Bayreuther Festspiele

Die Sehnsucht bleibt

Ein Auftragswerk, ein politisch-korrektes Happening, eine Kinderoper und der Mut zu scheitern – in den Bayreuther Festspielen atmet der Zeitgeist

Stephan Burianek • 06. August 2021

Rheintöchter in «Rheingold - Immer noch Loge» © Enrico Nawrath

Unser erster Festspieltag beginnt mit dem „Schrei nach Liebe“. Auf dem Weg zu der in diesem Jahr notwendigen Besucherregistrierung dröhnt dieser Hit der Punkrock-Band Die Ärzte aus der eingezäunten Zone am Fuße des Grünen Hügels. Soundcheck. Anderthalb Stunden später geht es dort, rund um den Teich, offiziell los. Mehrere Minuten lang schwankt ein meditativer Ton in der Tiefe, der an ein Didgeridoo erinnert, aber nicht nur daran: Der Beginn von Gordon Kampes Oper «Rheingold – Immer noch Loge», einem Auftragswerk der Bayreuther Festspiele, stellt unverkennbar einen Bezug zum Beginn von Richard Wagners «Rheingold» her, und klingt doch ganz anders. Inhaltlich dockt das Libretto von Paulus Hochgatterer dort an, wo Wagners «Götterdämmerung» endet – nach dem Weltenbrand: Walhall liegt in Asche, die Rheintöchter löschen die letzten Gluten. Erda hält Gericht über Loge, der sich freilich keiner Schuld bewusst ist. Im Laufe des Werks klingen hin und wieder, stark verfälscht, kurze Musik- und Textzitate aus dem «Ring» an. Im Zentrum der Musik stehen klassisch komponierte Kantilenen, die stark an Wagner und Strauss erinnern und den Sänger:innen dankbar-singbare Möglichkeiten bieten. Inszeniert wird diese Uraufführungsproduktion von Nikolaus Habjan, der sich als Puppenspieler längst einen klingenden Namen gemacht hat. Er führt auch die Puppe der im Rollstuhl sitzenden Erda, deren Partie von Stephanie Houtzeel gesungen wird. Die Mezzosopranistin singt aber auch eine der drei Rheintöchter. Die insgesamt fünf Figuren werden von drei Personen gesungen – eine Lösung, die Verwirrung stiftet, zumal der Bariton Günter Haumer sowohl Loge als auch eine weitere Rheintochter singt und Loge zunächst nur zu hören, aber nicht zu sehen ist. Unabhängig davon lohnen das pittoreske Setting und die hübschen Puppen den Besuch. Trotzdem wäre es schön, dieses Werk nochmals in einem geschlossenen Raum zu hören – die Tonanlage ist für die Ärzte besser geeignet als für ein bläserdominiertes Kammerorchester, das im Hintergrund in einem Zelt versteckt spielt.

Politisch korrektes Happening

«Die Walküre» à la Nitsch © Enrico Nawrath

Kampes Komposition bildet einen Teil der diesjährigen Veranstaltungsreihe „Diskurs Bayreuth - Ring 20.21“, ebenso wie abendliche «Walküre»-Vorstellungen im Festspielhaus, die ein einmaliges Happening bieten: Angekündigt war eine konzertante Aufführung mit einer begleiteten Malaktion durch den Schüttmeister Hermann Nitsch. Das gefiel freilich nicht jedem, viele Wagnerianer haben eine ganz konkrete Vorstellung von einer idealen Bebilderung. Warum der eine Herr im Publikum, der sich am Ende die Kehle aus dem Leib buhte, als der betagte Künstler auch nach der zweiten Aufführung, geführt von Tomasz Konieczny, auf die Bühne trat, war indes nicht klar. Das Ergebnis war keine große Überraschung, Nitschs Aktionen sind seit einem halben Jahrhundert ein alter Hut. Ob den Herrn die Tatsache enttäuscht hatte, dass Nitsch, vielleicht altersmilde, an diesem für ihn heiligen Ort auf echtes Blut und Fäkalien verzichtet hatte? Stattdessen legte er den Fokus auf kräftige Farben, alle tier- und menschenfreundlich wohlgemerkt, die von seinem Team von oben kübelweise auf die anfangs weiße Leinwand geschüttet wurden, was vor allem im zweiten Aufzug stimmungshafte Übermalungen und verstohlen für Fotos in die Höhe gehaltene Handys zur Folge hatte. Nur vor der Todesverkündigung wurde es schwarz. Der Walkürenritt geriet indes grellbunt, der Feuerring wurde gleichsam auf die Wand gespritzt, und auch die Besudelung einer gekreuzigten Person sowie eines Monstranzhalters durften beim Erfinder des Orgien-Mysterien-Theaters nicht fehlen. Von dieser Produktion wird noch lange gesprochen werden, man wird sie verklären und ihr schließlich den Stempel des Legendären aufdrücken. Zurecht.

Das musikalische Highlight in dieser «Walküre» war zweifellos die Sieglinde von Lise Davidsen, die auch in dieser Partie mit kräftiger Stimme innig zu rühren versteht. Hingegen klang Klaus Florian Vogt als Siegmund allzu angestrengt, und sein Timbre muss man nicht mögen – das Publikum liebt ihn indes nach wie vor, wie der Schlussapplaus zeigte. Der diesjährige „Retter von Bayreuth“-Titel geht an Tomasz Konieczny, der in dieser «Walküre»-Serie kurzfristig für Günther Groissböck eingesprungen ist, der wiederum unmittelbar nach der Generalprobe abgesprungen war. Konieczny war mit seiner wuchtigen, in tiefen Lagen wunderbar schnarrenden Stimme die bestmögliche Alternative und wusste den Zwiespalt zwischen Wotans Enttäuschung und dessen Liebe zu seiner Tochter Brünnhilde stimmlich wie darstellerisch überzeugend zu vermitteln. Großartig klang auch Christa Mayer als Fricka, bereits etwas schrill und in den Höhen schwierig hingegen die Brünnhilde von Iréne Theorin.  

Dirigiert wurde das Werk von Pietari Inkinen dem Vernehmen nach nicht ganz so langweilig, wie dies vor zwei Jahren Plácido Domingo geschafft haben soll, aber eine Empfehlung für den gesamten «Ring»-Zyklus im kommenden Jahr gab der Finne keine ab. Zu diffus, zu zähflüssig drang es aus dem Graben, selbst der finale Feuerzauber loderte kaum – es bleibt die Hoffnung, dass dieser Probelauf im kommenden Jahr zu mehr Transparenz und besser gespannten Bögen führen wird.

Brutaler Realismus

Tcherniakovs Bühnenbild von «Der fliegende Holländer» © Enrico Nawrath

Besser kam Oksana Lyniv als erste Frau im Bayreuther Orchestergraben mit den akustischen Besonderheiten des Festspielhauses zurecht. Zwar versteckten sich auch bei ihrem Dirigat des «Fliegenden Holländers» manche Motive, sie packte aber zu, wo dies in diesem Werk geboten ist und sorgte damit für die erfreuliche Untermalung einer merkwürdigen Inszenierung. Nach seinem «Freischütz» kürzlich an der Bayerischen Staatsoper wurde einmal mehr die Vermutung bestätigt, dass es Dmitri Tcherniakov bei seinen Inszenierungen weniger auf eine eigene Sichtweise oder die Herausarbeitung einer Werksessenz ankommt, sondern das jeweilige Werk stattdessen als reine Inspirationsgrundlage für die Visualisierung seiner persönlichen Gedankenwelt betrachtet. Anders sind die Veränderungen in der Handlung nicht zu erklären: Während des inszenierten Vorspiels sehen wir den Holländer als Jungen an der Hand seiner Mutter, die nach einer erfolglosen Liebschaft von der Gemeinde ausgeschlossen wird und sich erhängt. Als Rächer kehrt er nach Jahren wieder, nimmt sich die Tochter des Liebhabers seiner Mutter, tötet bei einer Konfrontation zwischen seinen Mannen und der Gemeinde zwei Bürger und legt die Stadt in Flammen, woraufhin ihn Mary, die ihn heimlich verehrt hat, rücklings erschießt. Dass Tcherniakov mit dem Sagen- und Märchenhaften in romantischen Opern nichts anfangen kann und diese Elemente in seinen Inszenierungen radikal ausradiert, ist schade – diese Themenverfehlung machen selbst die handwerklich gut gearbeitete Personenregie, die schön ausgeleuchtete Bühnenästhetik (Bühne: Tcherniakov) und die hochwertigen Kostüme von Elena Zaytseva nicht wett. 

Freudig lauschte man indes den Interpret:innen auf der Bühne. Nach der Premiere war Asmik Grigorian in aller Munde gewesen, und auch in der dritten Vorstellung überstrahlte sie als rotzfreche und aus Trotz liebende Senta ihre durchwegs hochklassigen Kolleg:innen mit ihrer dramatischen und zugleich von einer scheinbaren Leichtigkeit geprägten Stimme, die Grigorian trotz ihrer Kraft schlank zu führen versteht, und der eine Wehmut von unglaublicher Intensität innewohnt. John Lundgren war, wie bereits drei Jahre zuvor, ein verlässlicher Holländer, der seinen bisweilen eintönigen Stimmklang mit wuchtiger Vehemenz ausglich. Großartig in Stimmpracht und Diktion präsentierte sich einmal mehr Georg Zeppenfeld, der erstmals in Bayreuth als Daland zu hören war. Anders als sonst üblich mutierte in diesem Jahr Erik zu einem ernsthaften Gegenspieler Holländers, denn so kräftig, wie Eric Cutler den Verehrer Sentas stimmlich zu verkörpern weiß, hört man diese Partie selten. Solide präsentierte sich Marina Prudenskaya als Mary. Und der Chor? Nun, es ist fast schon beängstigend, was technisch bereits möglich ist: Der Ton wurde wegen Corona aus dem Chorsaal übertragen, die Mitglieder auf der Bühne übten sich in Playback, was in der 27. Reihe kaum aufgefallen wäre, hätte man es nicht gewusst. 

Alljährlicher Lichtblick

Kinderopern-Fassung von «Tristan und Isolde» © Enrico Nawrath

Zu den schönsten Traditionen in Bayreuth zählt seit dem ersten Jahr von Katharina Wagners Festspielleitung (2009, damals noch mit Eva Wagner-Pasquier) die Kinderoper, zumal der Nachwuchs darin erstklassige Stimmen zu hören bekommt. Diesmal stand eine einstündige Fassung von „Tristan und Isolde“ auf dem Programm, erstmals nicht in der Probebühne IV, sondern, wohl ebenfalls pandemiebedingt, in der Reichshof-Bühne in der Maximilianstraße im Zentrum Bayreuths. Was soll man sagen: Stephen Gould war Tristan, die «Walküre»-Walküren Kelly God und Simone Schröder schlüpften in die Partien von Isolde bzw. Brangäne. König Marke war der norwegische Bass Jens-Erik Aasbø, der im kommenden Jahr als Fasolt erstmals im Festspielhaus zu erleben sein wird. Auf dem Balkon spielte das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) unter der Leitung von Azis Sadikovic so klar und präzise, dass man es für das Bayreuther Festspielorchester hätte halten können. Kindergerecht wurde die Geschichte auf konventionelle Art erzählt, mit Kostümen, die auf Erwachsene altbacken wirken mögen, im Rahmen eines Kostümwettbewerbs aber immerhin von Duisburger Kindern entworfen wurden. Der vergleichsweise kleine Rahmen förderte auch diesmal wieder ein Kammerspiel von unglaublicher Intensität. Wer ein Kind hat oder sich in Bayreuth eines für eine Stunde ausborgen kann, der weiß spätestens jetzt, was im kommenden Jahr zu tun ist.

Außer den besprochenen Produktionen sind mit «Tannhäuser» und – zum letzten Mal – «Die Meistersinger von Nürnberg» wieder die Geniestreiche von Tobias Kratzer bzw. Barrie Kosky zu sehen, außerdem gibt es am 10. August einen konzertanten «Parsifal» unter Christian Thielemann sowie zwei Konzerte unter Andris Nelsons (22. und 25. August).

In zwei Jahren ist eine «Parsifal»-Neuinszenierung von Jay Scheib geplant, der in seinen Arbeiten immer wieder mit den Möglichkeiten neuer visueller Techniken spielt. Unter dem Titel „Sei Siegfried“ gibt es in den «Walküre»-Pausen einen Appetitanreger: Mithilfe einer Virtual-Reality-Maske besteht die Möglichkeit, in die Rolle des Drachentöters zu schlüpfen. Sobald die Maske korrekt sitzt, steht man im Festspielhaus. Mit einem Schwert stößt man einem furchterregenden Drachen ins Herz, dennoch steht das Festspielhaus danach in Flammen. Die Brechung der Ernsthaftigkeit durch zeitgemäße und niederschwellige Angebote ist ein zeitgeistiges Charakteristikum der Festspiele unter Katharina Wagner. Wohin auch immer sich die Bayreuther Festspiele in den kommenden Jahren weiterentwickeln werden – die immerwährende Sehnsucht nach Liebe wird bleiben.