Abschied

Janáček an der Wien

Das Theater an der Wien bricht mit «Jenufa» zum dritten und letzten Mal in der Ära Roland Geyer eine Lanze für Leoš Janáček

Stephan Burianek • 20. Februar 2022

Pavel Cernoch als Laca bedrängt seine Angebetete Jenufa, Svetlana Aksenova © Werner Kmetitsch

Im Prinzip sind bei internationalen Aufführungen von Leoš Janáčeks Opern zwei Stile zu erlauschen: Der eine wird von einem romantischen Klangideal getrieben, der andere vom Willen nach einer möglichst großen Expressivität. Diese interpretatorische Bandbreite erscheint heute eigenartig, denn Janáček selbst strebte eindeutig nach zweitem. Außerdem zeigt sich immer wieder, dass ein „romantisch“ intonierter Janacek im besten Fall recht gefällig, aber allzu harmlos (Beispiel: «Schlaues Füchslein» an der Wiener Staatsoper, 2016) und im schlechtesten Fall gar wie ein schwacher Puccini-Epigone klingt (Beispiel: «Katja Kabanova» an der Mailänder Scala, 2007). Der Kern des Problems liegt in der historischen Praxis, denn wiewohl Janáček zweifellos ein Genie war, ging er bei der handwerklichen Ausgestaltung seiner Partituren nicht sonderlich perfektionistisch vor. So finden sich in seinen (nur schwer lesbaren) Originalpartituren immer wieder unspielbare Fingersätze. Kein Wunder also, dass Janáčeks Zeitgenossen – ungeachtet der großen Erfolge in seiner Heimatstadt Brünn – den ungewöhnlichen Partituren mit einer überheblichen Skepsis begegnet sind. Der damalige Operndirektor am Prager Nationaltheater Karel Kovařovic stimmte einer Aufführung von Janáčeks «Jenufa» an seinem Haus nach jahrelangem Zögern nur unter der Bedingung einer eigenhändigen Nachbearbeitung zu – was freilich als Retourkutsche interpretiert werden kann, immerhin hatte der auch als Musikkritiker tätige Janáček einige Jahre zuvor Kovařovics Kompositionen verrissen. Jedenfalls gingen Janáčeks Opern zunächst romantisch „verwässert“ durch die Welt.

Warum diese lange Einführung? Weil am Theater an der Wien derzeit zum dritten Mal in den vergangenen 15 Jahren eine Lanze für den „richtigen“ Janáček gebrochen wird. 2007 dirigierte Pierre Boulez im Rahmen der Wiener Festwochen das Mahler Chamber Orchestra in der legendären «Aus einem Totenhaus»-Inszenierung von Patrice Chéreau, ein Jahr später wurde Kirill Petrenko in «Katja Kabanowa» dem mährischen Meister gerecht. Und nun spielt das ORF Radio-Symphonieorchester unter der Leitung von Marc Albrecht Janáčeks «Jenufa» nicht minder packend in der sogenannten Brünner Fassung, die in den frühen 1980er-Jahren von Charles Mackerras mittels der originalen Autographen rekonstruiert wurde. 

Nina Stemme wird als Küsterin nach dem Kindsmord von Dämonen verfolgt © Werner Kmetitsch

Bei der Premiere ernteten Dirigent und Orchester bereits vor dem dritten Akt einhelligen Jubel, ganz so, als wäre man bereits beim Schlussapplaus. Zurecht: Albrecht schreitet in dieser Produktion zügig durch die Partitur, lotet sie zugleich kontrastreich aus und lässt den Bogen nie locker. Und wenn die Walze mal inne hält, dann entfacht das besonders starke Momente, etwa bei dem von Konzertmeisterin Maighréad McCrann ungemein Ungarisch-Wienerisch-sentimental-intensiv gespielten, den Kindstod begleitenden Violinsolo. Albrecht packt jedenfalls ordentlich zu, und hin und wieder wird es richtig laut – das fordert die Solist:innen, doch die sind gewappnet: Pavol Breslik als unreifer, vom Wohlstand verwöhnter Števa und Pavel Cernoch als sein eifersüchtiger Halbbruder Laca sind mit ihrer klaren Diktion bei gleichzeitiger Stimmkraft als Janáček-Sänger derzeit wohl unübertroffen. Die dominanteste Partie in diesem Werk ist freilich die Küsterin, die aus Angst vor der dörflichen Schande das uneheliche Kind ihrer Ziehtochter im eiskalten Bach tötet. Häufig wird diese Partie mit einer ausgesungenen, verdienten dramatischen Sängerin besetzt. Auf Nina Stemme trifft der erste Punkt dieser Beschreibung nicht zu – mit fester, kräftiger Stimme bringt sie das Opernhaus nach wie vor zum Beben. Die undankbare, weil passive Partie der Jenufa meistert Svetlana Aksenova mit großer Bühnenpräsenz nahezu problemlos.

Auch die szenische Lösung erfreut: Die baldige Volksoperndirektorin Lotte de Beer schaffte das Kunststück, eine traditionell anmutende Inszenierung auf die Bühne zu stellen ohne dabei reaktionär zu wirken. Sie erzählt die Geschichte als Reflexion der Küsterin, die in einem heruntergekommenen k. u. k. Provinzgefängnis für ihre grausame Tat büßen muss und in ihrer mit katholischen Insignien geschmückten Gefängniszelle ausreichend Zeit hat, die Ereignisse zu verarbeiten. Zugleich hält sich de Beer nahezu wörtlich an das Libretto und lässt die Handlung originalgetreu im bäuerlichen Milieu um 1900 spielen, inklusive einem Folkloreauftritt in der Hochzeitsszene im dritten Akt (Kostüme: Jorine van Beek). Die massiven Gefängniswände stehen auf einer Drehbühne, die in jedem der drei Akte ein neues Bild entstehen lässt (Bühne: Christof Hetzer).

Ein starkes Bild: Die Babyleiche ist entdeckt, die Dorfbewohner rufen nach Vergeltung © Werner Kmetitsch

Die Küsterin wird bei de Beer nicht, wie sonst üblich, als dominanter Drache gezeichnet. Man nimmt der Figur ab, in Anbetracht der kleingeistigen Dorfgemeinschaft „nur das Beste“ für ihre Ziehtochter gewollt zu haben. Gelegentlich ziehen Perchten über die Bühne, die eine geschorene Büßerin, vielleicht die verurteilte Küsterin, vor sich her treiben. Anstatt das neue Paar Laca und Jenufa mehr oder weniger verliebt seiner gesellschaftlich akzeptierten Zukunft entgegen schreiten zu lassen, gehört das letzte Bild in dieser Produktion der vom Gewissen gebeutelten Küsterin. Die Versöhnung zwischen ihr und Jenufa erfolgt bei de Beer in einem zeitlichen Abstand zum Geständnis der Küsterin, nämlich im Rahmen eines Gefängnisbesuchs, und gerät dadurch glaubhafter als im Original.

Zudem sind im Theater an der Wien einige der kleineren Partien luxuriös besetzt: Klangschön und deutlich singen Juliette Mars die Magd Barena sowie Natalia Kawalek die Hirtin, und Valentina Petraeva aus dem hauseigenen Jungen Ensemble brilliert als Števas neue, kokette Flamme Karolka. Hanna Schwarz ist eine idealtypische Greisin Buryjovka.

Ebenfalls bemerkenswert: Nicht ein einziges Buh für die Regisseurin mischte sich in den Schlussapplaus. Ob de Beers zeitlose Inszenierung als ein Versprechen an das Wiener Publikum gewertet werden kann? Fest steht: Die letzte Produktion im Theater an der Wien unter dem scheidenden Direktor Roland Geyer bildet den würdigen Abschluss einer künstlerisch hochgradig beglückenden Ära.
 

«Jenufa» – Leoš Janáček
Theater an der Wien

Kritik der Premiere am 19. Februar 2022
Weitere Termine: 21./24./26./28. Februar 2022
Tipp: Live-Übertragung am 26. Februar 2022 um 19:00 Uhr in Radio Ö1