Bayerische Staatsoper im Prinzregententheater

Reich und bunt

Am Münchner Prinzregententheater wird «Idomeneo», fast ungekürzt, zum musikalischen Ereignis, optisch zerfällt das Werk in schönem Dekor

Klaus Kalchschmid • 20. Juli 2021

Regisseur Antú Romero Nunes mag es spektakulär © Wilfried Hösl

Constantinos Carydis ist wahrlich ein aufregender Mozart-Dirigent: Vor zehn Jahren elektrisierte die ungemein temporeiche Münchner Festspiel-Aufführung des «Don Giovanni» unter seiner Leitung von der ersten bis zur letzten Sekunde. Die Münchner Neuproduktion des «Figaro» im Oktober 2017 war einzigartig kühn, zwar ausgetüftelt, aber dabei doch eminent packend; auch in der Salzburger «Zauberflöte» ein Jahr später geriet vieles genial anders. Nun also der 1781 im (Alten) Münchner Residenztheater, das heute nach seinem Architekten Cuvilliés-Theater genannt wird, uraufgeführte «Idomeneo» im Prinzregententheater als letzte Premiere der 13-jährigen Intendanz von Nikolaus Bachler.

Wie gesagt ist Carydis erst einmal ein Tüftler: Cembalo (Mark Lawson), Hammerklavier und (Truhen-)Orgel (Andreas Skouras), Erzlaute und Barockgitarre (Thomas Boysen) gibt es hier abwechselnd oder gleichzeitig für die Rezitative, die oftmals als recitativi accompagnati komponiert sind; auch so manches Dacapo einer Arie wird davon bereichert – und nichts davon ist improvisiert. Andererseits lässt Carydis es knallen, Blech und Pauke fährt wie ein Berserker dazwischen, und das Bayerische Staatsorchester klingt auf einmal auch in den Streichern, als wär’s  ein Originalklang-Ensemble. Und Naturhörner werden gespielt!

Schon der Beginn ist eigen: Während eben noch eine Männerstimme leise über Lautsprecher raunte, spielt derweilen auf der Bühne ein winziges Orchester ganz kammermusikalisch zart wohl ein Stück der am Ende ungekürzt (und getanzt!) dargebotenen Ballettmusik. Plötzlich rauschen die ersten Akkorde der Ouvertüre wie ein greller, wilder Wirbelwind durch das Prinzregententheater. Das bleibt dank seiner Architektur, die dem Bayreuther Festspielhaus nachgebaut ist - und damit steil ansteigende Zuschauerreihen besitzt - Münchens Saal mit der besten Akustik und für Oper des Barocks wie der Klassik hervorragend geeignet.

Ein Meteorit oder ein Herz aus Stein? © Wilfried Hösl

«Idomeneo» des 25-jährigen Wolfgang Amadé ist eine geniale, vielleicht auch freche, vielleicht auch jugendlich ungestüme Mixtur aus französischer Barockoper mit Chören und Ballett, später italienische opera seria in den Arien und doch auch schon frühes Musikdrama, nicht zuletzt in den zahlreichen Ensembles und in den manchmal fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Nummern. Wird das Werk bis auf Striche in den Rezitativen ungekürzt gespielt, hier sogar noch ergänzt um zwei für Wien 1786 nachkomponierte Arien des Idamante, hört man die Janus-Köpfigkeit noch mehr. Und Carydis tut alles, um auch ja nichts davon zu glätten. Deshalb reizt er auch die dynamischen Extreme aus und die der Tempi. Das ist nicht immer gut für den musikdramatischen Fluss. Und so schön auch Martin Mitterrutzner die beiden Arien des Arbace singt, die in München erstmals seit der Uraufführung wieder im Doppelpack zu hören sind, so verzichtbar erscheint doch die erste, mit deren weitgespannter Tessitura der junge Tenor auch ein wenig seine liebe Mühe hat. Außerdem strotzen die Koloraturen, die Carydis ihm geschrieben hat, nicht gerade vor Originalität, sondern bilden offen hörbar ab, wie man das seinerzeit wohl gemacht hat. Aber dieser musikhistorische Blick ist doch auch ungemein spannend und entschädigt für vieles allzu unverbindlich Dekorative im Szenischen an diesem Abend.

Da sind als erstes die Bühnenskulpturen der Künstlerin Phyllidia Barlow zu nennen, der bis zum 25. Juli eine große Ausstellung im Münchner Haus der Kunst gewidmet ist. Das Schöne an ihren Installationen im Prinzregententheater für die Inselwelt des «Idomeneo» ist, dass sie anders als im Museum wunderbar vielfältig, ja magisch von Michael Bauer beleuchtet werden. Aber warum ein riesiger Meteorit, der ein bisschen aussieht wie ein vertrocknetes menschliches Organ, erst schwebt, dann auf Stelzen herumgefahren wird oder wofür die seltsam vom Salzwasser verwitterte Aussichtsplattform steht, die ebenfalls aus verschiedenen Perspektiven zu bestaunen ist, darüber darf man rätseln. Schon konkreter sind da zwei bunte Baumhäuser, die zu Beginn des dritten Akts für das Duett Ilia-Idamante in luftiger Höhe gut geeignet sind und ebenfalls von allerlei Bühnenarbeitern bewegt werden. Überhaupt wird der Abend immer bunter, gibt es Ankleiderituale für die Männer, die der Opferung Idamantes durch seinen Vater beiwohnen, der Neptun gelobt hat als Dank für seine Errettung aus Seenot den Menschen zu opfern, den er als ersten an Land trifft. Die Kostüme von Victoria Behr für die Tänzer am Ende sind dann endgültig eine Orgie in Farben, Troddeln und Schnüren (auch als Haare!), als wär’s eine Mischung aus Basler Fasnacht und wilden Stammesritualen, choreographiert von Dustin Klein, einst Tänzer am Staatsballett. Derweilen sitzt Idomeneo auf der gelben Kiste, die grade für die in letzter Sekunde durch Orakelspruch verhinderte Hinrichtung hergerichtet wurde, und mümmelt ein Pausenbrot, bevor er ganz am Ende mit den Modellen der Barlow-Skulpturen spielt und sie vor sich auf der Holzkiste drapiert.

Olga Kulchynska (Ilia) und Idamante (Emily D’Angelo) in luftiger Höhe © Wilfried Hösl

Das ist dann endgültig die Bankrotterklärung der Regie des jungen Schauspielregisseurs Antú Romero Nunes, der an der Bayerischen Staatsoper schon «Guillaume Tell» (2014) und Verdis «Les Vêpres siciliennes» (2018) mit mäßigem Erfolg in ebenfalls spektakulärer Optik inszenierte. 2016 machte er aus Marschners «Vampyr» in Berlin und Genf einen herrlich durchgeknallten Horrorfilm. Jetzt aber versäumt er es trotz allerlei fliegenden Statisten und eines mauen Bewegungschores, den Konflikt zwischen den Figuren einigermaßen dicht und zwingend zu erzählen, von dem die Oper handelt. Doch der ereignet sich glücklicherweise im Orchester und in den Stimmen der fünf Protagonisten wie des hervorragenden Chors der Bayerischen Staatsoper.

Allen voran ist Matthew Polenzani ein von (Herrscher-)Pflicht und (Vater-)Gefühlen hin und hergerissener Idomeneo mit flexibel lyrischem, aber auch zu Attacke fähigem Tenor, der seine große „Fuor del Mar“-Arie mit Bravour meistert. Ein schöner Gag verhindert dann die große, schon zur Uraufführung gestrichene, retardierende Schluss-Arie „Torna la pace“. Kaum hat Idomeneo nach dem Rezitativ mit der Arie angefangen, kommen ihm die fünf Streicher, die ihm auf der Bühne eine Gloriole hätten spielen sollen, einer nach dem anderen abhanden, als wär’s die Haydn‘sche Abschiedssymphonie.

Stimmlich wie optisch dramatisch: Hanna-Elisabeth Müller als Elettra © Wilfried Hösl

Auch Hanna-Elisabeth Müller hat als Elettra noch lyrische Qualitäten für ihre zweite Arie, aber sie wird mit flammender Intensität dem wütenden Furor im ersten und vor allem am Ende des dritten Akt mit großer, fast schon dramatischer Fülle gerecht. Am Ende deliriert sie sich mit bizarrem Koloratur-Gelächter wahrlich in die Hölle zu ihrem Bruder Orest und übergießt sich gleich noch literweise mit Pech, an dem sie schließlich erstickt. Olga Kulchynska als Ilia ist ganz verliebte Unschuld, bleibt mit ihrem schönen, lyrischen Sopran aber doch ein wenig blass. So sehr ihr Idamante in Gestalt von Emily D’Angelo auch aussieht wie ein Junge und ein bisschen mit dunklem, schlankem Mezzo auch klingt wie ein Counter, fehlen doch auch ihr die Farben, eine stimmlich erzeugte und nicht nur behauptete Emphase. Dass sie „Non Temer“ aus der Wiener Tenor-Fassung transponiert singen darf und dabei statt von einer obligaten Geige vom fast redseligen Hammerklavier begleitet wird, war wohl spitzfindige Idee des Dirigenten wie auch, dass einmal das Fragment der d-moll-Klavier-Fantasie Mozarts erklingt, um Idamantes Erklettern eines großen Stamms bis unter den Schnürboden zu begleiten, während auf dem Boden eine Tänzerin sich verausgabt, warum auch immer! Und doch bleibt unter dem Strich die musikalische Seite das große Plus dieser Produktion, die erst einmal in der nächsten Spielzeit nicht wieder aufgenommen wird.



 

«Idomeneo» – Wolfgang A. Mozart
Bayerische Staatsoper im Prinzregententheater

Kritik von der Premiere am 19. Juli 2021
Termine: 
22./24./26. Juli 2021

Die Vorstellung am 24. Juli 2021 wird ab 18 Uhr kostenlos auf www.staatsoper.tv und BR-Klassik kostenlos übertragen und ist ab 26. Juli (19 Uhr) für 30 Tage auf der Website der Staatsoper verfügbar.