Originalfassung
Ein neues Leben
Endlich: Palazzetto Bru Zane präsentiert «La Vie parisienne» so, wie Offenbach und seine Librettisten sie hören wollten
Albert Gier • 14. Dezember 2021
Die gehaltvolle Einleitung von Alexandre Dratwicki, Marie Humbert, Étienne Jardin und Sébastien Troester zum Klavierauszug der «Vie parisienne» («Pariser Leben») beginnt mit einem verstörenden Satz: „Ist die berühmteste französische Operette entstellt zur Welt gekommen?“
Die komplexe Entstehungsgeschichte des „Opéra-bouffe“ war zumindest in Umrissen bekannt: Das neue abendfüllende Werk des Triumvirats Offenbach, Meilhac und Halévy kam am 31. Oktober 1866 im Théâtre du Palais-Royal heraus, das sich erstmals eine Offenbach-Uraufführung gesichert hatte. Ihre größten Erfolge hatten die Autoren sowohl vor wie nach 1866 am Théâtre des Variétés: «La Belle Hélène» (1864), «Barbe-Bleue» (1866); «La Grande Duchesse de Gérolstein» (18676), «La Périchole» (1868) und «Les Brigands» (1869). Während in den Variétés zu dieser Zeit ein Sänger-Ensemble hauptsächlich Operetten aufführte, spielte man im Palais-Royal eher Vaudevilles und Comédies-Vaudevilles, also Sprechstücke mit Gesangseinlagen (Eugène Labiche, dessen «Florentinerhut» bis heute gelegentlich gespielt wird, war eine Art Hausautor), die mit einem neuen, der dramatischen Situation angepassten Text auf bekannte Melodien („timbres“) gesungen wurden. Die Darsteller waren Schauspieler, die im Allgemeinen wohl eine passable Naturstimme, aber keine Gesangsausbildung hatten.
Offenbach stellte seit Beginn seiner Karriere als Komponist von „Bouffoneries musicales“ höhere Anforderungen: Jean Berthelier und Étienne Pradeau, die mit dem Einakter «Les Deux aveugles» seinem neugegründeten Théâtre des Bouffes-Parisiens seinen ersten großen Erfolg bescherten (1855), waren beide mehr als nur passable Sänger, die auch in anspruchsvolleren Rollen an der Opéra-Comique auftraten. Einer weitverbreiteten wiewohl zweifelhaften Anekdote zufolge soll der Komponist allerdings seiner künftigen Diva Hortense Schneider verboten haben, weiter Gesangsunterricht zu nehmen, als er sie, ebenfalls 1855, engagierte: Zumindest für seine frühen Einakter schwebte ihm offenbar ein Gesangsstil vor, der sich von dem an der Opéra-comique gepflegten unterschied, Anregungen aus dem Café-concert aufnahm und vor karikaturalen Effekten nicht zurückschreckte.
Kein Schöngesang
Die eher beschränkten stimmlichen und gesangstechnischen Möglichkeiten der Truppe des Palais-Royal – nur für die Rolle der Gabrielle wurde mit Zulma Boluffar, einer von Offenbachs Lieblingssängerinnen, eine Spezialistin verpflichtet – können Offenbach unmöglich verborgen geblieben sein, und er hat sich zweifellos bemüht, darauf Rücksicht zu nehmen. Der Kritiker des Figaro schrieb nach der Uraufführung, der Komponist habe „aus einer Truppe geistreicher Extemporierer Tenöre, Bässe und Soprane gemacht“. Die Bemerkung ist sicher nicht frei von Ironie, in fast allen Berichten über die Première ist zumindest zwischen den Zeilen zu lesen, dass wohl nicht sonderlich gut gesungen wurde. Der Kritiker von La Liberté stellte klipp und klar fest, bis auf Zulma Bouffar „singt hier niemand, und niemand scheint zu ahnen, dass es irgendetwas zu singen gibt, das Ähnlichkeit mit Musik hat“(1).
Eine ungefähre Vorstellung davon, wie es geklungen hat, kann vielleicht die leicht gekürzte Aufnahme geben, die die Aufführungen der «Vie parisienne» (1958) durch die Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault dokumentiert (Accord, 2010). Die Mitwirkenden waren fast ausschließlich Schauspieler, einzig Suzy Delair (Métella) trat auch häufiger in Operetten auf. Der Dramatiker Marcel Achard wird im Beiheft der Aufnahme mit der Bemerkung zitiert: „Es kommt weniger auf den Umfang der Stimmen als auf ihre Vitalität an“. Das trifft es genau: Schöngesang wird weder angestrebt noch erreicht, in den Ensembles wird manchmal sogar geschrien. Die Interpretation zeichnet sich vor allem durch ein geradezu aberwitziges Tempo aus, wobei Jean-Louis Barrault als Brasilianer allen anderen den Rang abläuft, sowohl in seinem Rondeau im ersten wie im Duett mit Gabrielle im fünften Akt.
Während der Proben stellte sich heraus, dass manche Nummern die Darsteller vor unüberwindliche Probleme stellten. Manches wurde gestrichen, anderes modifiziert, den vierten Akt hat Offenbach in kürzester Zeit völlig neu komponiert. Was am 31. Oktober 1866 zur Uraufführung kam, ist also nicht «La Vie parisienne», wie sie von den Librettisten Meilhac und Halévy textiert und von Offenbach vollständig in Musik gesetzt wurde.
Neue Funde
Diese Originalfassung zu rekonstruieren schien lange Zeit unmöglich. Erst in jüngster Zeit wurden neue musikalische Quellen entdeckt, die hier Aufschluss zu geben vermögen, vor allem die vollständigen Orchesterstimmen der Uraufführung (im Fonds Théâtre des Variétés der Nationalbibliothek): Hier wurde an vielen Stellen der Notentext der ursprünglichen Fassung durchgestrichen oder überklebt, er lässt sich aber oft noch entziffern. Auch im Fonds Théâtre du Palais-Royal der Nationalbibliothek gibt es Musikhandschriften, die in der ersten Probenphase Verwendung fanden und die originale Version dokumentieren. Für die kritische Ausgabe der «Vie parisienne» in der verdienstvollen Offenbach-Edition von Jean-Christophe Keck (OEK, Verlag Boosey & Hawkes) stand dieses Material noch nicht zur Verfügung, und auch nicht die autographe Orchesterpartitur, die sich heute in der Bibliothek der Juilliard School (New York) befindet (abrufbar unter https://juilliardmanuscriptcollection.org/manuscript/la-vie-parisienne/).
Auf der Basis dieser Quellen hat das Team des Palazzetto Bru Zane - Centre de musique romantique française (getragen von der Fondation Bru), das sich der Erforschung und editorischen Erschließung des französischen musikalischen Erbes der Zeit von 1780 bis 1920 widmet und in Zusammenarbeit mit vielen Theatern (in Frankreich und anderswo) auch Aufführungen in Vergessenheit geratener, vor allem musikdramatischer Werke ermöglicht, eine spielbare Fassung der Ur-«Vie parisienne» erstellt – der Klavierauszug umfasst 421 Seiten plus gut zwanzig Seiten Einleitung! Den roten Faden liefert das bei der Zensur eingereichte Libretto. Es findet sich in den Archives nationales, das Team von Palazetto Bru Zane hat ein zweites Exemplar, mit zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen, im Fonds du Palais-Royal der Nationalbibliothek entdeckt. Der Text wurde von Offenbach vollständig in Musik gesetzt, so hätte das Stück nach dem Willen der Autoren aufgeführt werden sollen. Die verfügbaren Quellen überliefern die Vertonung vollständig; nur für wenige, meist kurze Passagen musste die Instrumentation „à la manière d’Offenbach“ ergänzt werden.
«La Vie parisienne» war als Beitrag des Theaters zur zweiten Weltausstellung in Paris gedacht, die am 1. April 1867 eröffnet wurde. Natürlich reisen das Ehepaar Gondremarck und die anderen Touristen, die im ersten Akt an der Gare Saint-Lazare ankommen (die in Hinblick auf das Großereignis umgebaut wurde, allerdings wurde man damit erst im Juni 1867 fertig!), noch nicht zur Ausstellung; aber von Paris zeigt das Buch vor allem das, was gutbetuchte ausländische Besucher wahrnehmen werden, die im Grand Hôtel logieren und in eleganten Lokalen wie dem Café Anglais speisen (der fünfte Akt nennt als Schauplatz nur ein „Restaurant“, aber der „Grand Seize“, den Métella in ihrem Rondeau erwähnt, war ein Salon im Café Anglais).
Lieber Schweden als Dänen
Im Zensurlibretto sind der Baron Gondremarck und seine Frau noch Dänen aus Kopenhagen. Dass sie vor der Uraufführung zu Schweden wurden, hatte politische Gründe: 1864 hatten Preußen und Österreich gegen Dänemark Krieg geführt und nach ihrem Sieg die Herzogtümer Schleswig und Holstein annektiert. Zunächst verwalteten beide Mächte diese Territorien als Kondominium, aber nach dem Sieg Preußens über Österreich im Deutschen Krieg (Juni/Juli 1866) wurden Schleswig und Holstein preußische Provinzen. Deshalb fragt Gondremarck im dritten Akt den General Malaga de Porto-Rico – der eigentlich der Bediente Urbain ist –, wie er über die „skandinavische Frage“ denkt. Bürger Kopenhagens zu Protagonisten zu machen, hätte vielleicht als Sympathie für die besiegten Dänen, folglich als unfreundlicher Akt gegenüber Preußen aufgefasst werden können, deshalb mussten die Gondremarcks nach Stockholm umziehen.
In «La Vie parisienne» gibt es 35 Musiknummern, manche davon, vor allem die Finali, bestehen aus mehreren Teilen. Zählt man diese jeweils in sich geschlossenen Teile mit, kommt man auf 51 Musikstücke. Davon ist knapp ein Drittel während der Proben unverändert geblieben; ungefähr ebenso viele wurden vor der Uraufführung ganz oder in wesentlichen Teilen ersetzt oder gestrichen und sind in einer aktuellen Produktion von Palazzetto Bru Zane zum ersten Mal überhaupt zu hören (siehe Hinweis am Ende dieses Artikels). In den verbleibenden Nummern gab es nur kleinere Veränderungen, z.B. wurden in den Couplets des Baron Gondremarck („Je veux m’en fourrer fourrer jusque-là“, Nr. 10) die Einwürfe Gardefeus vor der Première gestrichen.
Die Änderungen im Detail
Der erste Akt blieb im Wesentlichen unverändert, nur Gardefeus Triolet (eine feste Gedichtform, ähnlich wie das Sonett; die Zeitgenossen Meilhacs und Halévys hatten vor allem die satirisch-sprachspielerischen Triolets Thédore de Banvilles im Ohr) hat Offenbach vor der Uraufführung noch einmal ganz neu komponiert, die ursprüngliche Fassung ist im neuen Klavierauszug erstmals ediert. – Im zweiten Akt ist ein kurzes Melodram (Nr. 10bis) vorgesehen, das Bobinets Couplets aus dem ersten Akt („Elles sont tristes, les marquises“, Nr. 4) zitieren soll; es fehlt in den Quellen, aber da die Melodie bekannt ist, lässt es sich ohne größere Probleme rekonstruieren. Im zweiten Finale, wenn die Gäste der „Table d’hôte“ eintreffen, die Gardefeu auf Wunsch des Barons improvisiert hat, sind 126 Takte anders als in der bekannten Fassung: Gardefeu hat seinen Schuster Frick, der an seinem Akzent unschwer als Deutscher zu erkennen ist, und die Handschuhmacherin Gabrielle eingeladen und beide gebeten, ihre Freunde mitzubringen. Die Männer sind also Deutsche, und das hört man auch: „Wenn ich Brot mit Butter haben / Kann ich mich so recht dran laben / Sauerkraut mit Schink und Wurst / Gibt mir immer Durst.“ Gabrielle dagegen stammt aus Marseille (wovon in der späteren Fassung nicht mehr die Rede ist!) und hat lauter Landsfrauen eingeladen: „Troun de l’air, té! / Tout quittat in diligensso / Troun de l’air, té! / Pour venir mangiar a questo / Qu’on nous serve la bouillabaisse / Et que la sauce en soit épaisse.“ Der schwedische Baron hatte sich die Gäste einer Table d’hôte im besten Hotel der Stadt zweifellos etwas anders vorgestellt…
Eine Anmerkung: Die Offenbach Edition Keck hat dankenswerterweise die Textbücher vieler ein- und mehraktiger Stücke ins Netz gestellt, man findet hier auch eine „Première édition provisoire“ des Zensurlibrettos der «Vie parisienne» von 1866 (und die Akte IV und V zusätzlich nach dem Zensurlibretto von 1873). In den gesprochenen Dialogen gibt es manchmal unwesentliche Unterschiede zwischen dieser Version und dem Text der neuen Ausgabe, vermutlich hat das Team von Palazzetto Bru Zane hier ein bisschen geglättet, Wiederholungen getilgt und etwas umständliche Formulierungen vereinfacht. Der Chor der Deutschen im zweiten Finale ist allerdings wesentlich anders: „Tarteifle [= „zum Teufel!“] mein gott / Schlackwarste [sic], Butterbrodt, Schincken / Zucker, Eyer, astrichoken [sic] / Tarteifle, mein gott, / De la choucroute et de la bière / Voilà le bonheur sur la terre. / Tarteifle, mein gott.“ Ohne Zugriff auf die Originale läßt sich die Differenz nicht erklären.
Im dritten Akt wurden drei Nummern ersatzlos gestrichen: die Arie Urbains (Nr. 16) und das sehr komische „Trio militaire“ (Nr. 17), das die Bedienten Prosper und Urbain mit Gondremarck singen. Für Lassouche, der Urbain sang, lag seine Partie offenbar zu hoch: Eugène Labiche, der ungeduldig darauf wartete, dass «La Vie parisienne» abgesetzt würde, weil er erst danach mit seinem neuen Stück zum Zuge kommen konnte, schrieb während der Proben im Oktober 1866, es gehe darum, „Lassouche in einen Tenor zu verwandeln, während er behauptet, nur ein Bariton zu sein“(2); daher wurde die ursprünglich durchaus wichtige Partie des Urbain auf eine Nebenrolle reduziert. Übrigens: Urbains Arie ist eine Hommage an einen Hutmacher, den Erfinder eines Huts, mit dem man schießen kann. Er kam zu Tode, als die Erfindung in seiner Hand explodierte. Urbain zieht eine Parallele zu den Soldaten, die auf dem Schlachtfeld fallen. In einer Aussendung vom 6. Dezember 2021 äußert das Team von Palazetto Bru Zane die Vermutung, die Arie solle an ein fehlgeschlagenes Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. am 16. April 1866 erinnern. Bei der Uraufführung sei sie weggelassen worden, aber nachdem am 6. Juni 1867 in Paris, wo Alexander II. die Weltausstellung besuchte, ein weiterer Anschlag auf ihn verübt worden war, habe man die Arie wieder eingefügt. Ob sie dann bis zum Ende der ersten Aufführungsserie nach 323 Vorstellungen zu hören war, scheint unklar.
Weggefallen ist auch ein Quintett (Nr. 19), in dem die vier anwesenden Damen Gondremarck ihre maßlos übertriebene Bewunderung zollen. – Laut der Edition des Zensurlibrettos in der OEK findet sich vor dem dritten Finale ein Notiz von Ludovic Halévy: „Ab hier ist das Stück ganz umgearbeitet worden.“ Das ursprüngliche Finale (Nr. 22) ist nur in der autographen Partitur, also nicht orchestriert, überliefert, es wurde „à la manière d’Offenbach“ instrumentiert. Gabrielle darf hier eine Chanson in Stil des Café-concert singen (22B): Eine alte Straßenfegerin entrüstet sich, wenn sie ein hübsches Mädchen mit dem jungen Mann sieht, der sie aushält. Am Abend besucht sie ihre Tochter, die ihren Luxus ebenfalls einem reichen Gönner verdankt, und nach reichlich Alkohol findet sie das gar nicht mehr so schlimm. Es folgt eine „Pastourelle“ (ursprünglich ein Volkstanz, 22 C); wie bei der Uraufführung schließt das Finale mit dem Chor „Feu partout“.
Die Musik zum vierten Akt hat Offenbach, offenbar auf Drängen des Ensembles, völlig neu komponiert. Auch in seiner revidierten Form hatte dieser Akt bei der Première wenig Erfolg. Der Kritiker der Zeitschrift Le Foyer schrieb: „Die Figuren setzten sich und legten Rechenschaft über ihr Verhalten ab. Es schien so, als finge ein richtiges Stück an. Das Publikum fühlte sich enttäuscht […]“ Was mit dem „richtigen Stück“ gemeint ist, macht das Urteil Gustave Bertrands in Le Ménestrel klar, «La Vie parisienne» sei „kein Stück“, sondern „eine Folge burlesker Szenen, die ganz nach Wunsch für die Komiker [der Truppe des Palais-Royal], und vielleicht ein bisschen von ihnen selbst, verfasst wurden“.
In den ersten drei Akten jagt ein Quiproquo das andere, keines wird aufgelöst. Im vierten Akt werden die Missverständnisse – ähnlich wie in einer Komödie von Labiche (oder von Feydeau) ausgeräumt: Gondremarck muss erkennen, dass er sich nicht im Palais eines „Schweizer Admirals“, sondern in dem der Madame de Quimper-Karadec befindet, dass sein Gastgeber Bobinet ihr Neffe (und kein „Schweizer Admiral“) ist, dass die Gäste am Abend zuvor keine vornehmen Leute, sondern die verkleideten Bedienten waren, und schließlich, dass sein „Fremdenführer“ der Lebemann Raoul de Gardefeu ist, der es auf seine Frau abgesehen hat. Gardefeu wird klar, dass er die Nacht nicht mit der Baronin, sondern mit Métella verbracht hat. Außerdem begreifen zuletzt Madame de Quimper-Karadec und ihre Nichte Madame de Folle-Verdure, dass Gondremarck kein Kutscher, und nicht mit ihrem Stubenmädchen Pauline verlobt ist (das hatte sie vorher behauptet, um die Situation zu retten). Das alles macht diesen vierten Akt recht dialoglastig, wodurch sich das hohe Tempo der ersten Akte notwendigerweise verlangsamt.
Die sämtlich ganz unbekannten Musiknummern in diesem Akt sind: ein „Schnarchterzett“ für Bobinet und die Bedienten Urbain und Prosper; eine „Romance“, die Madame de Quimper-Karadec a capella trällert, während sie im Begriff ist einzuschlafen (Offenbach hat das kurze Stück offenbar nicht vertont, die Herausgeber überlassen es der Darstellerin, eine passende Melodie zu wählen); ein Quartett, in dem Pauline der alten Dame und ihrer Nichte Gondremarck zu dessen größtem Erstaunen als den Kutscher Jean vorstellt; ein „Fabliau“ (ursprünglich eine im französischen Mittelalter beliebte, meist frivole Form der Kurzerzählung), in dem die Baronin von der Begegnung mit zwei jungen Leuten berichtet, die sie in ihrer Unschuld (dem Reinen ist alles rein!) für ein Liebespaar hält, es handelt sich aber zweifellos um eine Kokotte und um einen der Männer, die sie aushalten; und schließlich das kurze Finale, das Gondremarcks wahre Identität enthüllt.
Finale Letztfassung?
Dass jetzt eine spielbare Fassung der Ur-«Vie parisienne» vorliegt – so erfreulich das auch ist – bedeutet nicht, dass das Werk schon alle seine Geheimnisse preisgegeben hat: Die Aussendung von Palazzetto Bru Zane vom 6. Dezember 2021 erwähnt auch, dass neu eine bisher unbekannte Arie für Madame de Quimper-Karadec gefunden wurde. Es wäre in der Tat seltsam, wenn diese Figur (auch wenn sie nur in den beiden letzten Akten auftritt) ohne Solonummer bliebe, der Text der Arie fehlt allerdings im Zensurlibretto. – Und Josef Heinzelmann, der erklärt, er habe die «Vie parisienne» in der „fünfaktigen Originalgestalt“ [gemeint ist die 1866 uraufgeführte Fassung] neu übersetzt [„Pariser Leben“, Insel Taschenbuch, 543, Frankfurt/M. 1982], integriert in den vierten Akt eine Rachearie der Madame de Folle-Verdure [„Wie, diese Herr’n mit frecher Stirne“, S. 169f.], von der ich noch nie etwas gehört hatte!...)
Bei der Uraufführung wurden mehrere Nummern aus dem originalen fünften Akt beibehalten (Chor der Kellner, Couplets Alfreds, Chor der Festgäste, Duett Gabrielle - Brasilianer, Terzett der ‚Masken‘ Madame de Quimper-Karadec, Madame de Folle-Verdure und der Baronin, das auch musikalisch auf das erste Finale von Mozarts «Don Giovanni» Bezug nimmt, Rondeau Métellas). Gestrichen wurde das Melodram von Baron und Baronin, zu dem vier Klaviere eine ohrenbetäubende Kakophonie erzeugen: Während die immer noch maskierte Baronin das Entreelied des Pâris aus «La Belle Hélène» spielt, hört man aus den Nebenräumen Thérésas frivoles Chanson vom „Sapeur“, Agamemnons Auftritt („Le roi bar-bu qui s’avance“) aus der «Belle Hélène» und den Schlußgalopp aus «Orphée aux enfers». Damit wird der durchaus harmonische Zusammenklang dreier verschiedener Tänze im «Don Giovanni» parodiert – da im Frühjahr 1866 sowohl die Pariser Oper wie das Théâtre-Lyrique Mozarts Opern gespielt hatten , ist das eine aktuelle Anspielung. Gabrielle und der Brasilianer singen gemeinsam das Loblied auf die „vie parisienne“ (zwei Strophen, Ronde Nr. 30C), das als Schlussgesang (Nr. 33B, eine Strophe mit anderem Text) wieder aufgenommen wird; bei der Uraufführung war es nur als Schlussgesang zu hören.
Alles in allem bietet die Ur-«Vie parisienne» eine ganze Menge neuer, interessanter Musik von Offenbach, und es ist schön, dass man nicht nur darüber lesen, sondern sie auch hören kann: Die Erstinszenierung (Regie, Bühnenbild und Kostüme Christian Lacroix) der rekonstruierten Version (natürlich mit Unterstützung von Palazzetto Bru Zane) konnte am 7. November in Rouen ihre umjubelte Première feiern; sie war unterdessen auch schon in Tours zu sehen, vom 21. Dezember bis zum 9. Januar 2022 ist sie in Paris, im Théâtre des Champs-Élysées zu Gast. Weitere Stationen werden folgen.
Literatur
(1) Zitiert nach der Einleitung zum Klavierauszug des Palazzetto Bru Zane, S. xi.
(2) Ebenda, S. v.
(3) Ebenda, S. x.