Interview
„Das klassische Bildungsbürgertum ist ausgestorben“
Mathis Huber ist Intendant der Styriarte und hält nicht viel von Schwarzmalerei und heiligen Kühen. Mit OPERN∙NEWS sprach er von der Trägheit seiner Branche und verrät, welche Richtung „sein“ Haus künftig einschlagen wird
Stephan Burianek • 24. Juni 2021
Sie waren in den vergangenen Pandemie-Monaten einer von wenigen Menschen im Kulturbereich, die nicht auf irgendwen oder irgendetwas geschimpft haben, sondern ganz offensiv Optimismus versprüht haben. Erklären Sie uns das bitte.
Die Pandemie ist nicht irgendjemandes Bosheit, sondern ein Naturereignis, auf das man irgendwie reagieren muss. Unser Geschäft besteht darin, unsere Gäste zu begeistern, sie zu trösten, sie zu inspirieren und ihnen das Leben zu erleichtern und ganz sicher nicht darin, ihnen eine schlechte Laune zu machen indem man das ohnehin bereits Unangenehme noch verstärkt. Ich hatte für die Schließungsnotwendigkeit unseres Bereichs volles Verständnis und denke, man muss darauf vertrauen, dass die Leute im Gesundheitsministerium ihren Job anständig erfüllen. Wenn alle so wie im Fußball glauben, dass sie diesen Job besser machen könnten, dann wird es schwierig.
Sie haben immer wieder über die Krise als Chance gesprochen. Ist das nicht ein wenig übertrieben?
Die Chance in der Krise liegt darin, dass sich durch diese Erschütterung der im Laufe der Jahre zunehmend verkalkte und durch verstaubte Rituale gekennzeichnete Kulturapparat neu formieren wird können. Ich sehe die Situation als Chance, den seit über hundert Jahren in dieser Form bestehenden Musikbetrieb mit seiner bürgerlichen Opernkultur zu hinterfragen und zu schauen, was da überhaupt noch dran ist.
Zu welchem Ergebnis sind Sie in dieser Hinsicht gekommen?
Es hat sich herausgestellt, dass die sogenannte bürgerliche Hochkultur, wenn sie plötzlich verstummt, den Leuten nicht allzu sehr abgeht. Das Lamento über die Schließungen ging vorrangig von den Kulturbetrieben selbst aus. Das werden jetzt nicht alle bestätigen, aber ich habe beobachtet, dass die Kunst nicht in der Mitte der Gesellschaft zu verorten ist, sondern in deren Peripherie, irgendwo zwischen den Freibädern und den Bordellen. Diese Beobachtung ist durchaus wohltuend, weil sie uns zwingt, nach Therapien zu suchen, die sie wieder in die Herzen der Gesellschaft führen. Natürlich überzeichne ich jetzt ein wenig, aber ich finde es heilsam, darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass wir Kulturleute uns in einer Blase bewegen und wir fälschlicherweise annehmen, diese Blase umfasse die ganze Welt.
Hat Sie diese Erkenntnis persönlich überrascht?
Nein, mich persönlich nicht. Wir beschäftigen uns bei der Styriarte schon seit Jahren mit diesem Thema. Aber die Szene hat es offenbar überrascht, sonst wäre dieser unnötige Aufschrei nicht passiert. Es ist in der Kunst nicht branchenüblich, die Sicht des Publikums anzunehmen. Das unterscheidet uns von allen Bereichen, die im Zuge der Pandemie wichtig waren.
Aber lassen sich Kundenwünsche mit dem Kunstprozess überhaupt vereinen? Der Keim des Künstlertums besteht doch darin, dass Künstler:innen in gewisser Weise losgelöst von der Gesellschaft Originelles schaffen.
Sie sprechen vom Künstler beziehungsweise Künstlerin ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der/die seine Kunst als Religionsersatz betrachtet und so tut, als wäre sie die unmittelbare Verbindung zur Transzendenz. Dagegen ist ja grundsätzlich nichts zu sagen, auch wenn ich diese Wagner’sche Haltung für maßlos anmaßend und unzeitgemäß halte. Wenn ich als Künstler auf den Tisch haue und fordere, dass die Rezipienten als Teil der Gesellschaft gefälligst meinen Lebensstandard finanzieren sollen, dann muss ich mich sehr wohl mit deren Bedürfnissen beschäftigen und mir die Frage stellen, was ich ihnen zurückgeben kann.
Aber passiert das nicht bereits?
Es gibt immer noch Kollegen, die sagen: „Publikum? Was ist das?“ – Kein Witz: Ich habe bei einer Tagung über die Zukunftsperspektiven unserer Branche nach Corona mit einem Komponisten gesprochen und ihn ganz naiv gefragt, was das Publikum mit der Information in seiner Musik anfangen soll, und er meinte nur: „Was interessiert mich das Publikum?“ Das ist ihm ja unbenommen, aber er kann nicht verlangen, dass die Öffentlichkeit diese nicht für sie bestimmte Kunst finanziert.
Vor allem in den sozialen Medien fiel auf, wie unsensibel gegenüber der Gesellschaft manche Künstler:innen mit den Lockdowns umgegangen sind – natürlich braucht man ein gewisses Ego, um auf der Bühne stehen zu können, andererseits sind Künstler:innen im Zuge ihrer Arbeit permanent mit humanistischen Gedanken konfrontiert. An deren Stelle traten dann plötzlich „alternative Fakten“.
Das war sicherlich dem Schock geschuldet, der vor allem während des ersten Lockdowns massiv war und mit der Erkenntnis zu tun hatte, dass die Kunst in der Politik plötzlich gar keine Rolle mehr spielte. Ich denke, das wurde mittlerweile verdaut. Die nächste Erkenntnis wird folgen, wenn die Zuschauerbeschränkungen fallen und das Publikum erst wieder zurückgeholt werden muss. Das wird langfristige Auswirkungen auf die Programmierung haben.
Worauf spielen Sie an?
Als Jünger von Nikolaus Harnoncourt haben wir uns bei der Styriarte lange ausschließlich als Diener an der Kunst gesehen, aber selbst das Geniale stößt an seine Grenzen, wenn es von der Allgemeinheit nicht mehr wahrgenommen wird. Wir dürfen damit nicht unter uns bleiben, aber früher blieben wir de facto unter uns. Selbst Harnoncourt hat in seinen späteren Jahren erkannt, dass wir Gefahr laufen, uns mit einem unendlichen Wissen über die historische Aufführungspraxis zwar als Goldgräber zu betätigen, das Publikum aber mit zunehmender Spezialisierung nicht mehr mitnehmen zu können.
Das liegt vielleicht daran, dass das klassische Bildungsbürgertum immer kleiner wird.
Das klassische Bildungsbürgertum ist eine ausgestorbene Gattung. Viele Veranstalter und Veranstalterinnen glauben zwar, dass es so etwas noch gäbe, aber das ist vorbei. Vielen erscheint es unter ihrer Würde, Musik mit einer einfachen Sprache zu kommunizieren. Das Bildungsbürgertum hat uns ein großes Dilemma hinterlassen, nämlich die vielfach unterstellte Kompetenz des Publikums hinsichtlich der Kunst. Durch Kompetenz konnte sich diese Klasse von allen anderen unterscheiden. Brahms hätte seine Symphonien nicht auf die uns bekannte, komplexe Weise komponiert, wenn er nicht davon ausgehen hätte können, von seinem Publikum verstanden zu werden. Und dann kam Schönberg und glaubte tatsächlich, völlig verblendet, nach seiner Erfindung der Zwölftonmusik würden alle Menschen auf der Straße nur mehr seine Zwölftonreihen pfeifen. Diesen Irrsinn muss man sich mal vorstellen.
Die Bürgertumsblase dürfte damals ziemlich groß gewesen sein.
Ja, man wollte sich durch sein Wissen von anderen abheben, was mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu sehen ist. Diese Spezialisierung auf die Kunst innerhalb einer Gruppe von Menschen ist natürlich die Voraussetzung für die Höhenflüge in der Kunst, aber diese Höhenflüge funktionieren nur für diese eine Gruppe. Ich bin mir sicher, dass die Musik Schönbergs mehr oder weniger unvermittelbar ist. Die braucht man nicht mehr. Es ist doch absurd, dass ich zwischen der Musik und den Rezipient:innen heute einen Musikvermittler oder eine Musikvermittlerin als Übersetzungsorgan brauche.
Aber wäre nicht schon viel für die allgemeine Akzeptanz der klassischen Musik gewonnen, wenn man den Leuten erklärt, dass die Hymne der Champions League, die sie regelmäßig vor den Fußballübertragungen hören, von Georg Friedrich Händel stammt? Muss man nicht ein Bewusstsein für die Aufrechterhaltung der eigenen Musiktradition schaffen, auch bei Leuten, die diese vielleicht gar nicht kennen? Ließen sich damit nicht Diskussionen über die Schließung diverser Stadttheater unterbinden?
Das Stadttheater wird offenhalten können, wenn es in der Lage ist, sein Publikum zu faszinieren.
Aber die Häuser waren vor der Pandemie doch nicht leer. Das Musiktheater des Landestheaters Linz, um nur ein Beispiel zu nennen, erfreut sich eines generell großen Zuspruchs durch das Publikum, trotzdem hat die dortige Stadtregierung vor wenigen Jahren ihren Subventionsanteil eingestellt.
Man müsste ein so spannendes Programm machen, dass es in solchen Fällen einen Aufschrei in der Bevölkerung gibt. Offensichtlich sind wir von dieser Situation weit entfernt, weil wir die Bevölkerung vernachlässigt haben.
Wie hätte man die Bevölkerung Ihrer Meinung nach einbinden sollen?
An dieser Stelle möchte ich einen meiner Lieblingskomponisten, Johann Joseph Fux, zitieren. Der schreibt im Vorwort seiner Musiksammlung Concentus Musico-Instrumentalis, die er 1701 für sehr gebildete Menschen veröffentlicht: „Dieses Buch habe ich nicht geschrieben, um meine große Kunstfertigkeit zu beweisen. Dieses Buch habe ich geschrieben, um meinen Zuhörern ein Vergnügen zu machen, besonders denen, die nichts von Musik verstehen – das sind ja die meisten.“ – Das bedeutet: Musik ist nicht dafür da, gelehrig in Schach zu halten, sondern um glücklich zu machen. Das ist dieselbe Haltung, die auch Johann Sebastian Bach einnimmt. Und niemand würde heute behaupten, diese beiden Komponisten wären einem Richard Wagner oder Johannes Brahms nicht ebenbürtig. Sie haben einfach nur eine vorbürgerliche Haltung und sehen sich als Dienstleister am Vergnügen, und dieses Vergnügen bedeutet nicht einfach „Spaß“, sondern, den Zuhörer in seinem Seelenleben aufzubauen.
In welche Richtung wird die Styriarte demnach gehen?
Der Anspruch, sich keine künstlerischen Schwächen zu erlauben, bleibt freilich bestehen. Ansonsten gibt es keine heiligen Kühe. Im Dezember bringen wir in unserem neuen Medienhaus eine 65-minütige Instant-Version des Händel-Oratoriums «Il trionfo del Tempo e del Disinganno», und ich bin der Meinung, das ist kein Sakrileg. Händel hätte auch eine 65-minütige Version geliefert wenn er den Auftrag dazu erhalten hätte. Es gibt heute vielfältige Interessenslagen, und wenn Teile des Publikums kurze Konzerte cool finden, dann bedienen wir diese. Wir werden in unserer Ausrichtung populärer werden und auch Pop produzieren. Ich habe aktuell den Verdacht, dass in der Popmusik die Musikgeschichte weitergeht und dass der Neue Musik-Zweig eine Sackgasse ist, zumindest scheint sie mir nicht sonderlich vital zu sein. Ich übertreibe jetzt natürlich wieder.
Die Kunst als reine Unterhaltungsform?
Es ist eine anmaßende Haltung unseres Betriebes zu glauben, die Gesellschaft zu verbessern. Die Gesellschaft verbessert sich auch ohne uns. Junge Menschen, die auf dem Müllhaufen des Internets aufwachsen, haben eine so andere Sicht der Welt und werden völlig anders sozialisiert als jede Generation davor. Ich bin ja Bauer und verstehe den Misthaufen als durchaus positiv besetzte Quelle, aus der Neues entsteht. Ich glaube, dass da etwas unglaublich Tolles herauskommen wird und die neue Welt mit großem Tempo in eine bessere Welt verwandeln wird.
Inwiefern besser?
Besser im Sinne einer wirklich humanistisch durchdrungenen Gesellschaft, in der beispielsweise Frauen wirklich gleich viel wert sein werden wie Männer und Farbige gleich viel wert sein werden wie Weiße. Und zwar weltweit. Dieser Grundoptimismus ist der Hintergrund unserer künstlerischen Arbeit.
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