Dilemma

Verstrickt im Netz der Diversität

Die Forderung nach einem Ende der „Blackfacing“-Praxis ist berechtigt – sie macht aber einen Teil des Repertoires unspielbar und verhindert Wiederbelebungen

Edwin Baumgartner • 21. Oktober 2021

In der Wiener Staatsoper liebt Desdemona keinen Mohren: Gregory Kunde als weißer Otello mit Rachel Willis-Sørensen (September 2021) © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Schwarze dürfen nur von Schwarzen gespielt werden. Das ist eine der Grundforderungen der Diversitätsbewegung. Folgt man ihr, stürzt man Opernhäuser und zum Teil auch Theater in ein unauflösbares Dilemma. Eines, das sich auf bestehende Spielpläne auswirkt und obendrein Wiederbelebungen verhindert. Konsequent weitergedacht, wären die Forderungen, so berechtigt sie im Alltag sind, für die Bühne verheerend.

Halten wir uns an zwei Beispiele. Das erste ist wohlbekannt.

Es führt kein Weg vorbei am «Othello», ob er nun, mit „h“, von William Shakespeare stammt, oder, ohne „h“, von Giuseppe Verdi. Die Bühnen haben die Wahl, die Titelrolle entweder mit einem Schwarzen zu besetzen, sie als Weißen zu spielen, oder das Werk, von Shakespeare wie von Verdi, in die Schublade zu legen.

Bleibt man bei der Oper, ist das Besetzungsproblem akut: Es geht nicht nur um die Hautfarbe, sondern darum, dass der Otello zu den schwersten Rollen der gesamten Operngeschichte gehört: In einer Person muss es ein Heldentenor sein, der die Wagner’sche Attacke beherrscht, und ein lyrischer Tenor, der mit Leichtigkeit die Kantilenen mit schwebender Lyrik erfüllt. Anders gesagt: Das „Esultate“ des Anfangs muss so sitzen wie das Duett mit Desdemona am Schluss desselben Aktes. Welch eine Spannbreite! Selbst Plácido Domingo bewältigte sie, zumindest live, nur an seinen besten Abenden. Johan Botha und Jon Vickers waren Otello-Spezialisten. Und heute? 

Reduziert man die Besetzung des Otello nun obendrein auf schwarze Tenöre, wird das Werk de facto unspielbar.

Deshalb hat es sich eingebürgert, den Otello als Weißen zu spielen – nur: bei allen regietheatralischen Um- und Neudeutungen, es funktioniert nicht. Shakespeares Drama und Arrigo Boitos Libretto bauen auf dem Minderwertigkeitskomplex Otellos auf. Es geht ausschließlich um die Hautfarbe. Otello hat Karriere gemacht trotz der Hautfarbe, er hat die schönste Frau der Stadt geheiratet, er hat sich gerade als überlegener Seekriegsheld erwiesen. Die Vorstellung, dass Desdemona ihn betrügen könnte, hat, hält man sich an den Text, einzig und allein mit seiner Hautfarbe zu tun. Othello und Otello als Weiße zerstören das Stück. Sie machen aus dem Drama, das zeigt, wie eine zuerst irrelevante Nebensache die Psyche zunehmend vergiftet, das Drama eines von vorneherein psychopathisch veranlagten Menschen. 

Faktisch unspielbar

Das allein aber ist nur die Oberfläche eines in Wahrheit tiefergreifenden Problems: Denn selbst wenn Ot(h)ello als Weißer auf der Bühne steht, denkt das Publikum den Schwarzen mit. Es ist gleichsam das kulturelle Menschheitserbe, dem sich niemand entziehen kann. Bei aller psychologischer Finesse, die Shakespeare und Boito anwenden: Es bleibt bei weißen Autoren, die den Schwarzen als Eifersuchtsmörder zeigen und natürlich aus weißer Sicht die Klischees des „bösen schwarzen Mannes“ bedienen. 

De facto ist «Ot(h)ello» damit unspielbar. Auf der Sprechbühne kann man sich das, dank einer Fülle weit besserer Dramen Shakespeares, leisten. Aber wieviele Opern haben das künstlerische Gewicht von Verdis «Otello»?

Pihla Terttunen als weiße Titelfigur in «Jonny spielt auf» in der aktuellen Produktion des Theaters Vorpommern © Peter van Heesen

Das andere Beispiel betrifft eine der wenigen Opern des 20. Jahrhunderts, die erfolgreich sein könnten: «Jonny spielt auf» von Ernst Krenek. Das Libretto schrieb sich der Komponist selbst. 

Das Werk nimmt eine solitäre Stellung ein: In der Handlung ist es keine Oper, sondern eher eine der  Revue-Operetten, mit deren mehr oder minder beabsichtigten Skurrilitäten Eduard Künneke, Paul Abraham oder Ralph Benatzky Erfolge feiern. Krenek benützt das für einen virtuosen Mix, in dem der aufgeputschte Schlager ebenso Platz hat wie der sperrige neoklassizistische Kontrapunkt und die Melodie, der Krenek mit ein paar harmonischen Besonderheiten mehr Bitterkeit als Süße gibt.

Die Titelgestalt ist – und schon sitzt man in der politisch korrekten Bredouille: der „Neger“ Jonny, und auf die Anführungszeichen sei extra hingewiesen. Sie nämlich stammen von Krenek selbst, er hat sie quasi mitgetextet und mitkomponiert. An dem Werk ist nichts in erster Person gesagt, alles ist ironische Distanz, ein Spiel mit Klischees und Modellen. Und so, wie die Romantik der Liebe und des Liebesschmerzes unecht ist, so ist Jonny kein Schwarzer: Ein Minstrel ist er, ein auf einen Schwarzen geschminkter Weißer. Das verpönte Blackfacing ist notwendig, denn in Kreneks verrückter Jonny-Welt ist immer alles ganz anders, als es scheint. Auf der Sprechbühne hat dieser Ansatz bei Jean Genets Drama «Die Neger» bei den Wiener Festwochen des Jahres 2014 zu einem Proteststurm geführt. Kreneks Oper, knapp nach der Jahrtausendwende noch ein Knüller an der Wiener Staatsoper, ist heute praktisch unspielbar aus Gründen der politischen Korrektheit, die mit Kreneks doppelten und dreifachen Brechungen nicht zurechtkommt.

Mezzo statt Bariton

Die Ironie der Geschichte ist, dass «Jonny spielt auf» damit zum zweiten Mal Opfer der herrschenden Moral wird: Für die Nationalsozialisten nämlich war der «Jonny» vom ersten Moment an ein Rotes Tuch, nach der Machtübernahme war er als „entartet“ verboten. Aber schon zuvor bekämpften die Nationalsozialisten Kreneks Erfolgsoper sogar in Parlamentsdebatten. Legendär ist der Nationalsozialist, der sich in einer Sitzung ereifert: „Wann hat man es je erlebt, dass eine Oper über einen Neger geschrieben wird?“ Worauf ihm ein Sozialist antwortet: „Kennen Sie Verdis «Otello»?“ 

So schließt sich ein Kreis. – Ein Kreis, der dazu führt, dass Nationalsozialismus und politische Korrektheit, wenngleich aus diametral entgegengesetzten Richtungen, zum selben Schluss kommen: Gewisse Werke können nicht gespielt werden. Derzeit wagt sich nur das Theater Vorpommern in Greifswald an den «Jonny» – und gendert ihn. Im Original ist Jonny ein Bariton, in Greifswald ist er weiß und weiblich, dargestellt von der Mezzosopranistin Pihla Terttunen.

«Otello» und «Johnny spielt auf» sind nur zwei aus einem Fundus an Opern, deren Aufführung aus Gründen der Diversität zunehmend Probleme macht – oder noch machen wird. Dass die beiden Fälle so ausführlich gewürdigt wurden, hat damit zu tun, dass ihre Problematiken beispielhaft für viele sind. Nun ist es zwar für den Charakter der Figuren und für die Handlung der Opern relativ unerheblich, welche Hautfarbe Osmin und Monostatos haben, denn Schurken und Sadisten gibt es in Weiß, Schwarz, Gelb, Rot und welchen anderen (behaupteten) Hautfarben auch immer, und den „Mohren“ am Ende des «Rosenkavalier» kann man getrost ganz streichen, er ist in dem Stück ohnedies nicht mehr als eine letzte Tändelei. 

Der Verein Erlesene Oper produzierte «Treemonisha» in Rosenheim ohne Gesichtsbemalung (Februar 2019) © Nicole Richter

Andere Opern hingegen werden in Europa, will man politisch korrekt bleiben, praktisch unspielbar. Nun kann man zwar auf Frederick Delius‘ müden «Koanga» ohne Bedauern verzichten, aber wer Scott Joplins «Treemonisha» einmal auf Platte oder CD gehört hat, bekommt Sehnsucht nach dem glänzenden Stück, das klingt, als hätte Franz von Suppé eine Ragtime-Oper komponiert. Ebenso schmerzlich fehlt George Gershwins «Porgy and Bess». Gershwin, ein weißer jüdischer Komponist, hatte testamentarisch festgelegt, dass sämtliche schwarze Rollen nur von Schwarzen gespielt werden dürfen. Nach Ende der Schutzfrist wurde das als moralische Verpflichtung zumindest bei der Besetzung der solistischen Rollen eingehalten. 

Nun mag es zwar möglich sein, auch in Europa ausreichend schwarze Solistinnen und Solisten, Choristinnen und Choristen zu engagieren – möglich ist das aber nur unter Festspielbedingungen. Im normalen Opernbetrieb scheitern die Werke schlicht an der Bevölkerungsstruktur Europas. Es geht dabei nicht um Rassismus, sondern um Pragmatik: Solisten kann ein Opernhaus frei engagieren, der Chor hingegen ist in einer ähnlichen Stellung wie das Orchester, also fest engagierter Teil des Ensembles.

Hatte Festspielqualität: «Porgy and Bess» mit schwarzen Sänger:innen in schwarzen Partien im Theater an der Wien (Oktober 2020) © Monika Rittershaus

Im Chor spiegelt sich weitgehend die Bevölkerungsstruktur eines Landes. Das bedeutet für Europa (mit Ausnahme von Großbritannien und eventuell Frankreich) einen überwiegend weißen Chor. Um «Treemonisha» oder «Porgy and Bess» zu spielen, müsste man, um das Blackfacing zu vermeiden, in beiden Fällen zahlreiche schwarze Choristinnen und Choristen engagieren, die man aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal im eigenen Land in ausreichender Zahl finden würde, denn für beide Werke bedarf es auch im Chor geschulter Stimmen. Beiden Werken bleibt somit in Europa das versagt, was sie aufgrund ihrer Qualität verdienen würden: ein fixer Platz im Repertoire. 

Verhindert werden durch den moralischen Druck zahlreiche Entdeckungen und Möglichkeiten eines erfolgreichen Nachspielens. Michaël Levinas‘ hervorragende Oper «Les nègres» nach dem bereits erwähnten Genet-Stück, 2004 in Lyon uraufgeführt, ist wohl rettungslos verloren. Ebenso verloren dürfte «The Ice Break“ des Engländers Michael Tippett sein: Es wäre zwar möglich, einen schwarzen Tenor für die Rolle des Olympion zu finden, aber wieder stellt der Chor das Hauptproblem dar, und so ist es auch bei Louis Gruenbergs glänzender Oper «The Emperor Jones» nach Eugene O’Neills Drama, die zum besten gehört, was US-amerikanische Komponisten an Opern hervorgebracht haben. Das knapp über eine Stunde dauernde Werk wäre eine ideale Ergänzung, etwa, um das ewige Duo «Cavalleria rusticana» und «I pagliacci» aufzubrechen. Die Titelrolle des «Emperor Jones», in der Uraufführung von Lawrence Tibbett interpretiert, war übrigens eine der Glanzleistungen des italienischen Bassisten Nicola Rossi-Lemeni, den großen Monolog „Oh Lord! … Standin' in the need of prayer“ hat George London auf Platte aufgenommen – alles undenkbar unter heutigen Vorgaben. Selbst die Alte Musik kollidiert bisweilen mit den neuen Diversitäts-Richtlinien: Jean Philippe Rameaus «Les Indes Galantes» bedürfen regietheatralischer Eingriffe, um spielbar zu sein, und selbst dann muss man sich überlegen, was man mit den „Indianern“ des Schlussaktes macht. 

Shitstorm der Sonderklasse

Doch dabei bleibt es nicht. Diversität beschränkt sich schließlich nicht auf die dunkle Hautfarbe. Wenn man nun das Opernrepertoire durch die Brille der politischen Korrektheit betrachtet, müsste man Giacomo Puccinis «Madama Butterfly» in allen japanischen Rollen mit Japanerinnen und Japanern besetzen und seine «Turandot» in allen Rollen mit Chinesinnen und Chinesen. Lässt «Turandot» wenigstens die Verpflanzung in andere Märchenregionen zu, spielt der ethnische Konflikt in «Madama Butterfly» die gleiche enzymatische Rolle wie im «Otello».   

Man wird die Diskussionen führen müssen, und das Ergebnis ist schon jetzt abzusehen: Auch die Oper muss diverser werden. Für Europa könnte das freilich, aus rein praktischen Gründen, keine Bereicherung des Repertoires um «Treemonisha», «Porgy and Bess», «Emperor Jones»und «The Ice Break» bedeuten, sondern eine Verarmung um «Otello», «Aida» und «Madama Butterfly». Bei «Aida» gab es die Diskussion bereits: Ausgerechnet der Super-Diva Anna Netrebko blies 2017 als weiße, dunkel geschminkte Aida-Darstellerin bei den Salzburger Festspielen ein Shitstorm der Sonderklasse entgegen. Politisch korrekt dürfte in der Verdi-Oper freilich bis in die hintersten Reihen des Chors kein einziger Weißer auf der Bühne stehen.

Letzten Endes kommt man auch hier wieder zum altbekannten Schluss: Kunst und Moral vertragen sich nicht. Die Moral hat wenig bleibende Kunstwerke geschaffen, die Kunst aber ihre eigene ethische Gesetzmäßigkeit.