltsame Auflösung einer Anti-Kriegs-Demonstration. Der fünfte Satz heißt Sonnenburg, der Name eines Lagers für politische Gefangene. Darauf folgt ein Orchestrales Intermezzo, das zum Kern des Werks mit den bereits erwähnten Sätzen 7, 8 und 9 überleitet.
Die Auswahl der Sätze und ihre Positionierung innerhalb der Dramaturgie war nicht im Voraus festgelegt, und trotz einer ausgewogenen Architektur und einem klaren Narrativ war sie durchaus nicht vorbestimmt; es kam während der Jahrzehnte, in denen das Werk nicht aufgeführt wurde, immer wieder zu Hinzufügungen und Veränderungen. Ursprünglich fanden die Eröffnungssätze bei einem Festival der IScm im Jahr 1936 Anklang als »überhaupt eine der besten« Einreichungen für neue Musik. Die enthusiastische Reaktion wurde durch deutschen Druck gedämpft, was schließlich mit dem Vorschlag von Jacques Ibert endete, dass der Text – der für das ISCM-Festival in Paris zu offen politisch war – durch Saxophone ersetzt werden solle. Es überrascht nicht, dass Eisler ablehnte.
Es gab andere Interpretationsvorschläge, etwa, dass die »Symphonie« an sich in den Orchestersätzen zu finden sei: Nr. 3 (Etüde), Nr. 6 (Intermezzo), Nr. 10 (Allegro für Orchester) und Nr. 11 (Epilog) – eine Symphonie, die in eine ausgedehnte Kantate eingebettet ist. Das Werk ist im Brecht’schen Sinne episch und katapultiert den Hörer mit denselben Mitteln der Verfremdung in das Narrativ hinein und wieder heraus, wie Brecht sie im Drama verwendete. So kommt etwa in der Arbeiterkantate ein ge flüsterter Dialog mit einem wortlosen Chor im Hintergrund vor, wohingegen der Potsdam-Satz und der Trauermarsch aus Der Hetzer im Zinksarg die Beschränkungen einer symphonischen oder chorischen Struktur mit filmischen Elementen sprengen. In der Bauernkantate werden Texte aus Ignazio Silones Roman Brot und Wein verwendet. Silone griff ebenso wie andere bedeutende Schriftsteller und Intellektuelle, unter anderem Manès Sperber und Arthur Koestler, in den 1930er Jahren die stalinistischen Schauprozesse öffentlich an und galt allgemein als Abtrünniger. Eislers Verwendung eines Textes von Silone war für die kommunistischen kulturellen Meinungsmacher der DDR inakzeptabel, und sein Name fehlt in früheren Veröffentlichungen der Partitur.
Eislers Zwölftonreihen-Konstruktionen bieten serielle Komposition in einer wesentlich besser verdaulichen Form. Die Reihen sind so aufgebaut, dass sie mit melodischem Verständnis vereinbar sind, häufig enthalten sie sogar eine Passacaglia, die sich mit Variationen durchzieht. Reihen werden kaum einmal transponiert, und wenn es geschieht, dann bewegen sie sich um eine Quinte auf- oder abwärts, was eine geläufigere Transposition und für das Ohr gefälliger ist. Auf diese Weise ist es möglich, dass diatonische Zitate vollkommen, wenn auch leicht verzerrt, erkennbar bleiben.
Eislers oberstes künstlerisches Ziel war Zugänglichkeit. Sein Zerwürfnis mit seinem Lehrer Arnold Schönberg ging auf seine Auffassung zurück, dass Schönbergs Vorstellungen den Hörer nicht so sehr ansprachen als vielmehr verwirrten. Schönberg hingegen war überzeugt, dass er eine neue Klangwelt schaffen konnte, eine neue Art, Tonalität wahrzunehmen, in der Dissonanz und weite Intervalle zusammenhängende Muster in den Gehirnen und Ohren der Zuhörer bildeten. Damit sollte Ordnung in die Unordnung des atonalen Expressionismus gebracht werden. Neue Ausdrucksmöglichkeiten würden so entstehen, und die Musik könnte sich von den Fesseln früherer Jahrhunderte befreien. Eisler teilte viele dieser Ideale, wollte jedoch immer für den Hörer verständlich bleiben. Für Eisler ist es bezeichnend, dass ›Kommunikation‹ und ›Kommunismus‹ mit derselben Buchstabenkombination beginnen. Schönberg war nie ein Kommunist und stand auch dazu, dass es schwer war, seine hochkomplexe Musik zu verstehen. Eisler glaubte, dass die Synthetisierung von Gegensätzen neue Erfahrungen und Ausdrucksmöglichkeiten schuf. Kontraste wurden hergestellt durch die parallele Darstellung von Macht und Unterdrückung, Täter und Opfer, Tonalität und Atonalität, Volkstümlichkeit versus Formalismus und populäre Musik versus klassische Musik, oder im Endeffekt den Gegensatz von schwierig und einfach. Aus diesem Grund bleibt trotz der vielen Wendungen und gelegentlich ausufernden Passagen etwas fundamental Einfaches und Nahbares an Eislers ausgedehntestem, ›Mahlerischstem‹ Werk.
Auch Paul Dessau (1894–1979) verfasste ein Werk, das auf Brecht-Texten beruhte und viele der Eisler’schen Intentionen widerspiegelt. Es wurde zeitlich parallel, 1943 und 1944, komponiert und im Jahr 1947 vollendet, allerdings kam es erst 1966 zur Aufführung, zehn Jahre nach dem Tod Brechts. Die Ähnlichkeiten zwischen den Werken der beiden Komponisten sind immer wieder bemerkenswert. Dessau, der Brecht im März 1943 in New York traf, zeigte ihm seine Vertonung vom »Kampflied der schwarzen Strohhüte« aus Brechts Theaterstück Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Dessau und Brecht setzten ihren Austausch in New York fort. Dessau berichtet, dass er bei einer dieser Begegnungen gesagt habe:
Wissen Sie, Brecht, ich möchte Sie doch auf etwas aufmerksam machen. Ich möchte so furchtbar gern etwas schreiben, eine Art deutsches Requiem, aber nicht so wie Brahms. Gar nicht, im Gegenteil. Aber so ein großes Miserere, ein deutsches Werk, das die ungeheure Tragödie unseres Vaterlandes schildert.20
Dieser Vorschlag gefiel Brecht offensichtlich, und er begann, sich nach Material umzuschauen; offenbar hatte er nichts dagegen, Dessau dieselben Gedichte zu überlassen, die Eisler bereits 1936 vertont hatte. Beide Werke beginnen mit denselben Worten O Deutschland, bleiche Mutter. Beide Werke bedienen sich liturgischer Vorlagen und benutzen sie für weltliche Zwecke. Selbst vertraute Begriffe wie ›Symphonie‹ oder ›Requiem‹, umbenannt zu ›Miserere‹, sind einfach als zugängliche Einstiegspunkte für Werke eines bombastischen Säkularismus gedacht. Dessau verwendet ganz unverhohlen liturgische Bezüge, Eisler hingegen eher unauffällig. Eisler fügt seine säkularen Kantaten in seine Deutsche Symphonie ein, Dessau hingegen zitiert ganz direkt Brecht’sche religiöse Anspielungen wie »Ewigkeit« oder sein Wiegenlied, in welchem eine schwangere Mutter ihr ungeborenes Kind als den kommenden Erlöser anspricht. Es kommen auch verrutschte biblische Bezüge vor, etwa Für sieben Jahre aßen wir das Brot des Schlächters. Das ist nicht biblisch, sollte aber so klingen.
Der Titel Miserere selbst gehört zu Psalm 50 und wird am Karfreitag gesungen: miserere mei Deus secundum magnam misericordiam tuam et secundum multitudinem miserationum tuarum dele iniquitatem meam – »Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!« Aufgrund seines effektvollen Einsatzes im Zusammenhang mit dem Leiden Jesu wurde es von Komponisten im Lauf der Jahrhunderte immer wieder vertont. Gemeinsam ist den Werken von Eisler und Dessau, dass Deutschland darin nicht nur Täter, sondern auch Opfer ist, ein Land, in dem Mütter ihre Söhne an den Krieg verloren haben. Der Verlust eines Kindes blieb ein Verlust, unabhängig davon, auf welcher Seite ein Sohn kämpfte. Das Triumvirat Dessau, Brecht und Eisler hatte am eigenen Leib erfahren, wie hilflos man sich als Kanonenfutter fühlte, kommandiert von Menschen, auf die man keinen Einfluss hatte. Sie sahen nur Leben, vergeudet von Führern, die keine andere Legitimation hatten als diejenige, die ihnen von einer unrechtmäßigen Autorität erteilt worden war.
Die Unterschiede zwischen den beiden Werkkomplexen sind ästhetischer Natur und entsprechen den Merkmalen der jeweiligen musikalischen Sprache von Eisler und Dessau. Hinzu kam eine gewisse Spannung zwischen Eisler und Dessau: Dessau erlangte nie den hohen Stellenwert innerhalb der ostdeutschen kulturellen Hierarchie wie Eisler. Brecht gefiel es offenbar, solche Spannungen auszunutzen, möglicherweise aufgrund einer Irritation über Eislers ungestüme Arroganz, mit der er Texte veränderte, damit sie zu seinen musikalischen Strukturen passten; Dessau hingegen passte seine Strukturen Brechts Texten an. Obwohl beide Werke auf bereits bekannte Konzepte zurückgreifen – bei Eisler die »Idee« einer Symphonie und in Dessaus Miserere das Vorbild des Deutschen Requiems von Brahms –, stehen sie für unterschiedliche Grade von Wut, Traurigkeit und Ermahnung. Die Brecht-Texte bei Dessau sind markanter, monumentaler, teilweise sperrig in einer Art und Weise, die Eisler vermeidet. Dessaus Werk ist weniger subtil, es ist aufdringlicher in seiner Botschaft, theatralisch und in seinem zweiten Teil von hinzugefügten Bildern abhängig: Fotos werden auf Leinwände projiziert, während diverse Auszüge aus Brechts Kriegsfibel gesungen werden. Beide Werke sind im Brecht’schen Sinn episch mit ihren Ausgriffen auf filmische, außermusikalische Mittel, die der Verfremdung dienen, allerdings die Grenze zwischen Ausführenden und Zuhörern auch verschwimmen lassen. Einfacher gesagt: Eisler versteht seine Musik als Träger von Brechts Botschaft; Dessau hingegen versteht Brechts Botschaft als Träger seiner Musik. Dessaus Musik ist eindringlich und vermittelt Wut in der Traurigkeit. Eisler vermittelt Traurigkeit in der Wut. Beide Werke sollen den Hörer in eine Erfahrung einbetten, die man heute als »interaktiv« bezeichnen würde. Der Hörer darf nicht passiv bleiben, sondern soll in die Theatralik der beiden Werke hineingezogen werden.
Beide Werke erfordern enorme Ressourcen für die Aufführung, wobei Dessau die Hinzufügung von visuellen Projektionen verlangt, zusätzlich zu fünffachen Holzbläsern, sechs Hörnern, vier Trompeten, vier Posaunen, Bass- und Kontrabasstuba sowie zwei Harfen, Trautonium, einer Orgel, zwei Klavieren, mehreren Schlagzeugen, einem Heer von Streichern, einem großen gemischten Chor, einem Kinderchor und Solisten. Eislers Erfordernisse wirken daneben fast bescheiden: doppelte Holz bläser, vierfache Blechbläser, Pauken, Schlagzeug, Chor und Solisten. Dessaus 27 Sätze sind zu zahlreich und komplex, als dass man sie einzeln auflisten könnte; Teil III steht allerdings in einem schlichten Gegensatz zu den blockartigen Dimensionen der Teile I und II. Es handelt sich um ein schlichtes Wiegenlied, »Als ich dich in meinem Leib trug«.
Sind Eislers und Dessaus Werke dem War Requiem von Benjamin Britten ebenbürtig? Vielleicht – was sie allerdings von Brittens Oratorium unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie im Exil entstanden sind, auch wenn sie erst später in Ostdeutschland fertiggestellt wurden. Beide sind sie auf nostalgische, unverkennbare Weise deutsch, wohingegen Britten über die Grenzen hinweg auf Versöhnung zielt. Dessaus explizite Ablehnung einer Beschwichtigung durch die Mittel von Musik oder Schönheit hat im Unterschied dazu etwas geradezu Trotziges. Sogar Eisler waren diese Mittel wichtig, und sei es nur als dialektische Instrumente, um als eine Form des expressiven Kontrapunkts die Aufmerksamkeit auf ihre Gegensätze zu lenken. Dessau hat keine Sympathien für Eislers Hyper-Intellektualisierung von Gegensätzen und stellt ein in verzweifelten Zeiten entstandenes Kriegsoratorium vor. Zwar wurde es in großem Abstand zur echten Gefahr verfasst, doch entstand es auch in großer Distanz zu seiner Familie. Seine Eltern starben in Theresienstadt. Keines der beiden Werke kann man ohne Weiteres mögen, aber das fordert auch keines der beiden Werke. Stattdessen vermitteln sie uns Verzweiflung und Wut über das Ausbleiben der Erlösung. Dessau beendet sein Oratorium allerdings mit einem schlichten Wiegenlied: Eine Mutter singt für ihr ungeborenes Kind in der Hoffnung, dass Erlösung durch künftige Generationen noch möglich sein könnte.
1 Hanns Eisler, Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge, München 1986, S. 71.
2 Wolfgang Benz, Information zur politischen Bildung 242, S. 8, zit. in: Rebecca Meier, Musik als Mittel des Widerstands in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz, Grin Verlag 2015, S. 3.
3 Meier, Musik als Mittel des Widerstands, S. 7.
4 Wilhelm Girnus, zit. in: Jens Peitzmeier, Musik in den Konzentrationslagern Auschwitz und Theresienstadt. Kunst als Widerstand gegen Grausamkeit und Unterdrückung, Hamburg 2014, S. 3.
5 Hans Gál, Music Behind Barbed Wire. A Diary of Summer 1940, London 2014.
6 Ein Beispiel ist die kürzlich entdeckte und aufgenommene Theresienstadt Suite für Klavier des Komponisten Hans Winterberg.
7 Joža Karas, Music in Terezín 1941–1945, Martlesham 1985, S. 102.
8 http://david.juden.at/Kulturzeitschrift/66–70/67-Grigorcea.htm.
9 Reproduktion des Typoskripts in Mark Ludwig, Our Will to Live, Göttingen 2021, S. 290 f.
10 Ich verwende nicht die tschechische Schreibung Petr Kien, da er ein deutschsprachiger Tscheche war, der deutsch schrieb.
11 Die Tabelle stammt aus Mindy Elicia Buckton, Re-Contextualizing Viktor Ullmann’s Kaiser von Atlantis Within Twentieth-Century Opera, Dissertation, Laurentian University, 2010 – ihre Tabelle beruht auf derjenigen von Ingo Schultz.
- Quelle:
- Die Musik der Fremde. Komponisten im Exil
- Reclam Verlag
- 1. Auflage, 2025 (Auszug)
- S. 164-209
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