Wiener Staatsoper

Eher achtbar als glanzvoll

Wagners «Meistersinger», 47 Jahre nach der letzten Premiere neu inszeniert von Keith Warner: Nicht alle glänzen so wie Michael Volle als jovialer, seelisch gebrochener Hans Sachs

Walter Weidringer • 06. Dezember 2022

Keith Warner landet mit seiner Inszenierung irgendwo zwischen Stefan Herheim (Salzburg 2013) und Barrie Kosky (Bayreuth 2017) © Michael Pöhn

Auf der Festwiese wird es dunkel – aber nicht etwa erst bei der immer wieder auf ihre Deutschtümelei abgeklopften Schlussansprache, wo vom „üblen Streich‘“ die Rede ist, vom „welschen Dunst mit welschem Tand“, die „uns in deutsches Land“ gepflanzt würden. Nein: „Wach auf!“ schmettert der Chor der Bürgerinnen und Bürger so inbrünstig wie unverfänglich. Es ist der Moment einer großartigen Nürnberger Huldigung an den populärsten Künstler der Stadt, den „Schuh-/ macher und Poet dazu“. Sonnt sich Hans Sachs in dem Glanz, in den er da bei bester Laune gestellt wird? Nein, für ihn wird es finster. Die Szenerie verdunkelt sich schlagartig, die Festordner reißen die Stufen zum gerade erst installierten Sängerpodest auseinander, die sich wie eine Schere aufklappen lassen. Darunter kommt ein Familiengrab zum Vorschein: Hier ruht Sachsens Familie, hier wird er einmal selbst beerdigt sein. Seine verstorbene Frau, schon vorher fallweise präsent, geistert nochmals über die Bühne, während er trauernd an der Stätte niederkniet und die Erde mit Händen greift. Dem großartigen Michael Volle glaubt man auch hier jede Regung. Die Menge jubelt – und doch kann dieser Sachs nicht anders als zu trauern: Das war der überraschendste, stärkste, wohl auch bewegendste Bühnenmoment in dieser Neuproduktion der «Meistersinger von Nürnberg», 47 Jahre nach der letzten Premiere des Werks an der Wiener Staatsoper: Otto Schenk hat damals, im Oktober 1975, in Jürgen Roses Bühnenbildern inszeniert, Christoph von Dohnányi stand am Dirigentenpult, und Karl Ridderbusch war der Hans Sachs, nach enormen Erfolgen in dieser Partie sowohl in Bayreuth 1973-75 als auch bei den Osterfestspielen Salzburg 1974-75. 

Zwei Anekdoten dazu. Die erste: Bei Herbert von Karajans einige Jahre zuvor entstandener Plattenproduktion mit der Staatskapelle Dresden war Ridderbusch, obwohl erklärter Lieblingsbass des Dirigenten, „nur“ der Pogner; den Sachs gab hingegen Theo Adam, ein Mitglied der DDR-Sängerelite. Als Jürgen Kesting damals dem Maestro „mit gebotener Vorsicht“ die Frage stellte, warum denn nicht der stimmlich überlegene Ridderbusch die zentrale Partie übernommen habe, lautete Karajans ironische Antwort: „Junger Mann, haben sie schon mal das Wort ‚Politik‘ gehört?“ – Die zweite Anekdote: Im Oktober 1975 setzte die Decca auch ihre Wagner-Reihe mit den Wiener Philharmonikern unter Georg Solti fort. Als Sachs war gleichfalls Ridderbusch vorgesehen. Doch hatte dieser kurz zuvor in einem Interview erwähnt, Nazi-Devotionalien zu sammeln – worauf Solti und die Decca ihn darauf kurzerhand durch Norman Bailey ersetzten, nicht unbedingt zum künstlerischen Vorteil der Produktion. Ridderbuschs Staatsopernverträge hielten damals freilich.

Zuletzt ist die Schenk-Inszenierung an der Staatsoper vor zehn Jahren zu erleben gewesen, unter Simone Young und mit dem Bayreuth-erfahrenen, aber dennoch blassen James Rutherford als Sachs.

Die Neuinszenierung ist in Bogdan Roščićs szenischer Erneuerung des Wagnerrepertoires an der Wiener Staatsoper nach «Parsifal» und «Tristan» wohl die gelungenste und zugleich auch am wenigsten kontroversielle Arbeit. Am Ende gab es fast nur Jubel, wenn auch dem Regisseur Keith Warner vor allem von der Galerie etliche Buhs entgegenschallten. Philippe Jordan, schon zu Beginn und in den Zwischenakten herzlich gefeiert, durfte sich über etliche ihm zugeworfene Blumensträuße freuen – und bekam sogar vereinzelt Applaus aus dem Graben: keine Selbstverständlichkeit beim nicht unbedingt überschwänglichen Verhältnis zwischen Orchester und Musikdirektor, ein Posten, der nach Ablauf von Jordans Vertrag 2025 nicht nachbesetzt werden soll. Es mag wie eine etwas ungeschickte Flucht nach vorne gewirkt haben, dass Jordan sich zumindest gegen extreme Lesarten des sogenannten Regietheaters gewendet hat, beim Wiener Publikum dürfte er damit jedoch einen Sympathie-Nerv getroffen haben.

Um gleich bei der atmosphärisch heiklen musikalischen Seite zu bleiben: Es dauerte bis in den dritten Akt hinein, dass sich eine gewisse Premierensteifheit halbwegs lockern wollte, eine an den Noten klebende Steifheit, die freilich kein Garant war gegen mehrere kleine orchestrale Irrtümer. Unüberhörbar muss da nach langer Pause eine neue Generation erst in die Partitur hineinfinden. Wieder zeigte sich Jordans Hang zu scharf gezogenen Linien und distinkten Farben, die hier von Beginn an zu beobachten war, also seit der «Madama Butterfly» im September 2020. So sehr, dass man den homogenisierenden und auch dämpfenden Bayreuther Schalldeckel über all dem vermisste, was er hier an teilweise recht kantigen, fast grellen Zuspitzungen erarbeitet hat. 

Der großartige Michael Volle (links) ist als skeptischer Hans Sachs Dreh- und Angelpunkt der Neuinszenierung, auf diesem Bild mit Michael Laurenz als Gehilfe David © Michael Pöhn

Die Lautstärke stellenweise noch wenigstens einen Grad herunterzuregeln, hätte den Stimmen genützt – sogar dem unerschütterlichen, klugen, in jeder Sekunde präsenten Michael Volle, der sich nach seinem grandiosen Wotan im Berliner «Ring» unter Thielemann nun in Wien endlich wenigstens als Sachs vorstellen konnte. Er ist Dreh- und Angelpunkt dieser Neuinszenierung – als einsamer, leidender Skeptiker im viel zitierten Volk der Dichter und Denker. „All’ Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraumdeuterei“, erklärt Sachs dem Junker Stolzing einmal. Warner nimmt das beim Wort und bringt das Stück in einem Zwischenreich auf die Bühne, dort, wo Kunst und Leben, Traum und Wirklichkeit ineinander verschwimmen. Oder auch die Epochen, die schon im Chor der Katharinenkirche im schnellen Vorlauf vom Mittelalter bis zur Gegenwart ein Update erfahren – und stets löst sich dabei ein schüchtern liebendes Paar aus der Masse. Zu diesen Updates gehört auch, dass Beckmesser sein Ständchen mit E-Laute und Verstärker aufführt – tatkräftig unterstützt von seinem Lehrbuben. (Geschenkt, dass Warner auch dem Stadtschreiber einen Lehrbuben zuordnet, so als handle es sich um ein Handwerk.) Romantisches Nachtblau ist der Ausgangs- und Endpunkt auf Boris Kudličkas Bühne, Spielorte werden durch Zitate wie etwa Arkaden, historische Nürnberg-Darstellungen und dezente Videos (Akhila Krishnan) angedeutet; drehbare Baugerüstelemente bieten auf drei Etagen Platz für Solisten und aufgereihte Chormitglieder. 

Wo es um Sachs geht, hat die Inszenierung ihre größten Stärken. Ein äußerlich jovialer, innerlich jedoch schwer gezeichneter, vielleicht sogar gebrochener Mann, versucht seinen Schmerz in der Kunst zu sublimieren. Er brütet am Schreibtisch, den Lehrbuben David schlafend zu seinen Füßen, und zerknüllt mehr Papier, als er gelten lässt. Beim Aufzug der Zünfte fühlt er sich regelrecht gepeinigt von diesen Quälgeistern, die wie hoffmanneske Heimsuchungen wirken, Ausgeburten seiner eigenen Fantasie, gekrönt von einem durch alle Akte spukenden (Nietzsche-?)Kobold: Hier überblendet sich die Figur mit Wagner – so, wie sich Evchen mit Sachsens verstorbenen Frau überblendet. Der Traum von dem, was da hätte sein können, wäre nicht Stolzing aufgetaucht, ist auch ein Traum zurück ins alte Glück. Nicht zuletzt aber fasziniert diesen Sachs die schrankenlos blühende Fantasie Stolzings: Er genießt es, dass da einer nichts von allen Regeln weiß, die gewiss klug und sinnvoll sein mögen, und zwar gerade dann, wenn Frische und Fülle der Ideen spärlicher werden. Volle zeigt, wie ihn, den älteren Künstler, die jugendliche Einfallslust labt und verjüngt – und wie er natürlich genau daran gleichzeitig auch die Jahre spürt und das, was ihm nicht mehr selbstverständlich zu Gebote steht. Wie er sich in die Jugend, ins Jungsein neu verliebt und gleichzeitig über sein Alter trauert und die Verluste, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist. Volle weiß das alles in nie versiegender Dringlichkeit darzustellen und erfüllt die Partie sängerisch mit pointierter, stets natürlich wirkender Diktion. Sachs als irdischer Bruder des Wotan, der ja auch damit hadert, abtreten und Jüngeren Platz machen zu müssen: nicht besser oder menschlicher als dieser, aber vielleicht sympathischer, gelassener. 

Warner landet damit gediegen irgendwo zwischen den Ergebnissen, die einerseits Stefan Herheim 2013 in Salzburger erzielt hat, in der erhellenden Gleichsetzung von Sachs und Beckmesser, andererseits Barrie Kosky 2017 in Bayreuth, wo Sachs, Stolzing und David den Komponisten in drei Lebensabschnitten repräsentierten – übrigens beide Male mit Volle, einmal mit Gatti, das andere Mal mit Jordan am Pult. 

Georg Zeppenfeld hat selbst schon als Sachs reüssiert, dementsprechend souverän singt er in Wien derzeit den Veit Pogner. Im Bild mit Hanna-Elisabeth Müller als dessen Tochter Eva © Michael Pöhn

Schwächen zeigt Warner vor allem beim teilweise banal überzeichneten Beckmesser – und das, obwohl Wolfgang Koch zunächst, im Kreise der bieder herausgeputzten Meister, im Paulus-Manker-Shabby-Look auftritt und damit quasi wie der Künstler unter Bürgern wirkt. Das wäre ein alternativer Ansatz gewesen, der jedoch nicht konsequent verfolgt und ausgearbeitet wird. Dazu passt auch, dass er diskrete Schlucke aus dem Flachmann benötigt. Aber das rote Zirkusdompteur-Outfit, das Beckmesser auf der Festwiese tragen muss, vielleicht ein Bildzitat aus dem Cover von „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ der Beatles, zählt zu den überschießend-willkürlichen Missgriffen unter Kaspar Glarners im Ganzen etwas forciert wirkenden Kostümen. Schade, dass Koch es mit seinem in Klang und Diktion etwas undeutlichen Bariton dem Widerpart Volle nicht mit gleicher Münze heimzahlen kann – und dass die Figur einer merkwürdigen Brachialkomik überlassen wird: Warum dieser Beckmesser beim Wettgesang genau versagt, erfährt man nicht, dafür hat er Probleme mit dem Notenständer und stürzt überhaupt vom Podium (hinten auf eine Sicherheitsmatte à la Tosca). 

Sängerisch vermisste man die Prägnanz eines Johannes Martin Kränzle – und musste überhaupt feststellen, dass, einmal abgesehen vom souveränen Pogner des Georg Zeppenfeld, der selbst schon als Sachs reüssiert hat, die Besetzung allgemein eher achtbar als glanzvoll tönte. David Butt Philip zum Beispiel, im Sommer in Salzburg ein passabler Boris in Janáčeks «Káťa Kabanová» und an der Staatsoper zuletzt als Laca in «Jenůfa» zu erleben, konnte als Stolzing vor allem mit Stamina punkten. Durchhaltevermögen ist gewiss nötig bei dieser durch Länge und Lyrik fordernden Tenorpartie. Noch schöner wär’s freilich, wenn die Spitzentöne im Forte nicht ein Stückerl in den Hals rutschen würden und dann und wann ein tragfähiges Piano zu hören wäre. Da hapert’s leider auch bei Hanna-Elisabeth Müller, die schon als Donna Anna nichts versprochen hat, was sie jetzt beim Evchen hätte einlösen können. Einförmig und ohne Höhepunkte, weder an den wichtigen Textstellen noch im puren Klang, zieht die Partie aus ihrem Munde vorbei. Und auch Michael Laurenz hat im David keine Glanzrolle gefunden, dazu fehlt es an der Verbindung von sängerischer Agilität und Pointensicherheit. Martin Häßler führt die Meisterriege mit repräsentativer Unauffälligkeit als Kothner an; Profil im Kleinen zeigen die jugendliche Magdalene (Christina Bock) und ein aus der Zeit gefallener Nachtwächter, der sich beim zweiten Auftritt in den Sensenmann verwandelt (Peter Kellner).

Zuletzt, wenn Sachs seine Schlussansprache als persönliche Levitenlesung für Stolzing absolviert hat, ehrt der tadellose Staatsopernchor die „deutschen Meister“ mittels gesammelter Bände aus dem Kanon der Weltliteratur in Wort und Ton. Ein versöhnliches Ende – auch wenn Hans Sachs weiterhin skeptisch ins Publikum blickt.


«Die Meistersinger von Nürnberg» – Richard Wagner
Staatsoper Wien

Kritik der Premiere am 4. Dezember 2022
Termine: 8./11./15./20. Dezember