Opéra national de Lorraine

Zu viele Worte

In Nancy wählt Regisseur Tiago Rodrigues einen innovativen, niederschwelligen Ansatz für Wagners «Tristan und Isolde». Dorothea Röschmann und Samuel Sakker debütieren in den Titelpartien

Stephan Burianek • 31. Januar 2023

 
Zeuge einer Wagner-Vergangenheit: Lohengrin mit Schwan auf einer Daum-Vase von 1894 im Musée des Beaux-Arts, Nancy © Stephan Burianek

Lothringen hatte einst eine mächtige Wagner-Gemeinde, selbst unter der Französisch sprechenden Bevölkerung in der historischen Hauptstadt Nancy. Das erfährt man etwa im ehemaligen Wohnhaus des Kaufhausbesitzers Eugène Corbin, in dem sich heute das Jugendstil-Museum der berühmten „Schule von Nancy“ befindet. Dort steht, in Anspielung auf Wagners Opern, ein von Louis Majorelle kunstvoll geschnitzter Klavierflügel mit dem Titel „Der sterbende Schwan“. Und wenn man den Keller des Museums der Schönen Künste auf der klassizistischen Place Stanislas, direkt gegenüber der Nationaloper, besucht, dann findet man in der beeindruckenden Sammlung bunter Art-nouveau-Vasen der Glasmanufaktur Daum eine kleine Lohengrin- und eine größere Tristan-und-Isolde-Vase des Glaskünstlers Jacques Gruber. Vor 130 Jahren war Richard Wagner Teil des progressiven Lebensstils der Stadt. 

Das hat sich gewandelt, in Nancy wurde in den vergangenen zwanzig Jahren keine einzige Wagneroper mehr gespielt. Dieser Hintergrund muss bekannt sein, um die Bedeutung der aktuellen «Tristan und Isolde»-Produktion für die Lothringer Nationaloper in Nancy zu verstehen. Ihr junger Intendant Matthieu Dussouillez hat sich überdies zum Ziel gesetzt, innerhalb der Stadtbevölkerung neue Publikumsgruppen für sein Haus und für die Oper generell zu gewinnen – und bindet die Bevölkerung in manche Produktionen aktiv ein (lesen Sie dazu auch das OPERN∙NEWS-Interview von vor genau einem Jahr).

Es mag daher folgerichtig erscheinen, wenn man an diesem Ort bei «Tristan und Isolde» mit dem Aufbau von Grundwissen beginnt: „Dieser Ort ist ein Archiv“ steht auf dem Schild, mit dem die Tanzperfomance-Künstlerin Sofia Dias noch vor dem Beginn des Vorspiels in das Werk einführt. Es ist ein Ort, so führt sie gemeinsam mit ihrem Tanzpartner Vítor Roriz mittels weiterer Schilder fort, an dem nicht gesprochen, sondern absurderweise gesungen wird. Und zwar über die Liebe, und das noch dazu auf Deutsch – eine Pointe, die das französische Publikum mit hörbarer Erheiterung quittiert.

Die beiden ziehen die Schilder aus den vollgefüllten Bücherregalen einer Bibliothek, die auf drei terrassenförmigen Ebenen den von Fernando Ribeiro entworfenen Bühnenraum bildet. Sollte der Autor dieser Zeilen keinem Rechenfehler unterliegen, dann werden es am Ende insgesamt 842 Worttafeln gewesen sein, mittels derer sie das Publikum über den Verlauf der Handlung informiert haben. Vor allem im Vorspiel „übersetzen“ Dias und Roriz die Musik und die in ihnen auslösenden geistigen Regungen zudem mit expressiven Bewegungen.

Das Archiv im ersten Akt: Brangäne (Aude Extremo) überreicht Isolde (Dorothea Röschmann) den Liebestrank, davor beschildern Sofia Dias und Vítor Roriz die Handlung © Jean-Louis Fernandez

Womit wir beim erfreulichsten Teil des Premierennachmittags sind, denn das Orchester der Lothringer Nationaloper spielt, als hätte es den Wagner im Blut. Am Pult sorgt Leo Hussain für eine mustergültige Klangmischung der auffallend exakt spielenden Musiker, klammert man die überfordert tönenden Bühnenorchester-Bläser aus. Hussein schafft das Kunststück, trotz der geforderten Klangbreite für Transparenz zu sorgen und das Orchester ohne störenden Einfluss auf die Dynamik in der Lautstärke zu drosseln. 

Das werden ihm wohl vor allem die beiden Protagonisten danken, denn sowohl Dorothea Röschmann als auch Samuel Sakker singen die Isolde bzw. den Tristan offiziell zum ersten Mal. Dorothea Röschmann setzt sich damit in gewisser Weise eine Krone auf, denn ihr Lebenslauf von einer gefeierten Mozart-Susanna zu Wagners Isolde darf getrost als die bestmögliche Entwicklung bezeichnet werden. Es besteht trotz anfänglicher Verhärtungen in der Stimme von Beginn weg kein Zweifel, dass sie über eine hervorragende Anlage und die technischen Voraussetzungen verfügt, und sie gewinnt im Laufe des ersten Aufzugs an einer Sicherheit, die sie im mittleren Aufzug, während des Liebesduetts mit Tristan, zeitweise wieder aus der Hand gibt, wenn der eine Spitzenton zu schrill gerät oder der andere Ausruf gar ausbleibt. Das wird sich im Laufe der Aufführungsserie sicherlich einrenken, letztlich gelingt ihr der Liebestod nicht weniger als traumhaft.

Der baritonal klingende Tenor Samuel Sakker, der sich die Partie in relativ kurzer Zeit angeeignet haben soll, hält sich wacker und hebt sich seine Reserven klug für den Schlussakt auf, weit entfernt vom klassischen Ideal eines Heldentenors ist er trotzdem. Als solide Kräfte präsentieren sich zudem Scott Hendricks als Tristans Freund Kurwenal und Aude Extremo als Isolde-Vertraute Brangäne, deren Stimme anfangs verhangen klingt, sich dann aber schon bald schön aufklart. 

Dass man bei Extremo selbst in Kenntnis des Textes kein einziges Wort versteht, passt zu der semikonzertanten Anmutung von Tiago Rodrigues‘ Regiekonzept, das vorrangig von seinen schilderreichen Handlungskommentaren lebt und den Gesang als rein instrumentale Ausdrucksform einer entrückten Gefühlswelt durchgehen lässt. Die Statik dieser Regie erinnert ein wenig an die legendäre Bayreuther Inszenierung von Heiner Müller (1993) und übertrifft sie in dieser Hinsicht gar, wiewohl Rodrigues im Gegensatz dazu mit ironischen Brechungen arbeitet, die so manchem eingefleischten Wagnerianer missfallen dürften. Den Dialog vor der Einnahme des vermeintlichen Todestranks im ersten Aufzug kommentieren die beiden Performancekünstler beispielsweise mit „die traurige Frau singt mit vielen Worten, zu vielen Worten“ und während des Liebesduetts „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ im zweiten Aufzug halten die Performancekünstler „Happy night“ in die Höhe. Hier offenbart sich die Problematik einer handwerklich großartig realisierten Idee: Im Bestreben nach größtmöglicher Niederschwelligkeit werden Klischees bestätigt anstatt ausgeräumt, und die Geschichte dümpelt letztlich an der Oberfläche.

 
Melots Schwert trifft Tristans Brust © Jean-Louis Fernandez

Interessant ist der Ansatz dennoch, etwa in Bezug auf Personen- und Ortsnamen, die aufgehoben werden. An ihre Stelle treten Umschreibungen wie „der traurige Mann“ (Tristan), „die traurige Frau“ (Isolde), „die Heimat des traurigen Mannes“ (Kareol) und so weiter. Die Reduktion geht so weit, dass selbst Gegenstände wie „der Liebestrank“ oder „das Schwert“ durch Schilder ersetzt werden, was zu komischen Momenten führt, etwa wenn Tristan in Melots (Peter Brathwaite) Schild läuft, was im Sog der Wagner’schen Musik wiederum überraschend gut funktioniert.

Wenn im zweiten Aufzug Jongmin Park als König Marke auftaucht, ist die Vorstellung mit einem Mal auf einem Weltklasse-Niveau. Einfühlsamer und sonorer lässt sich diese kurze aber wichtige Partie kaum singen, das gesamte Auditorium scheint für Minuten den Atem anzuhalten, selbst die lästigen Huster, die zuvor regelmäßig zu stören pflegten, sind verstummt. 

Am Schluss ist das Archiv leergeräumt, das Werk ein Haufen Papier. Aber warum leer? Ist Wagners «Tristan und Isolde» als Quintessenz des menschlichen Kulturerbes das einzige Werk, das es zu bewahren gilt? Natürlich nicht, und es ist von Rodrigues wohl kaum so gemeint, aber fehlen darf diese „Handlung in drei Aufzügen“ nicht. Diese Aussage entging wohl manchen Menschen im Publikum, denn die Lothringer Nationaloper hat sie nun kennengelernt, die reisenden Wagnerfans, die jede Profanisierung ihres Idols mit Buhrufen begleichen. Unabhängig davon bleibt zu hoffen, dass diese mutige Produktion ihr Zielpublikum erreicht, es wird dringend gebraucht. 


«Tristan und Isolde» – Richard Wagner
Opéra national de Lorraine ∙ Opernhaus

Kritik der Premiere am 29. Januar 2023
Termine: 1./4./7./10. Februar