Junge Werke
Das Dilemma der neuen Oper
Das zeitgenössische Opernschaffen wird zerrieben zwischen der Ablehnung durch das Publikum und dem Urteil der Musikkritik
Edwin Baumgartner • 04. November 2021
Im Repertoire der Wiener Staatsoper befinden sich die üblichen Verdächtigen von Giuseppe Verdi, Richard Wagner und Wolfgang Amadeus Mozart. Hinzu kommen «Der Evangelimann» von Wilhelm Kienzl, «Der Trompeter von Säkkingen» von Victor Nessler, «Louise» von Gustave Charpentier, «Das Glöckchen des Eremiten» von Aimé Maillart und «La Bohème» von Giacomo Puccini.
Nichts Zeitgenössisches?
Doch. Die Opern von Verdi und Wagner sind dreißig bis fünfzig Jahre alt, rund fünfzig Jahre zählt auch «Das Glöckchen des Eremiten»; «Der Evangelimann» ist acht Jahre alt, «Der Trompeter von Säkkingen» 19 Jahre, «Louise» drei Jahre, «La Bohème» ist sieben Jahre alt. Denn der Spielplan der Wiener Staatsoper, dem die Beispiele entnommen sind, stammt aus dem Jahr 1903.
Ja, aber der Kern, möchte man sagen, der Kern, also Verdi und Wagner, die sind auch schon ganz schön alt, damals. Gut – von heute gerechnet: Mit der großzügigeren Annahme der 50 Jahre bedeutet das, im heutigen Opernspielplan müssten Opern der Jahre 1970 bis 1990 das Kernrepertoire bilden.
Und jetzt, bitte ohne zu googeln oder in einem Opernlexikon nachzusehen: Die im (gerne auch internationalen) Repertoire befindlichen Werke dieser Zeit sind…?
Glück gehabt, Hans Werner Henzes «Das verratene Meer», das eben an der Wiener Staatsoper läuft, ist 1990 uraufgeführt. Aber sonst?
Es ist, ganz ausdrücklich gesagt, kein „Fall Wiener Staatsoper“, kein „Fall Wien“, wo man den Staub für Goldflitter hält und, will man Avantgarde spielen, den «Rosenkavalier» ansetzt. Es sieht international wenig anders aus. Im Prinzip stehen alle Spielpläne auf den tragenden Säulen Mozart, Verdi, Wagner, Richard Strauss, Puccini, Belcanto plus Ergänzungen aus dem nationalen Schaffen. Die freilich sind auch nicht mehr so zentrale Anliegen wie noch vor ein, zwei Jahrzehnten. Selbst die Finnen spielen ihren Aulis Sallinen, die Norweger ihren Antonio Bibalo, die Schweden ihren Karl-Birger Blomdahl und die Dänen ihren Per Nørgård nicht mehr mit dem früheren Nachdruck.
Gerade einmal die Slowaken und die Tschechen halten fest an der nationalen Schule – sie sind freilich auch begünstigt: Bedřich Smetana, Antonín Dvořák, Leoš Janáček und Bohuslav Martinů sind, Eugen Suchoň und Jan Cikker wären international herzeigbar. Doch auch in diesen Fällen darf man sich keinen Illusionen hingeben: Smetana und Dvořák sind Komponisten des 19. Jahrhunderts, Janáček und Martinů der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Suchoň und Cikker sind die großen Namen der 1950-er bis 1970-er Jahre.
Wenn also kaum ein Werk, das nach 1950 komponiert wurde, ins Repertoire, nicht einmal ins nationale, Eingang gefunden hat (zu den regelbestätigenden Ausnahmen kommen wir noch), dann wäre es oberflächlich, nur dem mangelnden Mut der Opernhäuser die Schuld zu geben. Es muss an einem Graben liegen, der sich zwischen Werk und Publikum auftut.
Verräter am Fortschritt
Tatsächlich wirkt im deutschsprachigen Raum die so prägende wie verhängnisvolle Musikästhetik Theodor W. Adornos bis heute nach.
Zum historischen Verständnis: Adorno gehörte zum Kreis um Arnold Schönberg und postulierte in seiner Schrift „Philosophie der neuen Musik“ dessen Zwölftontechnik. Richtungweisende Komponisten wie Igor Strawinski, Jean Sibelius, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten, die nicht mit den traditionellen Tonartenbeziehungen brechen, erschienen Adorno als Verräter am Fortschritt.
In der Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 spielt die Kultur als Teil der Neudefinition der Nation eine wesentliche Rolle. Dadurch fällt dem Kultur- und damit auch dem Musikjournalismus die Rolle eines ästhetischen Navigators zu. Die Musikjournalisten orientieren sich nun nicht nur an Adorno, sie bauen seine Vorgaben zur nahezu religiösen Doktrin aus – auch dann, wenn es eklatante innere Widersprüche gibt. So wird tonartengebundene Musik mit Nationalsozialismus gleichgesetzt, und wo man, etwa bei den jüdischen Komponisten Erich Wolfgang Korngold und Franz Schreker, bei übelstem Willen keine nationalsozialistischen Verstrickungen finden kann, dort gelten die Werke als Repräsentanten einer Zeit, die zum Nationalsozialismus führte. Kurz gesagt: Tonal riecht quasi automatisch nach Nationalsozialismus, zwölftönig oder zumindest atonal automatisch nach Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Das resultiert in einer publizistischen Förderung der atonalen und zwölftönigen Richtung. Es ist der Versuch einer geschmacklichen Umerziehung.
Sollten solche Extrempositionen in der pluralistischen Gesellschaft rund 60 bis 70 Jahre später immer noch wirken? – Über einen Umweg tun sie es tatsächlich.
Mächtige Fehlannahme
Was sich nämlich von Musikjournalistengeneration zu Musikjournalistengeneration weitervererbt, ist die Überzeugung, dass Fortschritt automatisch gut sei, und dass Fortschritt ebenso automatisch in der Zunahme von Komplexität besteht.
Man kann das an drei Beispielen festmachen: Der in allen Schönheiten der Tonalität funkelnde «Rosenkavalier» von Richard Strauss gilt in musikjournalistischen und musikwissenschaftlichen Fachkreisen auch heute noch als Rückschritt nach der atonalitätsnahen «Elektra», Strawinskis mozartianisches Streicherballett «Apollon musagète» als Bankrotterklärung nach dem Rhythmus und Harmonik zerfetzenden «Sacre du printemps», und Krzysztof Pendereckis neoromantisches Spätwerk gilt als Verrat an der Avantgarde, die der Pole mit Spitzenwerken wie «Threnos», «Lukaspassion» und der Oper «Die Teufel von Loudon» versorgt hatte. Und einer der besten Kenner der Neuen Musik, Ulrich Dibelius, wirft Hans Werner Henze, der nun wirklich nicht der konservativsten einer ist und seine Italianità in der Regel, wenngleich äußerst frei, aber doch, zwölftönig legitimiert, geschmäcklerische Kompromisse vor.
Man darf sich fragen, wie, Vertretern dieser Ästhetik zufolge, die ideale Oper der Zeit nach 1945 auszusehen hat: Wie Luigi Nonos «Intolleranza»? Wie Helmut Lachenmanns «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern»?
Genau das ist der Knackpunkt: Es geht nicht um den musikalischen Wert von «Intolleranza» und «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern», sondern schlicht darum, ob das Publikum mitspielt.
Das Recht auf Emotion
Es ist nämlich eine Binsenweisheit, dass eine gute Oper nicht unbedingt komplexe Musik braucht, um erfolgreich zu sein. Was Oper braucht, ist die Fähigkeit des Komponisten, mit den Emotionen des Zuhörers zu spielen. Besitzt ein Komponist diese Fähigkeit, ist die Komplexität der Kompositionstechnik irrelevant. Alban Bergs komplexer atonaler «Wozzeck» funktioniert, weil Berg ein begnadeter Manipulator der Gefühlswelten der Zuhörer ist. Rudolf Wagner-Régenys weit simpler zu hörende, mit leichter fasslicher Melodik durchsetzte «Die Bürger von Calais» versagt, weil sich der Zuschauer in die absichtlich auf Distanz gebrachte Handlung und Musik nicht einfühlen kann.
Wenn nun der Musikjournalismus unserer Gegenwart auf der Komplexitätsregel beharrt, das Publikum aber auf seinem Emotionalitätsrecht, sitzen Opernhäuser zwischen zwei Stühlen. Spielen sie eine neue Oper, haben sie nahezu nur die Wahl, entweder in der Presse durchzufallen oder beim Publikum. Lediglich zwei Komponisten haben es nach 1945 geschafft, sich mit ihren Opern auf den internationalen Spielplänen zu behaupten: Benjamin Britten mit drei Werken («Peter Grimes», «Billy Budd» und «The Turn of the Screw») und Francis Poulenc mit seiner einzigen abendfüllenden Oper, «Dialogues des Carmélites». Diese vier Opern sind Paradebeispiele dafür, dass gute Opernkomponisten Virtuosen auf der Klaviatur der Zuschauergefühle sein müssen.
Und alle vier Werke mussten sich im deutschsprachigen Raum gegen den anfänglichen Gegenwind der Kritik behaupten, der auch zum Sturm anwachsen konnte. Der Vorwurf war stets gleichlautend: Die zu geringe Komplexität der Partituren – was übrigens auf eine mangelhafte musikalische Bildung der Feuilletonisten schließen lässt, denn bisweilen sind Verkettungen tonaler Akkorde und ausgefeilte Kontrapunkte weit komplexer als reihentechnische Verfahren. Das aber nur am Rande.
Die mangelnde Komplexität freilich ist bis in die Gegenwart ein Vorwurf, der speziell Opernkomponisten aus dem angloamerikanischen Raum und Südamerika trifft. Man machte ihn Judith Weirs «Miss Fortune» nach der Uraufführung bei den Bregenzer Festspielen, man machte ihn Gian-Carlo Menottis «Goya» im Theater an der Wien, Jack Heggies «Dead Man Walking» und Daniel Catáns «Il Postino» am gleichen Ort und Nicholas Maws «Sophie’s Choice» in der Wiener Volksoper.
Vorbild Amerika?
Gerade Menotti ist ein Idealbeispiel: Wie kann es sein, dass seine frühen Knüller wie «The Medium» und «The Consul» und seine Lachschlager «The Old Maid and the Thief» und «The Telephone» in den USA Dauerbrenner sind, in Europa aber ignoriert werden? Nützt das amerikanische System der Abhängigkeit von privaten Sponsoren, die eben auch Publikum sind und für ihr Geld fesselnde Opernabende bekommen wollen, doch dem modernen Repertoire mehr als europäische Subventionssysteme, die einer publikumsfernen scheinbaren Geschmacks-Elite entgegenkommen?
Erstaunlich viele relativ junge Opern können sich in den USA, neben den genannten behaupten: Komponistennamen wie Dominick Argento, Samuel Barber, Jack Beeson, Carlisle Floyd, Jack Heggie, Lee Hoiby, Lowell Liebermann, Conrad Susa oder Robert Ward werden dort mit Erfolg gespielt. Alle ihre Opern sind nach 1945 komponiert, etliche nach 2000. In Europa zaghaft ausprobiert wurde gerade einmal Barbers «Vanessa», Floyds «Susannah» und Heggies «Dead Man Walking».
Das seltsame Missverhältnis zwischen den Opern der Neuen und den Opernhäusern der Alten Welt wird umso größer, als der Argentinier Alberto Ginastera 1967 mit «Bomarzo» eine Oper auf dem Niveau der europäischen Avantgarde in Washington zur Uraufführung brachte: In ihr mischen sich aleatorische Elemente und Cluster zu einem dem Text adäquaten Klangpandämonium – aber die Singstimmen singen, wenngleich die Latinität expressionistisch überhöht ist. Das europäische Interesse an dieser Oper, die als Sex-and-Crime-Thriller der Sonderklasse zu den inhaltlich spannendsten wie musikalisch aufregendsten der Nachkriegszeit gehört, ist gleich null.
Angesichts dessen, dass den Operndirektionen also nur bleibt, von der Skylla Rezensentenwesen verschlungen oder in den Schlund der Charybdis Publikumszuspruch gesogen zu werden, wählen sie, einem Odysseus gleich, den sicheren Mittelweg. Er heißt „modernes Musiktheater“. Und als „modernes Musiktheater“ lässt sich so ziemlich alles bezeichnen, was in irgendeiner Facette neu ist. Zum Beispiel die Regie.
So mutiert also eine regietheatralisch umgedeutete «Traviata» zum „modernen Musiktheater“, ein regietheatralisch demolierter «Ring des Nibelungen» ist „modernes Musiktheater“, ein regietheatralisch aufgefrischter Rameau-«Dardanus» ist „modernes Musiktheater“, und wenn der musikalisch etwas umfassender informierte Journalist den Operndirektor fragt, wo denn im Spielplan die Oper unserer Zeit bleibe, bekommt er als Antwort, der gesamte Spielplan sei Musiktheater unserer Zeit, womit der Operndirektor freilich nicht die Johanna-Doderer-Uraufführung meint, sondern den «Rigoletto», gedeutet als Exzess einer xenophoben Straßengang. L’estitica e mobile.
Zurück bleibt ein europäisches Opernrepertoire des 21. Jahrhunderts, das nahezu bar der zeitgenössischen Werke ist. Denn „Repertoire“ bedeutet nicht Ur- und Alleinaufführung, sondern einen halbwegs flächendeckenden Erfolg. Wenn tatsächlich «Peter Grimes» aus dem Jahr 1945, «Billy Budd» aus dem Jahr 1951, «The Turn oft he Screw» aus dem Jahr 1954 und die «Dialoge der Karmeliterinnen» aus dem Jahr 1957 die letzten bleibenden Repertoireopern der europäischen Musikgeschichte sind, dann läuft an den europäischen Opernhäusern und dem sie begleitenden Feuilleton etwas grundlegend falsch. In der Politik hat der Wähler immer recht hat – wieso irrt dann so grundlegend, wenn er Publikum ist?