Valentin Schwarz

„Der Werkstatt-Charakter betrifft ebenso das Publikum“

Der Regisseur des aktuellen Bayreuther «Rings» erläutert die Intentionen seiner neuesten Arbeit und warum er kein „Stückezertrümmerer“ ist

06. Oktober 2022

Dieses Interview basiert auf einem Künstlergespräch des Richard Wagner-Verbands Wien, das am 15. September im Café Museum von dessen Präsidentin Liane Bermann mit dem Regisseur geführt wurde. 

Transkript: Stephan Burianek

Valentin Schwarz © Enrico Nawrath


Sie waren der dritte Regisseur, der für die aktuelle Neuinszenierung des «Rings des Nibelungen» vorgestellt worden war, und sie hatten ursprünglich kaum eine Vorlaufzeit zum geplanten Premierentermin im Jahr 2020. Durch die Corona-Pandemie bekamen Sie letztlich etwas Spielraum. Trotzdem hatten Sie das Konzept bereits im ersten Jahr fertig.

Im Theateralltag ist das ja kein beispielloser Vorgang: Auch Patrice Chéreau war etwa seinerzeit mehr oder minder Einspringer für Peter Stein. Das hängt sicherlich auch mit den speziellen Rahmenbedingungen zusammen. Die Tatsache, dass in Bayreuth alle vier Teile innerhalb einer Woche ihre Premiere haben, ist eine außergewöhnliche Herausforderung für alle Beteiligten. Unter solchen Bedingungen müssen bei Probenbeginn das Konzept und die Ausstattungsentwürfe für den gesamten Zyklus natürlich längst stehen. Die Corona-Zwangspause gab dann die Möglichkeit einer gedanklichen Vertiefung, denn der «Ring» arbeitet natürlich in einem weiter. In dieser Hinsicht kommt einem Bayreuth mit seinem Werkstatt-Gedanken wieder entgegen. 

Die Figuren im «Ring» sind gleichsam Archetypen – inwieweit haben Sie auf diesen Aspekt der Inszenierung Rücksicht genommen?

Das Schöne am «Ring» ist, dass er seit 150 Jahren in unterschiedlichsten Deutungen interpretiert wird. Uns war von Beginn an klar, ihn so zu zeigen, dass er für ein gegenwärtiges Publikum eine Relevanz hat und diese Relevanz mit einer Heutigkeit zu übersetzen, die uns von den märchenhaften und übernatürlichen Elementen wegführt und sich stattdessen den Menschen und der ihnen innewohnenden Psychologie annähert. Die Figuren im «Ring» sind ja Personen mit menschlichen Verhaltensweisen und Problemen, selbst die Götter sind bei Wagner weniger von den germanischen als mehr vom zerstrittenen griechischen Pantheon beeinflusst. Die menschliche Psychologie jenseits aller Typisierungen aufs Tapet zu bringen, war uns eine große Motivation. 

Es gibt dagegen die Tendenz, eine Idee oder eine Ideologie über den ganzen «Ring» darüberzustülpen. Mein von mir sehr geschätzter Vorgänger Frank Castorf hat beispielsweise einen ganz anderen Weg verfolgt und den «Ring» auf den Kapitalismus fokussiert. Meine Bedenken bei solchen Zugängen sind, dass die Figuren dadurch oft nur zu Ideenträgern verzwergen.

Eine Besonderheit im «Ring» ist ja, dass wir den Figuren mehrmals begegnen und bei ihnen vielfältige Facetten und Widersprüche entdecken. Ein Wotan, der im «Rheingold» trotz seiner Schulden noch auftrumpfend agiert und glaubt, dass er gewinnen kann, merkt in der «Walküre» die Konsequenzen davon, dass er Walhall auf tönernen Füßen gebaut hat. Die Figuren altern auch im Laufe der Handlung.

Stirbt die Freia in Ihrer Inszenierung, um diesen Alterungsprozess zeigen zu können? Immerhin ist sie im Besitz der goldenen Äpfel. 

Auch das ist ein Punkt. Bei Freia stellt sich ja die Frage, was mit ihr und den Riesen geschehen ist. Sie wird zunächst von den Riesen nach Riesenheim entführt. Von klugen Regisseur:innen wird auch immer wieder unterschieden zwischen Fasolt, der sie als Frau liebt und begehrt, und Fafner, der sie nur instrumentalisiert. Aber was mit ihr konkret passiert ist, das wissen wir nicht. Wenn sie zurückkommt, dann merken wir, dass sie komischerweise ihre Rückkehr kaum kommentiert. Es ist eigenartig zu sehen, dass sie sich in den ersten Minuten gar nicht mehr äußert. Die Tatsache, dass Wotan sie quasi verscherbelt hat, macht etwas mit der Familie und zeigt eine ganz verquere Menschensicht.

Walküren nach ihren Schönheits-OPs in der Inszenierung von Valentin Schwarz © Enrico Nawrath

Was halten Sie als Regisseur vom Begriff „Regietheater“? Der ist ja auch durchaus negativ besetzt.

Ja, das ist bereits seit Jahrzehnten einer der zentralen Begriffe und schon ein alter Hut. Heute ist es eine Binsenweisheit, dass es in der Oper zu einer Vorherrschaft der visuellen Ebene gekommen ist. Das liegt wohl nicht zuletzt an dem doch recht eingeschränkten Repertoire, auch wenn es immer wieder lohnende Ausgrabungen gibt. Letztlich beschäftigen wir uns seit Jahrzehnten mit einer «Bohème», einer «Traviata», einem «Ring» und «Hänsel und Gretel». Daher messen wir dem Visuellen eine große Wichtigkeit für die Weiterentwicklung des Genres zu, solange wir die musikalische Struktur unangetastet lassen, und diese visuelle Sicht wird in der „Bilderzeit“, in der wir leben, durch Fernsehserien und durch das Internet befördert. Das Tolle am Genre Musiktheater ist die Bandbreite seiner 400-jährigen Geschichte. Diesen Werken heute mit unterschiedlichen Sichtweisen zu begegnen, macht die Oper für mich aktuell und spannend. Ich bin mir sicher, dass kein einziger Librettist und Komponist – ich spreche in der männlichen Form, weil leider nur sehr wenige Frauen darunter sind – sich vorstellen hätte können, dass ihre Werke Jahrhunderte später noch Aufführungen erleben. Das Schöne ist, dass wir uns immer wieder neu damit beschäftigen können, indem uns beispielsweise einzelne neue Aspekte entgegengehalten werden, die uns vielleicht erst mal irritieren.

Wir gehen doch in die Oper, um eine wunderbare Musik zu hören und uns von Bildern begleiten zu lassen. In Opernkritiken lesen wir zumeist viel über die Regie, aber wenig von der musikalischen Darbietung. Kommt das wieder einmal ins Gleichgewicht? 

Dass die Musik im Feuilleton nur mehr schlagwortartig abgehandelt wird, hat wohl auch mit der Notwendigkeit zu tun, die gegenwärtige Praxis mittels Referenz-Aufnahmen zu vergleichen und zu analysieren. Dem entziehen sich anscheinend viele in ihrer diesbezüglichen Kompetenz unsichere Rezensenten.

Anders gefragt: Die meisten Opernfans gehen nicht in die Oper, um sich die Stücke zertrümmern zu lassen. Wird es in diesem Punkt irgendwann einen Umkehrtrend geben?

„Stücke zertrümmern“ ist aber ziemlich krasses Vokabular.

Frank Castorf hat von sich selbst gesagt, er sei ein „Stückezertrümmerer“.

In den Verträgen für die Regieteams der Bayreuther Festspiele steht ganz klar, dass an der Musik von Richard Wagner kein Takt und kein Strich verändert werden darf – es gibt keine Kürzung, keine Transposition, keine andere Orchesterfassung, keine neue Pause oder sonst irgendetwas. Das heißt, die Musik ist in Bayreuth unantastbar. Ich schätze, das hat den Castorf ein wenig geärgert, weil er in anderen Inszenierungen bekanntlich gerne Fremdtexte einfließen lässt. Jedenfalls kommt man in Bayreuth gar nicht zum Zertrümmern. Richard Wagner bietet aber unglaublich viele andere Wege zum Diskurs, was schon die hohe Zahl an diskussionsfreudigen Wagner-Verbänden zeigt. 

Wagner war sein eigener Librettist und Regisseur, und er hat ein Vierteljahrhundert am «Ring» gearbeitet. Allein schon die Tatsache, dass seine lange Kompositionspause im «Siegfried» nicht als großer Bruch wahrgenommen wird, zeigt, wie sehr er dieses komplexe Werk, für das er sein Konzept der sogenannten Leitmotive entwickelt hat, durchdacht hat. Das muss einem als Regisseur klar sein, und man darf nicht, wie das vielleicht manche andere machen, aus einer negativen Motivation heraus inszenieren, weil man meint, das Stück funktioniere nicht und müsse geändert werden. Man muss mit Liebe an den «Ring» herangehen.

Für einige Menschen im Publikum blieben bei Ihrer Inszenierung Fragen offen. Sie haben den «Ring» als Familiendrama im Stil einer TV- oder Netflix-Serie inszeniert. Sie beginnen, was allgemein sehr gelobt wurde, mit den Föten von Wotan und Alberich im Mutterleib, später aber scheinen sich die Fährten zu verlaufen.

Mir war es bei einem Werk, auf das man als Zuschauer eine Woche lang blickt, wichtig, eine ganz spezifische Seherfahrung und Blickrichtung zu schaffen. Bei den in dieser Handlung vorgegebenen Verwandtschaftsverhältnissen ist es praktisch unmöglich, keine Familiengeschichte darin zu sehen. Es ist schrecklich zu beobachten, wie sich in dieser Familiengeschichte die Muster an Verletzungen, Verdrängungen und Traumata über Generationen weitertragen. Wir sprechen über eine Familie, in der Personen aufgrund des Willens ihrer Eltern benutzt und instrumentalisiert werden und diesem Druck, dieser Belastung, die Träume der Eltern erfüllen zu müssen, nicht mehr standhalten und diese Bürde auf die nächste Generation weitergeben. Die Kinder, die keine Stimme und keine Möglichkeit haben, sich zu äußern, waren für uns daher ein Angelpunkt. Wotan erschafft ja Siegfried als „freien Helden“ nicht, um diesem seinen Willen zu lassen, sondern weil er durch ihn den Ring zurückbekommen möchte. Die Story ist voll von fiesen Mechanismen, und wie bereits George Bernhard Shaw herausgefunden hat, geht es darin nicht um Riesen und Zwerge, sondern um verschiedene Gesellschaftsschichten und um Machtstrukturen. 

Kinder als missbrauchtes Gold: Szenenfotos aus «Rheingold» mit Okka von der Damerau (Erda) sowie Olafur Sigurdason (Alberich) mit Schülerstatisterie © Enrico Nawrath

Bei Ihnen sind die Kinder das geraubte Gold.

Der Ring ist als Machtinstrument eigentlich völlig wirkungslos. Auch andere Objekte, wie der Tarnhelm oder der Speer, wirken per se eigentlich kaum, sondern stellen vielmehr Projektionen und Wunschvorstellungen ihrer Benutzer dar. Das Schwert Nothung hat für Siegfried beispielsweise den Zweck, sich von seinem Ziehvater Mime zu emanzipieren. Später übernimmt es eine ganz andere Funktion, wenn es in der «Götterdämmerung» als Zeichen der ehelichen Treue zwischen Siegfried und Brünnhilde liegt. Diese psychischen Funktionen haben wir durch andere Objekte, Zustände oder psychologische Handlungen für jede Szene neu befragt.

Bei Ihnen ist Sieglinde bereits schwanger, als sie Siegmund kennenlernt. Von wem ist das Kind?

Das war bereits bei der Mitgliederversammlung der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth nach der «Walküre»-Premiere großes Thema, bei der auch die Regisseure der Neuproduktionen geladen waren. Ich möchte mit meinen Inszenierungen keine Schnitzeljagd veranstalten, letztlich soll die Wahrheit von jedem einzelnen ge- und erfunden werden. Ich habe damals mit Zuschauer:innen gesprochen, die in meiner Inszenierung Dinge gesehen haben, die ich so noch nicht kannte – und auch umgekehrt. Daher sind meine persönlichen Antworten keine endgültigen Wahrheiten, aber weil die «Götterdämmerung»-Premiere bereits vorbei ist, kann ich auf ihre Frage kurz eingehen: Es gibt eigentlich nur drei Möglichkeiten einer Vaterschaft: Hunding, Wotan oder vielleicht doch Siegmund?

Wir haben uns für eine andeutungsweise Beantwortung entschieden: Im Zweiten Aufzug gibt es einen verstörenden Moment, wo Sieglinde von allen verlassen ist: Siegmund hat Hundings Jagdhörner gehört und ist Richtung Kampf davongelaufen und Sieglinde wacht aus ihrem ohnmächtigen Tagtraum auf, in dem sie sich in einem brennenden Haus glaubt und um Hilfe ruft. In diesem Moment kommt in unserer Inszenierung Wotan zu ihr und nähert sich dieser verletzlichen Frau, die im gleißendem Licht auf einer Treppe liegt und allen ausgeliefert ist, in einer Weise, wie es kein Vater tun sollte...

Sie dichten auch dem Siegfried ein Kind an.

Da sind wir jetzt in der «Götterdämmerung». Die beiden Verliebten, die am Ende von «Siegfried» noch überschwänglich ihre Gefühle und den gemeinsamen Vernichtungswillen besungen haben, tauchen nun gealtert auf, und man merkt: Der Mann will nur noch weg. Offenbar ist seither einige Zeit vergangen, und das betonen wir in unserer Inszenierung dadurch, dass die beiden nach langen Ehejahren ein Kind zusammen haben – übrigens sind auch in einem der mythischen Vorbilder Wagners, der Snorra-Edda, die beiden auch Eltern einer Tochter namens Aslaug … Das Kind, das Siegfried ihr als „Liebespfand“ lässt, das ist der Ring. Dafür gibt sie ihm, gleichsam als Tauschhandel, Grane, das Pferd, das bei uns als Begleiter und Anstandswauwau personifiziert wird. 

Den Sie auf der Bühne ziemlich brutal misshandeln lassen...

Ja, meine Mutter konnte nicht hinsehen. Daran sieht man, was diesen Seriencharakter ausmacht – dass uns nämlich Figuren, die in diesem Werk keinen einzigen gesungenen Ton haben und sich uns nicht mittels Worten offenbaren können, dennoch ans Herz wachsen.

Das heißt: Siegfried und Brünnhilde haben sich auseinandergelebt, daher erwacht die Beziehung Brünnhildes zu Grane wieder, dessen toten Kopf sie am Ende liebkost.

Das war natürlich ein stark kontroverser Moment. Aber immerhin schenkt Brünnhilde Grane, der bei Wagner mit ihr in den Tod geht, ihre letzten Worte. 

Nahezu alle Opernkritiker, die sich auf Ihr Konzept eingelassen haben, fanden die ersten drei Teile spannend inszeniert. Nach der «Götterdämmerung» überwog allerdings der Tenor, dass die unterschiedlichen Fäden, die Sie ausgelegt haben, nicht oder nur schwer nachvollziehbar zusammengeführt wurden. Können Sie diese Kritik nachvollziehen oder sollen sich diese Leute Ihrer Meinung nach nochmals reinsetzen und darüber nachdenken?

Einerseits gehört es für mich zu der berühmten Bayreuther Werkstatt, dass man sich nach der Premiere Jahr für Jahr überlegen kann, wie man gewisse Dinge verbessert oder nachschärft. Zum anderen glaube ich, dass der Werkstatt-Charakter genauso gut die Rezipienten betrifft und daher die Möglichkeit beinhaltet, sich mehrmals darauf einzulassen und die eigene Sichtweise zu überdenken. 

Eine Anekdote hierbei zum „Jahrhundertring“ von Patrice Chéreau: da herrschte bekanntlich im ersten Jahr ein totales Inferno. Chéreau hat sich damals im Winter in einem Bayreuther Hotel eingemietet und ist dort alle – größtenteils vernichtenden – Opernkritiken durchgegangen. Das Ergebnis war, dass er lediglich den Walkürenfelsen im nächsten Jahr umgestaltet hat. Was ich damit sagen möchte: Man soll die Kritik bewusst aufnehmen, muss sich aber selbst treu bleiben.

Auch Sie mussten einen grässlichen Buh-Orkan über sich ergehen lassen. Wie gehen Sie damit um? Hatten Sie das erwartet?

Zum einen ist das in Bayreuth natürlich kein Novum, und es war im Laufe der Premierenwoche abzusehen, dass die Inszenierung polarisiert und kontrovers aufgenommen werden wird. Zum anderen gab es leider unschöne Fälle von Handgreiflichkeiten. Einem guten Bekannten von mir, der nach dem Zweiten Aufzug der «Götterdämmerung» „Bravo“ gerufen hat, wurden vom Sitznachbarn Schläge angedroht, wenn er das nochmals wagen würde. Das ist ein erschreckendes Hooligan-Verhalten, und da frage ich mich natürlich: Wollen wir das? Geht es nicht letztlich darum, dass wir uns als Publikum in einem Raum befinden, wo wir unterschiedliche Meinungen gewaltfrei zulassen können? Diese Grundvereinbarung sah ich in dem Fall nicht mehr gegeben, und das hat mich erschüttert. Schließlich macht ja gerade solch demokratisches Verhalten, das wir in den Theater im Kleinen einüben, unsere Gesellschaft als Ganzes aus. 
 

Tipp
Eine Aufzeichnung der Produktion wird im Herbst in der digitalen Mediathek der Deutschen Grammophon erscheinen.

 

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