Osterfestspiele Salzburg

Es geht nicht auf

Irgenwann auch an der Wiener Staatsoper: Wagners «Lohengrin» zwischen gruseligem Krimi und präfaschistischem Weltkriegsdrama

Walter Weidringer • 11. April 2022

Industriearchitektur mit Himmelbett (Bühne: Anna Viebrock) © Ruth Walz

Da ist was faul im Staate Brabant. Gut, eine konkrete Untat sehen wir nicht – aber schon während des Vorspiels macht sich Elsa verdächtig. Offenbar will sie sich ein Alibi verschaffen und vortäuschen, ihr Bruder Gottfried sei noch am Leben. In Burschenkleidern lungert sie nämlich am gemauerten Kanal mit Schleusen und Brücken herum, am regulierten Lauf der Schelde, und will gesehen werden. Entsetzt merkt sie plötzlich, dass ihr auf dem Kopf etwas fehlt: Nach kurzer Suche fischt sie mit Mühe eine triefnasse Perücke aus dem Wasser. Aber ein Zurück gibt es natürlich nicht, nur ein Weiter im Plan: In einem verborgenen Mauerwinkel zieht sie Hose und Jacke aus, wechselt in ein weiß-blaues Kleid. Von erhöhter Stelle hat Ortrud zuvor den vermeintlichen Gottfried gesehen und scheint keineswegs Verdacht zu schöpfen. Doch dann, als Elsa abgezogen ist, erblickt sie offenbar etwas Entsetzliches – eine Wasserleiche etwa? Die dann schon fortgespült war, als sie die Stelle aus der Nähe begutachten kam, was sie freilich keineswegs sofort tut? Warum wird dann genau dort am Ende Gottfried aus seinem nassen Grab auferstehen? Jedenfalls findet Ortrud dann dort am Ende des ersten Aktes eine Halskette mit Schwanenanhänger. Aber da ist dem Publikum längst klar: Mit „CSI“-Forensik (die in sich auch schon wieder als geradezu märchenhaft exakt dargestellt wird) oder mit Hercule Poirots „kleinen grauen Zellen“ allein wird dieser zum Kriminalfall umfunktionierten „großen romantischen Oper“ namens «Lohengrin» nicht beizukommen sein.

Ja, an Elsa von Brabants Händen klebt sehr wohl das Blut ihres abgängigen Bruders. Die unschuldig reine Maid, verleumdet von der heidnischen Antagonistin Ortrud, laut althergebrachter Märchen(opern)logik also bedürftig einer übersinnlichen Hilfe in Gestalt eines strahlenden Gralsritters? So mag es vielleicht Richard Wagners Libretto suggerieren und jeder Opernführer behaupten, aber es ist falsch, findet jedenfalls das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito, das sich in diesem Inszenierungsfall durch die wesentliche Mitarbeit von Anna Viebrock zum Trio erweitert hat. Die Erstgeborene, aber als Tochter in der brabantischen Erbfolge übersprungen, will sich hier nicht mit diesem Frauenlos abfinden und nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand, auch wenn dafür ein Kapitalverbrechen nötig ist: Das ist der große Perspektivenwechsel, die bewusst jeder Übereinkunft widersprechende Grundidee dieser Inszenierung, die als Koproduktion zwischen den Osterfestspielen Salzburg und der Wiener Staatsoper auch ins Haus am Ring wechseln wird – wofür das variierte Einheitsbühnenbild in der Breite selbstredend gehörig gestaucht werden muss.

Nicht so lieb wie sie wirkt: Jossi Wieler und Sergio Morabito machen aus Elsa (Jacquelin Wagner) eine mörderische Manipulatorin © Ruth Walz

Dass die Umdeutung von Schuld und Unschuld überhaupt möglich ist, liegt auch am Wortlaut des letzten Auftritts der Ortrud, „Fahr heim! Fahr heim, du stolzer Helde“: Der wird üblicherweise als Geständnis interpretiert, sie habe mit einem heidnischen Zauber Gottfried in einen Schwan verwandelt, zumindest ist der Chor sofort dieser Ansicht. Genau genommen gibt sie jedoch nichts dergleichen zu, es könnte sich auch um eine leicht verwirrte Beschuldigung Elsas handeln. Könnte. Dass die Musik genau genommen ausschließt, dass der Konjunktiv zum Indikativ wird, dass das, was gesellschaftspolitisch und vom Krimistandpunkt aus interessant anmuten mag, dem Erklingenden eklatant widerspricht, muss heutzutage ja niemand mehr kümmern: Symbolik von Tonarten und Instrumentierungsfarben? Kinkerlitzchen! Dabei weiß Wagners Orchester ja immer mehr als seine Protagonisten – auch wenn im «Lohengrin» die Leitmotivtechnik noch nicht auf Hitchcock’sche Suspense-Ausmaße entwickelt ist. Aber geradezu lügen oder Elsas Lüge aufsitzen: Für so hinterlistig oder dumm hätte man die Partitur eigentlich nicht gehalten.

Damit soll keineswegs ein dumpfer Konservativismus verteidigt werden, der nichts abseits des Althergebrachten, Ewiggleichen oder gar Ewiggestrigen erlaubt. Der Diskurs über die Rolle des Autors, der in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte geführt wurde, mag uns auch ein Stück weit in der Betrachtung musikalischer Deutungen weiterhelfen. Kunstwerke seien „Maschinen zur Erzeugung von Interpretationen“, meint der Semiotiker und Romancier Umberto Eco – und unterscheidet in der Folge penibel zwischen den Absichten des Schöpfers (intentio auctoris), dem, was der Rezipient aus dem Werk herausliest (intentio lectoris) sowie dem, was das Werk tatsächlich enthalte (intentio operis) – und nur das solle Basis einer verantwortungsvollen Deutung sein. Doch wer entscheidet, welche Interpretationen noch zulässig sein mögen und welche jeder Grundlage entbehren, übers Ziel hinausschießen? Der poststrukturalistische Literaturtheoretiker Jonathan Culler widerspricht Eco und bricht eine Lanze für die Überinterpretation, denn jede Auslegung sei, „wie die meisten anderen Geistestätigkeiten ... nur ins Extrem getrieben interessant.“ Den Wert von, sagen wir, kühnen Deutungen erblickt Culler in einer Art von Umwegrentabilität, zu der sie vorstoßen könnten: „Viele ‚extreme‘ Interpretationen dürften, ebenso wie viele gemäßigte, fast folgenlos bleiben, da sie unplausibel, redundant, irrelevant oder langweilig erscheinen; doch die extremen haben – meine ich – gegenüber den ‚soliden‘ oder gemäßigten wenigstens den Vorteil, dass sie Zusammenhänge oder Implikationen zutage fördern, die zuvor unbemerkt oder unbedacht blieben.“ Eine Überinterpretation richtet ja insofern auch keinerlei Schaden an, als sie im Diskurs über einen Text ohnehin fähig sein muss, sich zu behaupten – und sei es nur durch vielstimmigen, womöglich über längere Zeit wiederholten Widerspruch. Eco ist überzeugt, dass es viele objektiv falsche Interpretationen gibt, weil sie nicht gewissenhaft aus dem Werk allein herleitbar wären: Durch Fehldeutungen oder Unterstellungen werde das Interpretieren zum bloßen „Gebrauchen“. Der Philosoph Richard Rorty entgegnet jedoch: „Diese Trennung mögen wir Pragmatisten naturgemäß nicht. Nach unserer Auffassung tun wir alle nie etwas anderes, als Dinge zu gebrauchen.“ – Das Interpretieren, extrem interpretiert.

Jacquelin Wagner macht als Elsa stimmlich ein wenig ratlos, Eric Cutler bemüht sich um einen differenzierten Vortrag © Ruth Walz

So weit, so gut. Aber für eine szenische Neu-, Um- (oder auch Über-)Interpretation gelten, selbst wenn man ein grundsätzliches „Anything goes“ einräumen mag, auch noch ästhetische Anforderungen, sind auch künstlerische Maßstäbe anzulegen, solche der inneren Logik etwa. Und da hapert es bei diesem «Lohengrin» doch beträchtlich. Denn um die eigentlichen Fragen des Stücks ebenso wie um solche, die erst die aktuelle Deutung aufwirft, drückt sich das Regieteam herum. Wie etwa kommt es zu dem präfaschistischen Massenwahn und dem Lohengrin-Kult, der etwas hanebüchen durch eine Art Erdbeben herbeigeführt wird? Hat ihn die populäre Manipulatorin Elsa irgendwie angezettelt, dieser siegesgewiss lächelnde Ufa-Star mit Ähnlichkeit zu Leni Riefenstahl? Oder fällt er ihr in den Schoß? Gerade dieser Lohengrin – Bart und Dürerlocken, halb bekiffter Jugendlicher, halb Obdachloser, mit coolem, tiefenentspanntem Grinsen, Rüstung unter der zerrissenen Hose, mehr Zivildiener als Schwerkämpfer –, er eignet sich denkbar schlecht als verehrter Heros inmitten all des militaristischen Gehabes, das hier – in einem Kostümmix des 20. Jahrhunderts, vom Kaiserreich bis zu den Fünfzigern – zwischen Einmarsch und Generalmobilmachung die Armee ebenso wie die Zivilbevölkerung erfasst hat und das die Regie wohl mit kritisieren will. Immerhin, dieser Lohengrin kommt wahrlich aus einer anderen, aber schwerlich kompatiblen Welt – und das hat, für sich genommen, eine durchaus erfrischende Komik, die den üblichen weihevollen Ernst aufbricht. Optisch ist er Komplementär und Alter Ego zu Gottfried (Luca Griessler), der am Schluss zombiehaft aus dem Wasser steigt, als wär’s eine Szene aus „Game of Thrones“, zu Elsas blankem Entsetzen: Der ganze schöne Mordplan umsonst! Am Schönsten, Entspanntesten singt Eric Cutler, wenn er die Gralserzählung schon hinter sich hat: Von Beginn an bemüht er sich um klare Linien und differenzierten Vortrag, aber es dauert, bis die Phrasierung weiträumiger und die etwas zu tief bleibenden Töne seltener werden; ganz frei und mühelos strömt sein Tenor kaum. Enttäuschend, dass ausgerechnet die vom Konzept her zentrale Elsa zwar ganz gut spielt, aber stimmlich ratlos macht: Jacquelin Wagner absolviert mit an sich hübschem Sopran die Partie in dröger Einheitslautstärke – nirgends ein Piano, das schweben würde oder ein Forte, das aufblühte. Daneben beschwört Hans-Peter König in Hindenburg-Feldgrau mit Reitgerte des Basses Grundgewalt als König Heinrich und befehligt Heerrufer Markus Brück streng die Fanfarenbläser.

Schwertkampf zwischen Telramund (Martin Gantner) und Lohengrin (Eric Cutler) © Ruth Walz

Was Christian Thielemann am Pult der insgesamt famos, wenn auch nicht durchwegs perfekt spielenden Staatskapelle Dresden leistet, zeigt sich auch und nicht zuletzt darin, wie er auf die Stimmen Rücksicht nimmt. Auf Martin Gantners Telramund etwa, hier so etwas wie ein scheiternder Geschäftsmann mit zu lang gebundener Krawatte und den Händen fast immer in den Jackentaschen: Im zweiten Akt wird er beinahe zum Terroristen, wenn er sich mit vorgehaltenem Maschinengewehr Gehör verschaffen will. Dass er ins Brautgemach ohne jede Waffe eindringt und gar nicht recht weiß, was er hier nun soll, aber trotzdem von Lohengrin niedergestreckt wird, setzt diesen zusätzlich ins Unrecht. Gantner deklamiert jedenfalls prägnant, verwischt die Tonhöhen aber trotzdem nicht durch stimmliches Gestikulieren ins Ungefähr, sondern bewältigt die schwierige Partie mit echtem Gesang. Dass er keine Riesenröhre zur Verfügung hat, fällt insofern doppelt nicht auf, da er einerseits eine kluge Balance zwischen Wort und Ton trifft und andererseits Thielemann ihn niemals in Bedrängnis bringt: Bei diesem profiliertesten Sängerdarsteller des Ensembles versteht man jedes Wort. Das gilt weniger für die Ortrud der Elena Pankratova, einer immer eher verlässlichen als fulminanten Sängerin. Nie käme man bei ihr auf die Idee, dass die „Entweihten Götter“, wie seinerzeit etwa noch bei Christa Ludwig, minutenlangen Jubel und damit die Unterbrechung der Vorstellung provozieren könnten. Dass sie mit Common sense als Hobbydetektivin und vielleicht sogar Widerstandskämpferin dem von Elsa ausgelösten Irrweg Paroli böte, geht weder szenisch noch musikalisch auf. Noch dazu lenkt es bereits im Vorspiel von der Musik ab. Natürlich betören dort die ätherischen Streicherflageoletts, übrigens produziert von einer relativ schlanken Streicherbesetzung mit sechs Kontrabässen statt der üblichen acht. Noch mehr aber fasziniert, wie bruchlos geschmeidig sich dieses wundersame Stück Musik als Ganzes aufbaut und wieder zurücksinkt, als habe Thielemann eine Extradosis Mendelssohn’schen Elfenspuk eingemischt. Auch dort, wo sich sonst in Celli und Blech der Klang verdickt, ziehen sich fein gewirkte Silberfäden durch. Der orchestrale Erzählstrang und seine Ausdruckskraft reißen den Abend über weder im Pianissimo der Bässe ab noch werden sie vom Fortissimo der Höhepunkte erdrückt, wobei etwa die zusätzlichen Bläser am Schluss des zweiten und in der Verwandlung des dritten Aktes von den Bühnenseiten aus direkt in den Saal schmettern.

Bezeichnend, dass das Leitungstrio der guten, wenn auch nicht ganz wackelfreien vereinten Chorkräfte der Sächsischen Staatsoper, des Bachchores und des Landestheaters Salzburg dann fälschlich die ersten Buhs für das Regieteam abbekam. Demonstrativ gefeiert wurde dagegen Thielemann, der nun, dem Lohengrin nicht ganz unähnlich, nach zehn Osterfestspieljahren von dannen zieht. Von nun an sollen nach dem Willen des Intendanten Nikolaus Bachler wechselnde dirigierende Kreuzfahrtgäste auf der Salzach daher schippern: Der nächste Schwan bringt 2023 Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig, nicht zuletzt für einen prominent besetzten «Tannhäuser». Auch kein einfaches Stück.
 

«Lohengrin» – Richard Wagner
Osterfestspiele Salzburg ∙ Großes Festspielhaus

Kritik der Premiere vom 9. April 2022
Weiterer Termin am 18. April 2022