Enrique Mazzola
Das Gegenteil von New York
Der neue Musikdirektor der Lyric Opera of Chicago spricht über seine Vision einer Verjüngung des amerikanischen Opernpublikums, über seine Arbeit bei den Bregenzer Festspielen und darüber, was den Belcanto zeitlos macht
Klaus Kalchschmid • 21. Dezember 2021
Enrique Mazzola ist ein Spezialist für den Belcanto und einer der Besten auf diesem Gebiet. In Zürich betreut er nach zahlreichen Belcanto-Opern nun auch den Zyklus von Donizettis drei Tudor-Opern, hat «Maria Stuarda» und kürzlich «Anna Bolena» dirigiert, «Roberto Devereux» wird in der nächsten Spielzeit folgen. Bei den Salzburger Festspielen 2019 leitete er Jacques Offenbachs «Orphée aux Enfers» in Barrie Koskys Inszenierung, in Bregenz im selben Jahr und 2021 «Rigoletto». Nächsten Sommer kehrt er für «Madama Butterfly» zurück.
Herr Mazzola, was würden Sie jemandem sagen, der zwar «Götterdämmerung», «Tosca» und «Rosenkavalier» liebt, aber mit Bellini und Donizetti nichts anfangen kann, weil er das für reinen Vokal-Zirkus ohne Tiefgang hält?
Ich würde erst einmal darauf hinweisen, dass es ohne Belcanto diese Opern nicht geben würde. Kein Finale «Tristan» ohne die Steigerungswellen am Ende von «Norma», die Wagner sehr geschätzt und geliebt hat. Belcanto hat bis heute dieselbe Power und denselben Wert wie später Verdi, Wagner, Strauss oder Puccini. Sicher ist das manchmal eine Diva- oder auch Divo-Show, aber das war schon damals so. Die Pasta, Rubini oder Filippo Galli – das waren die Damrau oder der Pisaroni von heute. Man braucht hoch spezialisierte Sängerinnen und Sänger für dieses Repertoire. Dann hört man, was für eine Qualität diese Werke haben. Mit der Romantik und dem Verismo gab es plötzlich einen ganz unmittelbaren Zugang zum Ausdruck und zu den Gefühlen der handelnden Personen. Aber auch Belcanto-Opern sind voll von intensiven Gefühlen, doch die Art, wie diese Gefühle ausgedrückt werden, ist eine ganz andere. Man muss anders zuhören, um die Phrase eines Sängers in den eigenen Körper, ins Hirn, in die Seele zu bekommen. Diese eine Phrase aber kann die ganze Welt bedeuten. Bei Wagner hat man gewaltige Dimensionen und einen langen Weg, um einen Ausbruch, eine Explosion vorzubereiten, im Belcanto kann man sich unmittelbar in eine einzige Phrase verlieren.
Welche Belcanto-Oper würden Sie als Einstieg für einen Neuling empfehlen?
Rossinis «Barbiere di Siviglia», «L‘Italiana in Algeri» oder «La Cenerentola», aber auch «L’elisir d’amore». «Don Pasquale», Donizettis letzte Oper vielleicht weniger, trotz der emanzipierten Norina, die junge Leute von heute sicher beeindruckt. Aber «Pasquale» ist keine Opera buffa und sehr komplex. Es ist das Ende der Träume, die ein Mann im Herbst seines Lebens von der Liebe hat, und es ist auch das Testament des Komponisten, sein Schwanengesang. Das Ende seines Traums von der Oper, da hört man förmlich den norditalienischen Nebel von Bergamo am Himmel heraufziehen.
Seit Beginn dieser Saison sind sie Musical Director an der Lyric Opera of Chicago, wo Sie mit einer Neuproduktion von Verdis «Macbeth» und mit «L’elisir d’amore» gestartet sind. Warum gerade diese beiden Opern?
Ich denke, mein Weg mit Belcanto ist jetzt folgerichtig bei Verdi angekommen. Da habe ich in nächster Zeit viel vor. Weil Chicago eine große Verdi-Tradition hat, war das genau das richtige Stück für meinen Einstieg, und in Bezug auf «L’elisir» sagte man: „Das ist doch genau dein Fach!“ Und das war es auch, quasi das leichte Gegenstück zum schwarzen Verdi, ein „Leggero-Werk“. Chicago hat die typische Bevölkerung des Mittleren Westens, sehr spontan, warm, einladend. Und so wurde auch ich empfangen. Es ist das Gegenteil von New York, wo alles viel schneller gehen, ökonomischer sein muss, immer nach dem Motto „Time is Money!“ – stets mit Stress und Hysterie verbunden. Das ist in Chicago anders. Ich habe mich gleich als Teil eines Teams und der Stadt gefühlt, aber spürte auch die Möglichkeit, neue Ideen einzubringen.
Ist das Publikum anders als in den großen Städten Europas?
Ich möchte mal sagen, es ist ein bisschen konservativer, und es möchte die Dramaturgie der Opern so erleben, wie sie der Komponist gedacht hat. Und da geht es nicht um die Modernität eines szenischen Entwurfs. Die Architektur dieser Stadt ist ja auch super modern! In Chicago gibt die weltweit größten Sammlungen zeitgenössischer Kunst und die meisten Kunstsammler. Sie sind glücklicherweise nicht nur Liebhaber der bildenden Kunst, sondern auch der symphonischen Musik und der Oper. Darüber hinaus unterstützen sie Institutionen wie das Chicago Symphony Orchestra oder das Opernhaus auch entsprechend.
Wie ist die Struktur des Publikums – jünger als bei uns?
Noch nicht. Und es ist eine meiner Aufgaben, das etablierte Publikum zu halten, aber neues, jüngeres hinzuzugewinnen. Es gibt eine sehr lebendige Kultur unter den Jüngeren, die an Theater und Tanztheater interessiert ist, an Film und Video; die möchte ich für die Oper gewinnen. Wir haben Barrie Koskys «Zauberflöte» im Repertoire, die viel junges Publikum anzieht. Da müssen wir ansetzen.
Das klingt nach einem Spagat. Wie machen Sie das konkret?
Ich denke, wir müssen zwar auch in die Grundschulen gehen, aber das problematische Alter ist das zwischen 17 und 30. Die könnten selbst die Oper wählen, aber machen anderes. Denen müssen wir erklären, warum wir Oper machen, was deren Botschaft sein kann. Dafür müssen wir auch das Marketing erneuern und klar stellen, dass die Geschichte der «Traviata» jene von „Pretty Woman“ ist, nur 150 Jahre früher. Jede Oper, die wir heute im Repertoire haben, war ja auch immer eine zeitgenössische Oper – zu ihrer Zeit. In Chicago haben wir ein tolles Programm für junge Opernsänger, das sich „Ryan Opera Center“ nennt. Die geben Konzerte in den verschiedenen Communitys, da ist Diversität und Gleichberechtigung ein großes Thema. Denn die Hälfte der Sängerinnen und Sänger haben afro-amerikanische oder lateinamerikanische Wurzeln. Aber in der Publikumsstruktur etwas zu ändern, das geht nicht in ein oder zwei Jahren, das kann dauern und ist ein langwieriger Prozess.
Ist Chicago derzeit Ihr Lebensmittelpunkt?
Ich verbringe zwei Monate in Zürich, zwei in Berlin, zwei in Bregenz, auch mal zwei in Amsterdam, aber fünf bis sechs sind es in Chicago, also würde ich das schon meinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nennen. Als ich lange Jahre in Paris war, habe ich in der Metro viel über die Menschen gelernt, was sie hören, was sie hassen, was sie mögen. Und in Chicago nehme ich oft den Bus und nicht das Taxi. Nur da erlebe ich die Vielfalt der Menschen, die diese Stadt ausmacht! Hier in Zürich fahre ich oft mit der Nr. 5, und als ich da das „Sonderangebot“ für eine Lampe sah, die 1400 Schweizer Franken kostet, machte ich mir schon ein wenig Gedanken darüber, wer Tram fährt und so viel Geld für eine Lampe ausgeben kann (lacht).
Sie haben bei den Bregenzer Festspielen großartig Rossinis «Mosé e Egitto» im Festspielhaus dirigiert, aber auch «Rigoletto» auf der Seebühne. Also mit einem Orchester im Keller ohne direkten Kontakt zur Bühne. Wie bewältigt man diese Herausforderung?
Nun, wir haben eine große Leinwand, auf der ich das Geschehen verfolgen kann, und Monitore für jede einzelne Sängerin und jeden Sänger.
Aber wie machen Sie das mit der Balance zwischen Protagonisten und Orchester?
Hier im Zürcher Opernhaus bin ich allein verantwortlich dafür, dass die Balance stimmt. In Bregenz muss ich auf die Techniker vertrauen, denn es gibt nur eine einzige Probe, in der mein Assistent dirigiert und ich „draußen“ das Ergebnis überprüfen und dann Details ändern kann. Es gibt ein paar Instrumente wie Fagott, Trompete oder Flöte, die einen so direkten Klang haben, dass sie im Verhältnis zu den anderen Instrumentengruppen oft zu laut sind. Das muss man regulieren und dämpfen. Aber es gibt ein exzellentes Sound Design, auf das ich mich verlassen kann. Bei «Rigoletto» sollte der Zuhörer quasi mitten im Geschehen sein, und das ist fantastisch gelungen. Ich bin gespannt, was das Konzept für «Butterfly» sein wird. Wissen Sie, ich arbeite sonst ganz am Detail und mit „Kritischen Ausgaben“, wo es auf die – allerdings oft entscheidenden – Kleinigkeiten ankommt. Da bin ich dann der studierende oder der „studierte“ Dirigent. In Bregenz geht es um das große Ganze, da mache ich etwas Populäres für täglich 7000 Besucher. Das ist die große Show, der Sommer-Traum von Oper. Denken sie nur daran, wie die Sonne über dem Bodensee untergeht, wenn das Spektakel beginnt. All das gibt mir eine große Befriedigung und ist der komplette Kontrast zu meiner sonstigen Arbeit.
Nun noch die unvermeidliche Frage: Wie haben Sie die Pandemie bislang erlebt?
Ich war entweder in Chicago oder in Montepulciano, wo ich ein Haus habe, seit ich dort vor zwanzig Jahren den Cantiere Internazionale d’Arte leitete. In Italien war ich mehr zurückgezogen, aber auch kreativ, ich machte eine Menge Videos, zum Beispiel über «Attila», den wir in Chicago nicht live zeigen konnten…
…da erklären sie mit Ihrem I-Phone in einem zwölfteiligen Podcast Verdis Frühwerk …
…und später dirigierte ich in einem „Virtual concert“ vor barockem Vorhang Auszüge mit zwei Pianisten als Orchester, sowie den Solisten Tamara Wilson, Matthew Polenzani und Christian Van Horn. Und ich führte wieder durch das Werk. Das war mir ein großes Anliegen in Zeiten, wo wir nicht vor Publikum spielen konnten. Denn wir wollten nicht mehr still sein, sondern die Menschen vor dem Bildschirm zum Lächeln verführen, trotz allen Schreckens und der Millionen von Toten. In dieser Pandemie konnten und mussten wir herausfinden, warum wir Künstler sind!
Das Interview erfolgte am 4. Dezember 2021 im Dirigentenzimmer des Opernhauses Zürich in englischer Sprache (Übersetzung durch den Interviewer).