Michael Hofstetter
„Wir müssen bleibende Hörerfahrungen schaffen“
Der Intendant der Internationalen Gluck-Festspiele und Künstlerische Leiter des Tölzer Knabenchors hat den Komponisten Christoph W. Gluck für sich neu entdeckt. Diese Erfahrung möchte er nun weitergeben
Stephan Burianek • 28. September 2021
In Bezug auf Christoph W. Gluck sei Ihre Intendanz der „Aufbruch zu einem neuen künstlerischen Selbstverständnis“, ist auf der Homepage der Gluck-Festspiele zu lesen. Was ist damit gemeint?
Für mich hat sich durch die Bestellung zum Intendanten eine neue Welt erschlossen, denn natürlich beschäftige ich mich seither viel ausführlicher und umfänglicher mit Glucks Werk, obwohl ich zuvor bereits die eine oder andere Oper von ihm dirigiert habe. Seine Geisteswelt und die seelischen Tiefe der Figuren, die er in seinen Reformopern beschreibt und in seinen Opern durchführt, waren für mich eine Entdeckung! Er holt die großen menschlichen Daseinsthemen in die Oper und revolutioniert das Genre. Er geht weg von reinen Affektdarstellungen, die zu austauschbaren Arien geführt haben – weil Rache wie Rache und Liebe wie Liebe klingen mussten – und macht einen Schritt hin zu tiefen Persönlichkeitsentwicklungen und zur tiefenpsychologischen Durchleuchtung seelischer Bewegungen. Vor diesem Hintergrund bezeichne ich Gluck als den vielleicht größten oder bedeutendsten Humanisten der Operngeschichte.
Wird der Fokus der Gluck-Festspiele künftig auf den Reformopern liegen?
Nein. Selbst in jenen Opern, die Gluck im tradierten Stil der Opere serie geschrieben hat, hört man diesen genialen Drive, der den Gluck’schen Akzent ausmacht. Pietro Metastasio hat die Gluck’sche Vertonung seines Librettos von «Semiramide riconosciuta» nicht umsonst als „musica archi-vandalica insopportabile“ („unerträgliche, vandalistische Streichermusik“) bezeichnet – dem war sie einfach zu heftig! Entscheidend für die Gluck’sche Reform war eine räumliche Trennung: Gluck hätte sie im musikalisch-traditionellen Italien gar nicht durchführen können. Sie war ihm erst später in seinen Jahren in Wien, am Hof von Maria-Theresia, und dann in den Jahren in Paris, am Hof von Marie-Antoinette, möglich. Ihm ging es immer um die authentische Wahrhaftigkeit und um die Erzählung einer fulminanten Story. Er stellte sich gegen endlose Koloraturen, bei denen eine Silbe über fünf Takte gedehnt wurde, sodass die Zuhörer am Ende nicht mehr wussten, was der Sänger anfangs eigentlich erzählen wollte. Er war es, der den von der Oper gelangweilten Jean-Jacques Rousseau mit seinem «Orfeo ed Euridice» zur Oper bekehrte.
Interessant! Aber wie ist das „neue künstlerische Selbstverständnis“ jetzt zu verstehen?
Was wir vermitteln wollen: Gluck wendet den Blick von einer äußerlichen Affektdarstellung auf den inneren Seelenspiegel. Ich glaube, dass ein Hineinloten in diese Authentizität, diese Seelenwelten und diese Geistestiefe von Glucks Musik – gemeinsam mit der Erkenntnis, dass Gluck damit ein Tor in die Kunst des 19. Jahrhunderts aufmacht – nicht nur für mich eine neue Erfahrung sein wird. Der Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart schrieb in Glucks Nekrolog: „Was Bach für Deutschland, Händel für England, Lully für Frankreich und Jomelli für Italien getan hat, das tat Gluck für die ganze Welt“. Vielen ist heute nicht klar, warum Gluck von seinen Zeitgenossen als derartiger Gigant angesehen wurde. Das wollen wir ändern.
Auf der Homepage steht außerdem, Glucks Schatz sei „nie gehoben“ worden. Das werden Ihnen Ihre Vorgänger übel nehmen, immerhin finden die Gluck-Festspiele bereits seit 2005 alle zwei Jahre in Nürnberg und Umgebung statt.
Wenn man etwas für sich entdeckt, dann sagt man natürlich mit dem Brustton der Überzeugung, dieses oder jenes sei noch nie dagewesen. Dass wir Gluck als humanistischen Giganten ins Zentrum stellen, ist in der Festspielgeschichte aber sicherlich neu. Im kommenden Jahr werden wir nicht nur ein Programmheft mit den üblichen Texten über die Werke veröffentlichen, sondern es zusätzlich mit Texten von Menschen anreichern, die zu den jeweiligen Themen etwas zu sagen haben. Es wird Texte von einem Zen-Meister, einem Schamanen und von Pater Anselm Grün geben.
Sie wollen Gluck also philosophisch ergründen.
Ja, aber nicht nur. Es gibt auch musikalische Schätze, wie noch nicht eingespielte Arien für den Wiener Hof, die damals von den Prinzessinnen und der Kaiserin gesungen wurden.
Das musikalische Bildungsniveau in unserer Gesellschaft nimmt ab, daher sind für die meisten Kulturinstitutionen die Vermittlung und die Zugänglichkeit von Kunst mittlerweile ein wichtiges Thema. Besteht in der Aufführung von möglichst vielen Raritäten nicht die Gefahr, dass man irgendwann nur mehr eine informierte, geschlossene Kunstblase bedient?
Mit einer allzu starken Spezialisierung schließt man viele Menschen aus, das ist richtig. Es gibt allgemein keinen Bildungskanon mehr, der als Orientierung dient. Auch ist eine musikalische Ausbildung nicht mehr selbstverständlich. Als ich ein Kind war, hat mehr oder weniger jeder Klavier gelernt, das ist heute eher die Ausnahme. Irgendwann musste man sich in der Schule dann zwischen Musik und Zeichnen entscheiden, was ich absurd finde, denn in der Schule geht es doch auch um die Menschenbildung!
Wir möchten im kommenden Jahr mit dem Calmus Ensemble in die Schulen der Nürnberger Region gehen und Chor-Workshops anbieten. Die Schulchöre sollen auch gemeinsam mit dem Ensemble singen, und wenn sich die Schulleitungen für diese Idee offen zeigen, dann würde ich gerne gemeinsame Konzerte in das Festival integrieren. Wir müssen bleibende Hörerfahrungen schaffen, die nachhaltig beglücken. Nur so können Kinder oder Jugendliche an die Musik herangeführt werden, und nur so wird man letztlich zum Musiker oder Musikfan. Eine solche Herangehensweise könnte außerdem gut als Brücke zu Gluck funktionieren.
Sie positionieren die Gluck-Festspiele als Flächenfestival innerhalb der Nürnberger Region. Bedienen Sie damit auch einen touristischen Aspekt?
Unbedingt. Wir möchten uns nach und nach in der Region ausbreiten, und ich freue mich, dass das Interesse der Städte in der Region wächst. Die Metropolregion Nürnberg ist voll mit den herrlichsten Kulturschätzen, mit Schlössern und Kirchen vom Feinsten in kleinen, historischen Residenzstädten. Außerdem ist sie eine Genussregion, sowohl das Bier ist erstklassig als auch der Wein und das Essen.
Auch der Radtourismus ist hier stark. In Ungarn gibt es ein Klassikfestival, bei dem man von Bühne zu Bühne um einen See herum fährt.
Gute Idee! In Berching gibt es einen Gluck-Wanderweg, vielleicht könnte man da ein ähnliches gemeinsames Erlebnis schaffen.
Sie wurden kürzlich auch Künstlerischer Leiter des Tölzer Knabenchors, der seinen Sitz in München hat. Werden Sie seine Tradition weitgehend weiterführen oder planen Sie Neues?
Es gibt verschiedene Traditionen in diesem Chor. Zum einen haben sie eine ganz spezielle, hochprofessionelle und exzellente Form der Stimmbildung, daher singen die Tölzer Knaben auf der ganzen Welt und treten regelmäßig in großen Opernhäusern auf, etwa als die drei Knaben in der «Zauberflöte». Es gibt keinen Knabenchor, der auch nur annähernd so schön singt wie die Tölzer. Daran etwas zu ändern wäre sträflich.
Zum anderen ist das Knabensänger-Repertoire vor allem im 18. Jahrhundert angesiedelt, und sein Kern liegt natürlich bei Bach. Mich würde es aber auch interessieren, mit den Tölzern in das 19. Jahrhundert hineinzuhorchen. Aus dieser Zeit gibt es einige Werke, bei denen es mich reizen würde, neue Klänge zu finden und zu kombinieren.
Inwieweit wirkt sich die Pandemie auf die Arbeit eines Knabenchors aus?
Kein musikalisches Ensemble hat unter der Corona-Pandemie so gelitten wie die Knabenchöre. Dadurch, dass wir nicht proben durften, sind uns inzwischen anderthalb Jahrgänge einfach weggefallen. Das ist auch für die Buben eine Katastrophe. Die fangen als Sechs- oder Siebenjährige mit der Ausbildung an, werden großartige Sänger und sind dann mit zwölf oder dreizehn Jahren auf dem Zenit. Wenn man denen anderthalb Jahre raubt und sie in diesem Zeitraum in den Stimmbruch kommen, dann macht man ihnen das kaputt, was sie nach Jahren der Vorbereitung auf den großen Bühnen der Welt hätten erleben können. Für uns ist das natürlich auch ein Riesenproblem. Wir hatten beim Tölzer Knabenchor zuvor nie Nachwuchsprobleme, weil unsere Lehrer üblicherweise in die Schulen gehen und dort mit den Schülern singen, wodurch viele Schüler ihre Lust am Singen entdecken. Dadurch hatten wir jährlich um die hundert Bewerbungen. Durch das Homeschooling mussten wir uns darauf beschränken, Flyer auszuschicken und die Lehrer zu bitten, die Schüler zu informieren. Das Ergebnis waren zwölf Anmeldungen.
Wie begegnen Sie dieser Situation?
Wir arbeiten derzeit in kleineren Gruppen, um das nachzuholen, was diese Kinder versäumt haben. Bei uns lernen die Kleinen von den Großen, und zum Glück haben wir noch gut ausgebildete Knaben, die noch nicht im Stimmbruch sind.
Sie waren als Musiker vor der Pandemie ständig auf Reisen. Jetzt leiten Sie zwei Institutionen in geografischer Nähe. Ist diese Situation auch ein bewusster privater Umbruch?
So sehr ich das Reisen von Hotel zu Hotel in den vergangenen dreißig Jahren genossen habe, so sehr genieße ich es jetzt, wieder zu Hause zu sein. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Hermann Hesse hat in Bezug auf die künstlerische Arbeit von der Balance zwischen der „Vita activa“ und der „Vita contemplativa“ gesprochen. Die Umsetzung von Kunst, etwa das Dirigieren, ist das „aktive Leben“, und das Studium im Vorfeld zur Umsetzung, in diesem Fall das Studium der Partitur, ist das „kontemplative Leben“. Hesse meinte, man solle nicht stets vom einen ins andere „Leben“ hetzen, sondern in beiden zu Hause sein. Ich habe gemerkt, dass ich mit zunehmendem Alter mehr Zeit für Kontemplation brauche und freue mich sehr, jetzt auch in dieser Hinsicht nach Hause zu kommen.
Das Gespräch fand am 17. September während der Gluck-Festspiele in der Künstlergarderobe des Historischen Reitstadels in Neumarkt in der Oberpfalz statt.
Michael Hofstetter dirigiert seit mehr als dreißig Jahren an den Opernhäusern, Konzertsälen und Festivals dieser Welt und gilt als Spezialist der Barockmusik. Für sein Engagement im Bereich der Operette erhielt er die Robert-Stolz-Medaille, seine Arbeit bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen wurde mit dem Horst-Stein-Preis gewürdigt. Mehrfach wurde er zudem vom Fachmagazin Opernwelt als „Dirigent des Jahres“ nominiert. Seit Januar 2020 ist der gebürtige Münchner, der seine Karriere an den Theatern in Passau und Wiesbaden begann, Intendant und Geschäftsführer der Gluck-Festspiele. Im Juni dieses Jahres wurde Hofstetter außerdem zum Künstlerischen Leiter des Tölzer Knabenchors ernannt. Seine jüngste CD-Einspielung „Cara Pupille“ (2020) mit dem Sopranisten Samuel Mariño, dem Händelfestspielorchester sowie Arien von Gluck und Händel, legen wir jedem Opernliebhaber ausdrücklich ans Herz.