Bregenzer Festspiele

Viel Blut und wenig Tränen

Die Wiederentdeckung von Arrigo Boitos wildem «Nerone» wird im Festspielhaus musikalisch beglaubigt, szenisch aber vereitelt

Klaus Kalchschmid • 26. Juli 2021

Nach 56 Jahren Entstehungszeit fehlten immer noch die Komposition des fünften Akts und Teile der Instrumentation: Als Arrigo Boito 1918 starb, hinterließ er zwar keinen Torso, aber erst Arturo Toscanini konnte zusammen mit Antonio Smareglia und Vincenzo Tommasini das Werk vollenden und dirigierte 1924 die Uraufführung an der Mailänder Scala. Obwohl Enrico Caruso, der bereits freudig für die Titelrolle des «Nerone» zugesagt hatte, leider längst nicht mehr zur Verfügung stand, war der große, von Toscanini bevorzugte Verdi-Sänger Aureliano Pertile damals sicher keine schlechte Besetzung. 

Brett Polegato als Fanuèl © Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Wenn sich nun nach langer Zeit wieder eine Bühne der zweiten Oper Boitos widmet, die dem «Mefistofele» des 26-Jährigen von 1868 folgte, dann ist den Bregenzer Festspielen jede Aufmerksamkeit sicher. Am Ende der Sonntagvormittags-Vorstellung ist allerdings die Irritation nicht gering, und das liegt nicht nur daran, dass es höchst ungewohnt ist, nirgends im nahezu vollbesetzen Haus eine Maske tragen zu müssen, sondern an der problematischen szenischen Fassung. Denn einerseits verweigerte Regisseur Olivier Tambosi glücklicherweise einiges, was das Libretto an Schauwerten zwischen Tempelkult und Gladiatorenkämpfen im Circus Maximus, der in Flammen aufgeht, fordert, andererseits schüttet er mit Hilfe vor allem seiner Kostümbildnerin Gesine Völlm ein Füllhorn aus und damit die gewaltigen Tableaux beinahe zu. Selbst bei Kenntnis von Libretto und Musik kann man daher dem Verhandelten und Dargestellten auf der vielfach bewegten Drehbühne von Frank Philipp Schlössmann nur mit Mühe folgen. 

Kaiser Nero, von Gewissensbissen wegen des Mords an seiner Mutter geplagt, tritt die Flucht nach vorn an und frönt seinen Schaulüsten, ob theatralisch, erotisch oder sadistisch. Die Christen Fanaèl und Rubria sind seine Gegenspieler, noch mehr aber Simon Mago, der sich die Charakterschwächen des Kaisers zunutze macht. Asteria wiederum verehrt und begehrt ihn, ist aber zwischen Heiden- und Christentum hin- und hergerissen. Am Ende stirbt Rubria in den Armen Fanaèls. Im nicht komponierten fünften Akt hätte sich Asteria umgebracht und wäre Nero wahnsinnig geworden.

© Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Olivier Tambosi bedient sich einerseits der Ästhetik der Filme von Visconti («Die Verdammten») oder Pasolini («Saló»), die den italienischen fascismo anprangern, und lässt das Ganze in der Zeit der Uraufführung, also den 1920er-Jahren spielen. Doch das sieht dann so plakativ und grell aus, dass es manchmal an eine Schüler-Aufführung erinnert, für die ein bisschen zu viel Ausstattungsetat zur Verfügung stand. Da reckt der Chor – Männer wie Frauen im grünen Einheits-Cocktailkleid, die Locken onduliert  – unkoordiniert die Extremitäten in alle Richtung, als sollte es eine Parodie sein. Und dem Hirn von Nero entstammen wohl auch die allzu eindeutig kitschigen Christus-Analogien mit Dornenkrone und blutendem Herz auf weißer Toga, als wär’s ein Foto von Pierre et Gilles. Denn Nero lässt offensichtlich vieles für sich inszenieren, auch Nonnen, die Emaille-Schüsseln wie Monstranzen vor sich hertragen, oder ein Revival der Bergpredigt inmitten von Zypressen. Und wenn am Ende Asteria und Fanaèl im Keller unter den Leichen nach Rubria suchen, dann werden diese auch mit viel Blut auf nackter Haut ausgestellt.

Dass ausgerechnet Rafael Rojas als Nero trotz aller Doppelgänger um sich herum und trotz guten tenoralen Steh- und Durchhaltevermögens seltsam blass bleibt, macht es für alle Beteiligten nicht einfach. Mehr Format und dunkles Charisma hat da schon Lucio Gallo als Simon Mago, der den Kaiser intrigant beherrscht und die Christen verfolgt. Wer jetzt an Otello und Jago denkt, liegt nicht falsch, denn Boito war nicht nur der kongeniale Librettist von «Otello» und «Falstaff», sondern hat von Verdis vorletzter Oper viel gelernt. Brett Polegano ist als christlicher Apostel Fanuèl mit ausdrucksreichem Bariton gesegnet. Und auch das komplementäre Frauenpaar ist mit der schillernden Sopranistin Svetlana Aksenova als Asteria, die den Kaiser gottgleich verehrt und begehrt, und Mezzosopranistin Alessandra Volpe als Christin Rubria exzellent besetzt.

Brett Polegato als Fanuèl mit Alessandra Volpe als Rubria © Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Leider setzt Dirk Kaftan vor allem in den ersten beiden Akten dem hybriden Oberflächenglamour in den Kostümen, bei dem sogar hölzerne Wanderstäbe paillettenbesetzt blinken und die allseits dominierenden Blutflecken mal realistisch aussehen, mal irisierend schimmern, im Graben mit den Wiener Symphonikern eine oftmals noch etwas kühle, trockene, vielleicht allzu analytische Sicht der doch manchmal überbordenden Partitur mit ihren unvermuteten Abbruchkanten im Melodischen wie Harmonischen entgegen. Erst nach der Pause, wenn Bühnenmusik und Chöre von überall her Expression und Extravaganz in der hier ins Off verbannten Arena noch steigern, gibt er die Zurückhaltung auf. Nicht zuletzt im Vorspiel zum dritten und im Zwischenspiel des vierten Akts kann man sich ganz auf die die teils wahrhaft überwältigende Musik konzentrieren und ertappt sich beim Gedanken, dass eine konzertante Aufführung mit dem Orchester auf der Bühne und Sänger:innen, die sich ganz auf die musikalische Seite ihrer Partien hätten konzentrieren können, keine so schlechte Lösung gewesen wäre. Oder eines von zwei Extremen der Szenografie: Auf der einen Seite die Strenge Christof Loys oder andererseits die wilde Expressivität eines Lorenzo Fioroni. Weichgespülte Plakativität jedenfalls leistet Arrigo Boitos ambitioniertem, vielleicht auch auf hohem Niveau gescheitertem Experiment einen Bärendienst.



«Nerone»  Arrigo Boito
Bregenzer Festspiele, Festspielhaus

Kritik der Vorstellung am 26. Juli 2021
weiterer Termin: 2. August 2021