Tipp

«Die Verbesserung der Welt» - Sirene Operntheater

Sieben bemerkenswerte Uraufführungen zwischen September und November 2020

Stephan Burianek • 14. Dezember 2021

Sieben Kurzopern, komponiert von sieben unterschiedlichen Komponist:innen von jeweils etwas mehr als einer Stunde wurden von September bis November 2020 von der Opernkompanie Sirene Operntheater in der ehemaligen Ankerbrot-Fabrik im 10. Wiener Gemeindebezirk uraufgeführt. Die Werke verbindet das Thema der Barmherzigkeit. Dieser kollektive Opernzyklus, der zweifellos ein weitgehend verkanntes Potenzial der zeitgenössischen Oper aufzeigt, ist in Form von Videos aus der Uraufführungsserie dauerhaft dokumentiert.

 

1/7 | «Ewiger Frieden»  Alexander Wagendristel
Libretto: Kristine Tornquist

Berufsehre oder mögliches Straflager in Sibirien? Vor dieser Entscheidung stehen zwei russische Bestatter in der Ostukraine. „Strengste Geheimhaltung“ steht auf der Todesurkunde des russisch-ukrainischen Soldaten – wenn die beiden den Sarg öffnen, um den Toten für die Aufbahrung kosmetisch vorzubereiten, bekommen die Mitarbeiter des Instituts Ewiger Frieden womöglich Besuch vom FSB, dem russischen Geheimdienst. Schukow und Schukin, die ein Buch über kuriose Todesfälle führen, sind berufsbedingte Zyniker, und eine Sensibilität gegenüber ihrer trauernden Klientel ist nicht unbedingt ihre Stärke. Aber ihr Beruf ist älter als der FSB, und die Berufsehre, so viel sei vorab verraten, die siegt – zumindest vorerst.

Videostandbild aus «Ewiger Frieden» von Alexander Wagendristel

Die Partitur zu dieser schwarzen, absurden Politkomödie begleitet die Handlung mal effektreich musikdramatisch, mal bildet sie einen Klangteppich, mal kommentiert sie. Ein Xylophon und ein Akkordeon bilden die Speerspitze eines mehr oder weniger schreitenden Rhythmus, zupfende und häufig am Steg spielende Streicher sorgen für Spannung und verfremdete Melodien aus russischen Liedern für ein gewisses Lokalkolorit. 

Robert Chionis und Evert Sooster durchschreiten das Werk als Schukow bzw. Schukin stimmlich durchgängig im Sprechgesang, Tehmine Schaeffer darf in der Partie der trauernden Ehefrau Anastasia mit lyrischen Anklängen erfreuen. Antanina Kalechyts dirigiert das Ensemble Reconsil.

Link zum Youtube-Video

Mit Robert ChionisGebhard HeegmannTehmine Schaeffer, Evert Sooster, Bärbel Strehlau, Regie Kristine Tornquist, Ensemble Reconsil, Dirigentin Antanina Kalechyts

 

2/7 | «Elsa» – Margareta Ferek-Petric
Libretto: Irene Diwiak

Auf Durchzug geschaltene Bläser und leichtes Schlagwerk führen im flotten Gang in die Handlung ein: Drei Kameraden schwänzen im katholischen Burscheninternat den Sportunterricht und streben auf der Toilette bei Zigaretten und billigem Fusel nach maskuliner Verwirklichung. Bei ihrem Drang nach dem Verbotenen bahnt sich freilich auch die Lust nach sexuellen Erfahrungen ihren Weg. In Anbetracht der heutigen Vielfalt von frei zugänglichen pornografischen Bewegtbildern erscheint ihre Mutprobe, Nacktfotos in den kommenden Ferien nicht nur im Internet zu betrachten sondern mal selbst eines zu schießen, fast schon drollig unschuldig. Nicholas Dorsday versucht die pubertäre Wette daheim jedenfalls möglichst einfach zu gewinnen: Seine Putzfrau soll sich doch für Geld ausziehen – Schnitzlers «Fräulein Else» lässt grüßen….

Videostandbild aus «Elsa» von Margareta Ferek-Petric

Die Sängersolist:innen, die gelegentlich von einem unsichtbaren Sprechchor unterstützt werden, changieren überzeugend zwischen gesprochener Sprache, Sprechgesang und kurzen Koloraturen. Gelegentlich dürfen sie auch Kantilenen singen, etwa Solmaaz Adeli, während sie als Putzfrau Elsa ihrem 15-jährigen Auftraggeber Nicholas Dorsday (makellos: Georg Klimbacher) ein Geheimnis anvertraut. 

Die Komposition von Margareta Ferek-Petric klingt transparent und ist zugleich reich an perkussiven Effekten, jazziger Instrumentation, flirrenden Streichern und Glissandi in allen Farben und Formen. Nur wenige Motive bleiben so im Ohr wie jenes der hymnisch besungenen „Schwester Immaculata“, dafür schwelt die Spannung, unterbrochen von eruptiven Klängen, bei Dorsdays zunächst unbeholfenen Verführungs- und dann vehementeren Überzeugungsversuchen. Witzig wirkt zudem der Stimmbruch, den Ferek-Petric Nicholas Kameraden Moser hineinkomponiert hat und der vom Countertenor Kevin Elsnig wunderbar verkörpert wird. Der montenegrinische Tenor Vladimir Cabak macht das Solistenquartett perfekt komplett.

«Elsa» ist eine Oper über Standesunterschiede, jugendliche Langeweile, emotionale Leere und den Wunsch auf Anerkennung – und ein weiteres Stück kurzweiliges Musiktheater.

Link zum Youtube-Video

Mit Solmaaz Adeli, Vladimir Cabak, Kevin Elsnig, Georg Klimbacher, Bärbel Strehlau, Regie Kristine Tornquist, Ensemble Zeitfluss, Dirigent Edo Micic

 

3/7 | «Der Durst der Hyäne»  – Julia Purgina
Libretto: Kristine Tornquist

„Das Schicksal ist wie Wasser, es fliegt bergab, man kann nichts tun.“, so versucht der Bauer gebetsmühlenartig und mit behäbiger stimmlicher Autorität seine Frau vom von ihr geforderten Widerstand abzubringen. Erfolglos: Mutig fordert sie vom Manager der Mine – der die titelgebende Hyäne symbolisiert – Schadensersatz für ihre vom giftigen Minen-Abwasser vergiftete Kuh. Weil die Exekutive auf der falschen Seite steht, „investiert“ sie ihre letzten Hühner in einen Zauberer. Dann wendet sich das Blatt….

Videostandbild aus «Der Durst der Hyäne» von Julia Purgina

Die zunächst äußerst transparente Orchestrierung erzeugt mehr Flitter als Klangteppich, und doch zieht die Partitur den Hörer von Beginn an kraftvoll in einen kontemplativen Sog. Mit behäbigen Paukenschlägen und einer flirrenden, heulenden und pochenden Geräuschkulisse versetzt sie ihn stimmungsvoll in die afrikanische Savanne. Wenn sich der Klang verdichtet, etwa zu einem dramatisch hämmernden Orchestertutti, um den verzweifelt nach Wasser rufenden Minenmanager zu begleiten, nachdem ihm seine Frau ein neues Gericht mit Schlangenwurzbeteiligung gekocht hat, und sich das Tempo zudem noch ins Hektische steigert, dann entfaltet sich die Wirkung von Julia Purginas Musik umso intensiver. 

Meisterhaft unterstützt wird die Musik in der Uraufführungsproduktion durch die simple wiewohl kreative Ausstattung. Schablonenhafte Tierprojektionen und Schattentheater auf einem Flickenvorhang schaffen ebenso einen Afrikabezug wie typische Requisiten, etwa ein knalliger Plastiksessel. Das ausnahmslos dunkelhäutige wie sonore Sängerensemble steckt in Kostümen aus der modernen afrikanischen Lebensrealität. Es hat vorrangig weite Gesangsbögen zu meistern, die mal arios ausgeschmückt sind, mal durch Janáček’sche Wortwiederholungen unterbrochen werden.

«Der Durst der Hyäne» ist ein geistreicher, politischer Beitrag zur Migrationsproblematik, der keinen Zeigefinger erhebt und doch den Hinweis liefert, dass sich nichts ändern wird solange die Probleme in den Herkunftsländern nicht an den Wurzeln angepackt werden. Sie erinnert uns außerdem daran, dass man mehr tun kann, als sich einfach nur fatalistisch seinem Schicksal zu fügen.

Link zum Youtube-Video 

Mit Antoin Herrera-López Kessel, Owen Metsileng, Caroline Modiba, Bibiana Nwobilo, Tye Maurice, Thomas Lichtspiel, Carlos Manuel Delgado-Betancourt, Manuela Hämmerle, Evgenia Stavropoulou, Regie Kristine Tornquist, Ensemble Reconsil, Dirigentin Antanina Kalechyts 

 

4/7 | «Der Fremde» – Gerhard E. Winkler
Libretto: Martin Horváth

Ein Fremder aus dem Orient bittet um Obdach bei einer alpenländischen Familie. Was folgt, ist ein Panoptikum durch kleinbürgerliche Gefühlswelten: Der an das Gebot der Barmherzigkeit glaubende Vater (dessen Gesang für kurze Momente wohl nicht zufällig an Sarastro erinnert), die manierierten Annäherungsversuche der sexuell ausgehungerten Mutter, das ehrliche Mitgefühl der Tochter, und die vorurteilsbehaftete Missgunst des Sohnes spiegeln den Hintergrund der österreichischen „Idylle“ zweifellos gekonnt wider. 

Videostandbild aus «Der Fremde» von Gerhard E. Winkler

Wie eine musikalische Fassade schieben sich in Gerhard E. Winklers reichhaltiger Partitur gelegentlich Mozart’scher Wohlklang, alpenländische Volksmusik oder operettenhafte Leichtigkeit über eine wandelbare, zeitgenössische Tonsprache, die eine Art orchestralen Humus bildet, aus dem immer wieder dichte, die kammermusikalischen Grenzen sprengende Girlanden erwachsen.

Auch in «Der Fremde» muss man nicht lange nach politischen Parallelen suchen. So erinnert der stets mit einer Steinschleuder bewaffnete Lausbubensohn zweifellos an die Gefolgschaft von FPÖ bzw. AfD („Der Wohltäter ist der übelste unter den Tätern.“, „Wer Armen unter die Arme greift, wird selbst zum Armen“, etc.). Das Werk folgt der Problematik indes allzu sehr nach dem tradierten Schwarz-Weiß-Muster und thematisiert Barmherzigkeit, Vorurteile, die Angst vor Strafe, die kleingeistige Selbstgerechtigkeit der Selbstgerechten und aufbrechende Gräben innerhalb der Familie in einer Weise, die heute fast schon aus der Zeit gefallen wirkt.

Link zum Youtube-Video

Mit Romana Amerling, Bernd Oliver Fröhlich, Johanna Krokovay, Johannes Schwendinger, Bärbel Strehlau, John Sweeney, Harald Wink, Regie Kristine Tornquist, PHACE, Dirigent François-Pierre Descamps

 

5/7 | «Amerika oder die Infektion» – Matthias Kranebitter
Libretto: Antonio Fian

Videostandbild aus «Amerika oder die Infektion» von Matthias Kranebitter

Wenn der Meister der Dramoletten, Antonio Fian, ein Libretto schreibt, dann garantiert das zweifellos den einen oder anderen Schmunzler. Amüsant ist bereits der Beginn dieser komischen Oper: Zwei Frauen in fortgeschrittenem Alter teilen sich ein Krankenzimmer – die eine singt im Schlaf, die andere hustet, beide fühlen sich in ihrer Nachtruhe gestört. Die singende phantasiert von Amerika und ihrem dort angeblich lebenden Sohn, der sie sicherlich bald kommen wird, die hustende wird täglich von ihrer Tochter aus der „guten Gegend“ Klosterneuburg besucht. Um die Heilung der phantasierenden zu unterstützen, organisiert die Krankenschwester einen „Sohn“, doch allzu dürftig sind die Englischkenntnisse dieses Ottakringer Kochs. Wie gut, dass die Hustende eine ehemalige Englischlehrerin ist.

Die reich instrumentierte und vielfach kommentierende Musik von Matthias Kranebitter, der in diesem Werk eine „postmoderne Deutung der Operette“ im Sinn hatte, klingt oft komisch, mitunter schräg und manchmal düster – zweifellos eine gelungene Partitur, auch wenn ihr für eine Operette die Leichtigkeit fehlt.

Link zum Youtube-Video

Mit Ingrid Habermann, Ingrid Haselberger, Ewelina Jurga, Georg Klimbacher, Steven Scheschareg, Martin Schranz, Katrin Targo, Regie Kristine Tornquist, Black Page Orchestra, Dirigent François-Pierre Descamps

 

6/7 | «Ikarus» – Dieter Kaufmann
Libretto: Thomas Arzt

Videostandbild aus «Ikarus» von Dieter Kaufmann

Je höher man fliegt, desto größer ist die Fallhöhe, und letztlich liegt der Hochmut am Boden – es ist eine vielfach tradierte und eine in der Realität oftmals erprobte Geschichte, die hier recht plakativ erzählt wird: Ein junger Geschäftsmann wird vom Rausch des eigenen Erfolgs erfasst, verliert den Boden unter den Füßen und in Folge seine schwangere Frau, seine Freunde und letztlich auch seine Geschäftspartner. Pech gehabt. Es dominiert der Sprechgesang, die an Atonalität reiche „Musik“ hält sich im Hintergrund.

Link zum Youtube-Video

Mit Anna Clare Hauf, Gebhard Heegmann, Maida Karišik, Richard Klein, Georg Klimbacher, Bibiana Nwobilo, Bärbel Strehlau, Regie Kristine Tornquist, Kammermusikwerkstatt, Dirigent François-Pierre Descamps

 

7/7 | «Die Verwechslung» – Thomas Desi
Libretto: Helga Utz

Videostandbild aus «Die Verwechslung» von Thomas Desi

Weil diese Oper im November 2020 wegen des pandemiebedingten Schließens der Theater nicht vor Publikum uraufgeführt werden konnte, wurde sie verfilmt. Man kann nur hoffen, dass man diesem Werk auch auf der Bühne begegnen wird, denn «Die Verwechslung» geht sowohl musikalisch als auch inhaltlich unter die Haut: In der DDR des Jahres 1981 sind die innenfamiliären Brüche am Esstisch nicht mehr zu kitten: Tante Ilse spitzelt als Stasi-Mitarbeiterin die eigene Mutter, ihren Bruder und dessen Sohn aus. Ihre Schwägerin ist verschwunden, keiner, außer vielleicht Ilse, weiß wohin. Bald gerät auch ihr revoltierender Neffe in die Fänge des Systems. Ilse unternimmt nichts. Doch dann kommt es zu einer Verwechslung.

Die Musik erzeugt eine unheimliche Spannung, der Griff zum Melodram, also gesprochene Stellen über der Musik, erzeugt Unbehagen. Die Stimmen changieren zwischen Sprechgesang und weiten, dramatischen Kantilenen. Die Filmregie und die Ausstattung überzeugen, auch wenn die Lippenbewegungen in den Gesangspartien mitunter wie misslungenes Playback anmuten.

Link zum Youtube-Video

Mit Johannes Czernin, Marelize Gerber, Ingrid Haselberger, Gebhard Heegmann, Kari Rakkola, Martin Schranz, Günther Strahlegger, Bärbel Strehlau, Katrin Targo, Regie Kristine Tornquist, Österreichisches Ensemble für neue Musik, Dirigent François-Pierre Descamps