Theater an der Wien in der Kammeroper

Nach der Liebe ist vor der Liebe

Philipp M. Krenn inszeniert Glucks «Orphée et Euridice» als transzendentale Trauerbewältigung

Stephan Burianek • 04. Oktober 2021

Sofia Vinnik singt sich als weiblicher Orpheus mit ihrer E-Gitarre in einen Sog © Herwig Prammer

Am Ende reißt Orpheus das gemeinsam gepflanzte Bäumchen aus der Erde. Eurydice ist tot, da ist nichts zu machen. Nach der Liebe ist vor der Liebe, das Leben geht weiter. Damit ist klar: Philipp M. Krenns Sichtweise auf Christoph W. Glucks «Orphée et Euridice» ist der griechischen Mythologie näher als die Oper selbst. Ursprünglich zum Namenstag des österreichischen Kaisers Franz I. (1762) komponiert, war das Lieto Fine, das Happy End, für Gluck alternativlos. Krenns bürgerlicher Blick ist indes nüchtern: Der Chor zu Beginn des Werks verkörpert Eurydices besorgte Angehörige, die sich in einem Krankenzimmer um die im Koma liegende Patientin versammeln. Es besteht noch Hoffnung, folglich klingen Orpheus‘ „Euridice“-Rufe nicht so verzweifelt wie seinerzeit von Gluck gefordert („Es soll klingen, als würde man ihm die Hand abhacken“) – Sofia Vinnik intoniert sie innig, wie von dieser Welt entrückt. Sie tritt als Frau auf die Bühne, denn Krenn verzichtet auf eine Verkleidung, die Liebe kennt keine Geschlechtergrenze. Als der Herzfrequenz-Monitor Eurydices Tod anzeigt, bittet Orpheus darum, von der Geliebten allein Abschied nehmen zu können. Eine Transzendenzerfahrung beginnt.

Miriam Kutrowatz (links) manipuliert Orpheus (Sofia Vinnik) als gar nicht engelhafter Amor © Herwig Prammer

Die Wiener Kammeroper ist ein kleiner Raum, daher werkt im Graben ein reduziertes Orchester. Die ersten Takte klangen ein wenig dumpf und schwerfällig, ungeachtet dessen führte Raphael Schluesselberg das Bach Consort Wien bei der Premiere solide durch die Partitur. Der berühmte Tanz der Furien begann, wohl auch bedingt durch die Reduktion, regelrecht harmlos – da konnte auch die elektroakustische Surround-Verstärkung des Arnold Schönberg Chors wenig ändern. Unvermittelt nahm das Orchester nach der Arie, mit der sich Orpheus Zutritt zur Unterwelt verschafft, ordentlich Fahrt auf und ließ den Tanz letztlich doch noch furios ausklingen.

Die Kammeroper ist die Hauptspielstätte des zweijährlich wechselnden Jungen Ensembles des Theaters an der Wien (kurz: JET). Die jungen, bereits ausgebildeten Talente sammeln auf der kleinen und gelegentlich auch auf der großen Bühne des Haupthauses wertvolle Erfahrungen. Das bedingt mitunter, dass sie Partien ausfüllen müssen, die sie von sich aus nicht unbedingt angestrebt haben. Der Orpheus scheint für Sofia Vinnik eine solche Partie zu sein – zwar meisterte sie sie gut, aber ihre Gesangstechnik offenbarte eine klassische, nicht-barocke Stimmbildung, was zumindest in diesem Werk einer interpretatorischen Intensität im Weg stand. Anders verhielt es sich mit der gastierenden Ekaterina Protsenko als Eurydice, die ihren lyrisch-weichen, hellen Sopran auch im Piano herrlich zart säuseln ließ. Miriam Kutrowatz, ebenso wie Sofia Vinnik derzeit JET-Mitglied, war ein stimmlich verlässlicher, von Krenn als verführerisch-manipulierend gezeichneter und ebenfalls weiblicher Amor.

Ekaterina Protsenko begeistert als Eurydice mit lyrisch-weicher Wendigkeit © Herwig Prammer

In der Unterwelt wird plötzlich nicht mehr auf Französisch, sondern auf Italienisch gesungen, denn man zeigt eine auf 90 Minuten gekürzte Mischfassung aus der italienischsprachigen Wiener (1762) und der französischsprachigen Pariser Version (1774). Diese Idee hat durchaus Witz, unterstreicht sie doch die Trennung der beiden Welten – in diesem Fall jene zwischen der realen und der transzendenten Welt. Die Unterwelt-Szene gleicht bei Krenn einer traumhaften Trauerbewältigung: Orpheus spielt sich mit seiner/ihrer E-Gitarre in einen geistigen Sog, Euridice muss ein zweites Mal sterben, erst dann kann Orpheus loslassen. Letztlich muss jeder Hinterbliebene einen Weg finden, um mit seiner ganz persönlichen Trauer fertig zu werden – das wussten schon die Griechen.


«Orphée et Euridice» (Christoph W. Gluck)
Theater an der Wien in der Kammeroper

90-minütige Mischfassung aus italienischsprachiger Wiener und französischsprachiger Pariser Fassung

Kritik der Premiere am 2. Oktober 2021
Termine: 4./6./ 8./10./12./15./17./19./21. Oktober 2021

theater-wien.at