Gärtnerplatztheater

Den realen Wahnsinn einmal vergessen

Intendant Josef E. Köpplinger setzt in der «Fledermaus» an „seinem“ Münchner Haus gekonnt auf Übertreibung

Klaus Kalchschmid • 09. April 2022

Eine schiefe, vermeintlich heile Welt im 1. Akt: Elvira Hasanagić (Rosalinde), Alexander Franzen (Gefängnisdirektor Frank), Alexandros Tsilogiannis (Alfred) und Statisterie (B-Besetzung) © Christian Pogo Zach

Das Timing für den Maggio Musicale Fiorentino war perfekt. Dort kam «Il pipistrello», wie «Die Fledermaus» auf Italienisch heißt, in der Regie von Josef E. Köpplinger im Januar heraus, also noch zu Faschings- und Friedenszeiten. Jetzt, zur Premiere am koproduzierenden Staatstheater am Gärtnerplatz, wo Köpplinger auch als Intendant wirkt, ist nicht nur Fastenzeit, sondern ein in den Dimensionen und seiner Entwicklung kaum einschätzbarer Krieg in Europa. Wie soll man da den Nerv haben und die Unbeschwertheit, einer reichlich durchgeknallten Ehe-Farce mit geistsprühend ironischer Musik beizuwohnen, mithin einer Operette, in dessen Zentrum ein ausgelassenes, champagnerseliges Fest stattfindet rund um einen reichen Typen aus russischem (!) Hochadel, genannt Prinz Orlofsky, Paraderolle aller Mezzosopranistinnen, die gerne die Hosen anhaben. 

Aber weil Köpplinger die berühmteste und meistgespielte aller Operetten weder zur Entstehungszeit noch heute, sondern in den 1920er-Jahren spielen lässt (Bühne: Rainer Sinell, Kostüme: Alfred Mayerhofer) und alles auf Übertreibung setzt, funktioniert das Ganze als wüste, komische Überrumpelung, bei der man für einen Abend den real existierenden Wahnsinn vergisst. Die Welt ist buchstäblich aus den Fugen und jede Wand und jede Tür irgendwie schräg und gekippt. Im ersten Akt sehen wir ein Jagdzimmer mit allerlei Geweih an der Wand, ein Christbaum steht in der Ecke, dessen goldglänzende Kugeln schon mal zum anzüglichen Requisit werden und ein kleines Hündchen als Running Gag immer wieder aus dem Nebenzimmer bellt. Das mit Papier vollgemüllte „Büro“ des Gefängnisdirektors Frank im dritten Akt ist endgültig aus dem Lot geraten und jedes Architektur-Detail hat Schlagseite. Einzig das berühmte, hier schneebedeckte Wiener Denkmal von Johann Strauss als Stehgeiger im französischen Heckengarten des zweiten Akts steht aufreizend gerade und dient auch immer mal wieder als phallisches Objekt der Begierde, an das man sich anschmiegen kann oder das einen Blowjob gnädig verbirgt. Wer gerade was Wichtiges zu sagen oder zu singen hat, klettert auf den Sockel, was mit der Zeit allerdings in der Wiederholung seinen Reiz verliert.

Es ist das Fest von Prinz Orlofsky, eines weißgekleideten reichen Schnösels, der das Lachen verlernt hat und dem hier einzig Russisch Roulette noch Spaß zu machen scheint. Ausgiebig fuchtelt er denn mit der Pistole herum und gibt auch schon mal Warnschüsse ab, schafft es aber selbst in der Schlussszene nicht, sich endlich eine Kugel in den Kopf zu jagen. Emma Sventelius füllt diese (Hosen-)Rolle mit  schneidigem Mezzo perfekt aus. Da hat auch der ihm verfallene „ständige Begleiter Iwan“, ein schmucker Kerl (Alexander Jürgens), nicht wirklich eine Chance, obwohl er seine bedingungslose Hingabe mit mimischer und gestischer Inbrunst zelebriert. 

Mitten im Fledermäuse-Ballett (B-Besetzung): Maximilian Mayer (Gabriel von Eisenstein) und Alexander Franzen (Gefängnisdirektor Frank) © Christian Pogo Zach

Dennoch hängt dieser (Ball-)Akt, der etwas absurd unter lauter eher leicht bekleideten Gästen draußen im Schnee spielt, ein wenig durch. Das Ballett der Fledermäuse (Choreographie: Karl Alfred Schreiner) sprüht nicht gerade vor Erotik, aber natürlich machen die berühmten Musiknummern Furore, etwa das Couplet „Mein Herr Marquis“, in dem Adele beweisen will, dass sie kein Stubenmädl sei. Ilia Staple singt das brillant und mit herrlichem Witz, spielt mit herzerfrischend frecher Derbheit und Wiener Schmäh, mischt in ihre Dialoge außerdem immer wieder einen schmutzigen Unterton oder ein dreckiges Lachen. Rosalinde dagegen zementiert mit einem Csárdás ihre vorgegaukelte ungarische Abstammung: Jennifer O’Loughlin gelingt das mit viel Diven-Selbstironie famos, denn wer am Gärtnerplatztheater die Belcanto-Queen ist, für den ist das hier die launige (nicht nur Spitzen-Ton-)Kür par excellence! 

Lucian Krasznec, ihr in jeder Hinsicht attraktiver (Ex-)Lover in Donizettis «Maria Stuarda» und «Anna Bolena» oder in «Rigoletto», der verführt sie hier als Alfred nicht nur physisch, indem er sich die Kleider vom Leib reißt („Mir ist warm!“) und in Unterwäsche plus Fliege um den Hals, aber noch in Schuhen und Strumpfhaltern sehr direkt erotisch bedrängt, sondern er lässt sie wie Butter dahinschmelzen durch schier betörenden Tenorglanz. Ihn serviert er in herrlich geschmetterten Arien-Zitaten bis hin zum strahlend lang ausgehaltenen Schlusston auf „Vincèro“ von „Nessun dorma“, bei dem das ganze Orchester einstimmt, während das Publikum tosenden Zwischenapplaus schenkt! Oder wie schon Rosalinde lustvoll und nicht ganz ernst gemeint stöhnt: „Ach, wenn er doch nur nicht über das hohe a hinaus singen würde!“

Michael Dangl (Frosch) in einem Gefängnis aus den Fugen © Christian Pogo Zach

Da hat es ihr Gatte Gabriel von Eisenstein in Gestalt von Daniel Prohaska schwer, zumal er auf dem Fest nichts anbrennen lässt, die maskierte Gattin („Bei uns herrscht Masken-Freiheit!“) verführen will, die ihm darauf das Corpus Delicti einer Uhr klaut, um später theatralisch zu schäumen und die Scheidung zu erwägen. Das löst sich bekanntlich am Ende („Champagner hat’s verschuldet!“) in Luft auf. Aber vorher liefern sich die Dame und die um ihre Gunst buhlenden Herren einen herrlich ironischen, ganz körperlich direkt ausgetragenen Zwist. Auch wie Prohaska sich im ersten Akt mit Advokat Dr. Blind (Juan Carlos Falcón) streitet oder mit Hausfreund Dr. Falke (ein feiner junger Bariton: Daniel Gutmann) statt auf Arrest auf das Fest mit den Ballett-Ratten einstimmt, ist musikalische Komödie „at its best“. Die Gags von Gefängnisaufseher Frosch (Michael Dangl) sind zwar zu 95 Prozent die altbekannten, noch aus diversen Otto-Schenk-Inszenierungen tradierten, aber sie funktionieren wie „Dinner for one“ immer wieder in ihrer wunderbaren Vorhersehbarkeit und ihren Slapstick-Qualitäten. Einzig ein Gag ist aktuell: „Nur noch zwei Bundeskanzler bis Ostern!“ Höhepunkt ist freilich die exzellente, virtuose Buster-Keaton-Nummer des sturzbesoffen in sein Büro torkelnden Gefängnisdirektors Frank. Reinhard Mayr macht das nicht nur filmreif, sondern singt auch mit Charme und virilem Kern.

Das Orchester des Gärtnerplatztheaters spielt unter Anthony Bramall zunehmend geschmeidiger und mit Lust an der Verstellung, die verschiedensten Tonfällen der Partitur von der Parodie großer Oper bis zur Walzerseligkeit ausreizend.


«Die Fledermaus» – Johann Strauss
Staatstheater am Gärtnerplatz

Kritik der Premiere am 7. April 2022
Termine: 10./14./23./29. April, 10./13./15. Juni 2022