Oper im Steinbruch

Groß, größer, cinemascOper

Im Römersteinbruch bei St. Margarethen wird Puccinis Märchenoper «Turandot» zum riesigen Spektakel – auch im Fernsehen

Stephan Burianek • 16. Juli 2021

Amazonen vor burgenländischer Kulisse © Jerzy Bin

Gelegentlich zaubern die Wortfetzen, die einem nach der Vorstellung im Gedränge nach draußen unvermeidlich ins Ohr dringen, ein Schmunzeln auf die Lippen. „Wie der die Arie gesungen hat, habe ich eine Gänsehaut gehabt“, sagt eine männliche Stimme am Beginn des langen, gewundenen Wegs vom Steinbruch hinauf, zurück zum Parkplatz. Beinahe oben angelangt, resümiert ein anderer Herr: „Das hat mich heute nicht wirklich bewegt.“ – Zwei völlig unterschiedliche Eindrücke, und doch vermeint man beide zu verstehen.

«Turandot» ist eine große Oper par excellence, mit einem mächtigen Orchester, einem Chor und vielen Statisten, einer Arie, die selbst opernferne Menschen mitsummen können, und mit einer Handlung reich an Liebe, Tod und Drama. Es ist kein Wunder, dass Puccinis letztes Meisterwerk bei sommerlichen Open-Air-Produktionen bis heute zu den zehn, wahrscheinlich sogar zu den fünf beliebtesten Opern zu zählen ist. 

Die Esterházy Betriebe, die den imposanten Römersteinbruch im burgenländischen Sankt Margarethen als „Oper im Steinbruch“ betreiben, lassen sich in diesem Jahr nicht lumpen, jedenfalls nicht in optischer Hinsicht. Ganz so, als ob nun alles Versäumte aus dem kargen, vergangenen Jahr aufzuholen wäre, ließen sie den Bühnenbildner Paul Tate dePoo vor den hohen Sandsteinwänden des Steinbruchs ein Bühnenbild der Superlative erbauen, das wie ein Filmset für einen Historienschinken anmutet: Neben einem palastartigen Zentralbau versetzen u.a. eine gebogene Brücke, Pagodentürme und überdimensionale Lotusblätter und -blüten in das altertümliche China. Man mag das kitschig finden, großartig ist es in jedem Fall. Selbst ein riesiger Kahn kann in die Szenerie geschoben werden. Dessen aufgetürmten Totenköpfe von gescheiterten Liebeswerbern entkräften den Kitschvorwurf bald ebenso wie die prachtvollen und detailverliebten Kostüme von Giuseppe Palella, auch wenn der persische Prinz die Tracht eines Kambodschaners trägt.

Puccini verzichtete in seiner Märchenoper bekanntlich auf eine Ouvertüre, das Werk geht nach wenigen Fanfarentakten gleich in medias res. Er hatte nicht wissen können, dass hundert Jahre später Opernaufführungen auch dann gestartet werden müssen, wenn das Publikum noch gar nicht auf seinen Plätzen sitzt: Die besuchte Premierenvorstellung wurde vom ORF nur geringfügig zeitversetzt im Fernsehen übertragen, und so wurde die Handlung bis weit nach der Hinrichtung des persischen Brautwerbers von einem Dolby-Surround-Klappern der Metallsitze begleitet. Kurioserweise hatten die Zuschauer:innen vor ihren Fernsehern vermutlich ohnehin ein intensiveres Klangerlebnis, da die Tonanlage im Steinbruch zwar durchaus Power hat, die komplexe Orchesterfülle aber nur eingeschränkt wiederzugeben vermag. Ungeahnt dessen können dem Piedra Festivalorchester unter der Leitung von Giuseppe Finzi ideal gewählte Tempi bescheinigt werden.

So nah sah man Martina Serafin nur im Fernsehen © Jerzy Bin

Die exquisiten Stimmen der beiden Sängerinnen kamen indes besser zu tragen: Donata D’Annunzio Lombardi, die in österreichischen Breiten vermutlich noch nie zu hören war, vor allem in Italien aber offenbar eine gefragte Sopranistin ist, berührte mit einer großartig geführten Stimme, die von einem warmen, weichen Timbre gekennzeichnet ist, das die wehmütige Innenwelt der Dienerin Liù, die im Stillen ihren jungen Herren liebt, ideal zum Ausdruck bringt. Ihre ungleiche Gegenspielerin als selbstverliebte, sich mit adretten Affen umgebende Prinzessin Turandot war Martina Serafin, die man niemandem vorstellen muss. Ihr eleganter, schlanker und zugleich perfekt durchdringender dramatischer Sopran transportiert in seinem Klang so ziemlich alles, was man mit der Figur der Turandot verbindet, sei es Einsamkeit, Stolz, Entschlossenheit, innerer Zweifel oder die in Zaum gehaltene Leidenschaft.

Turandots Herz wird vom verblendeten Calaf erwärmt, dessen Partie am ersten Abend Andrea Shin übernahm (alle drei Protagonist:innen wechseln sich in der Aufnahmeserie mit jeweils zwei weiteren Kolleg:innen ab). Die Stimme des Südkoreaners fühlt sich am wohlsten, wenn sie brüllen darf und ist dem Helden- näher als dem Spintofach. Die Highlight-Arie „Nessun dorma“ gelang ihm nahezu makellos, das „Vinceró!“ gar glänzend.

Den mächtigsten, mit Szenenapplaus bedachten Auftritt hatte Benedikt Kobel als idealer Altoum, Kaiser von China (Compliance-Hinweis: Der österreichische Kammersänger hat für OPERN∙NEWS die Werbesujets gezeichnet). Durchwegs solide waren auch die weiteren Partien besetzt: Alessandro Guerzoni als Timur, der junge Mikołaj Bońkowski als greiser Mandarin und Leo An, Jonathan Winell sowie Enrico Casari als die Minister Ping, Pang und Pong. Den Philharmonia Chor Wien konnte man zwar hören, aber, ebenso wie das Orchester, nicht sehen.

Benedikt Kobel ist der Kaiser von China © Jerzy Bin

Während zu Beginn des zweiten Akts die drei Minister wehmütig von ihrer fernen Heimat singen, hat man die Augen ganz woanders: Am linken Bühnenrand springen, warum auch immer, Kaskadeure von der Brücke. Sie gehören zu jener Gruppe von Stuntmen, für die Ran Arthur Braun eine eigene Stunt-Choreographie entwickelt hat. Braun hat ein Faible für Feuersensationen, seine Leute dürfen sich aber auch an Mauern abseilen und in Ninja-Montur Angst und Schrecken verbreiten. Zudem war er für ein süß-schauriges Amazonenballett, eine exotische Schamanentruppe und Wischmopps schwingende Sumo-Ringer zuständig.

Brauns Choreographie zeigte auch: War während der beglückenden Intendanz von Maren Hofmeister das Musikdrama im Mittelpunkt gestanden, so hat unter der künstlerischen Direktion von Daniel Serafin nun – auf hohem handwerklichen Niveau und ohne den Einsatz von lebenden Tieren – wieder jenes Spektakel Einzug gehalten, durch das die Oper im Steinbruch in ihren Anfangsjahren stets gekennzeichnet gewesen war. Der Erfolg gibt Serafin zweifellos recht: Obwohl man das Kartenkontingent aufgrund der unsicheren Pandemie-Situation erst extrem spät aufstocken hatte können, war die Premiere ausverkauft, was bei einem Fassungsvermögen von 5.000 Sitzplätzen durchaus beachtlich ist. Hilfreich ist sicherlich, dass nach der Anti-Covid-Kontrolle am Eingang keine Schutzmasken getragen werden müssen (und auch nicht mehr gesehen werden).

Am Ende, wenn die Liebe gesiegt hat, zieht auf einer Anhöhe links von der Bühne einmal mehr das Stuntpersonal die Blicke auf sich – es erzeugt gefährlich aussehende, meterhohe Feuerbälle. Ein Augenfang, der davon ablenkt, dass auf der Bühne gerade irgendjemand ermordet wird. Aber wer, warum und von wem? Und was will uns der Regisseur Thaddeus Strassberger damit sagen? Die Lösung findet man vielleicht im Internet – wie gut, dass der ORF-Stream, zumindest in Österreich, sieben Tage lang abrufbar ist.

 

«Turandot» – Giacomo Puccini
Schluss von Franco Alfano
Oper im Steinbruch

Kritik der Premiere am 14. Juli 2021
Termine bis 21. August 2021

operimsteinbruch.at