Festival della Valle d’Itria
Mehr Spaß braucht die Welt
Immer noch ein Geheimtipp sind die Opernspiele in Martina Franca: Zum bereits zum 49. Mal werden in der apulischen Kleinstadt alte Werke neu entdeckt. Diesmal geht es heiter zu
Stephan Burianek • 24. Juli 2023

Eine kühle Brise weht in den Innenhof der Masseria Palesi, einem historischen Landgut mit barocker Fassade außerhalb der hochgelegenen Stadt Martina Franca in Apulien. Sie ist eine willkommene Abkühlung am Ende eines Sommertags inmitten einer rekordverdächtigen Hitzewelle. Des einen Freud, des anderen Leid: Am Klavier spielt Ettore Papadia immer wieder nur einhändig, um mit der anderen Hand die Notenblätter am Davonfliegen zu hindern. Er macht das so geschickt, dass man es bei geschlossenen Augen kaum merken würde, die jungen Sänger sind beim Vortrag ihrer Lieder und Arien nie gefährdet. Die Bühne ist vor dem schmucken Eingangsportal der Masseria aufgebaut, ebendort, wo sich ansonsten Paare das Ja-Wort geben. Auf ihr treten an diesem Abend abwechselnd drei junge Künstler der Accademia del Belcanto Rodolfo Celletti auf, der Talenteschmiede des Festivals. Zwei davon offenbaren ein großes Potenzial: Gleich in seiner ersten Arie, mit dem sentimental-schmachtenden „Un’aura amorosa“ aus Mozarts «Così fan tutte» zeigt Massimo Frigato – großgewachsen und lange, gelockte Mähne –, dass ihm zarte Melodiebögen liegen. Technisch wunderbar sicher und nicht weniger klangschön sinniert Luisa Bertoli unmittelbar darauf in „Dove sono i bei momenti“ aus Mozarts «Le nozze di Figaro». Frigato stellt am Ende mit dem Lied „Marechiare“ von Francesco Paolo Tosti (das nicht zuletzt von Luciano Pavarotti in die Welt getragen wurde) unter Beweis, dass er sich zudem auf flotten, ungestümen Gesang versteht, Bertoli brilliert wiederum mit einem Lied von Eduardo Di Capua. Nur widerwillig erhebt sich das Publikum nach dem kurzen, nicht einmal einstündigen Konzert von seinen Sitzplätzen, dafür dürfen anschließend die Weine eines lokalen Produzenten verkostet werden.
Das Festival della Valle d’Itria mag weniger bekannt sein als die Opernspiele in Pesaro, Torre del Lago oder Verona, und doch ist es seit bald einem halben Jahrhundert ein bedeutsamer Impulsgeber für die internationale Opernwelt. Das betrifft weniger seine Talentförderung, die man auch anderswo findet, als vielmehr seinen einzigartigen Spielplan. Jedes Jahr werden alte Werke dem Vergessen entrissen bzw. auf der Basis von kritischen Ausgaben neu zur Diskussion gestellt. Die Anfang dieses Jahres bei den Tiroler Festspielen in Erl und danach an der Oper Frankfurt neu produzierte Mercadante-Oper «Francesca da Rimini» wurde beispielsweise in Martina Franca wiederentdeckt. In diesem Jahr stellt der künstlerische Leiter Sebastian Schwarz fünf heitere Werke vor. Eine davon kennt man: Auf der Hauptbühne im Innenhof des Palazzo Ducale wird Rossinis «Turco in Italia» in einer neuen kritischen Ausgabe von Margaret Bent gespielt, die sich an der Stückfassung orientiert, die Rossini 1815, im Jahr nach der Uraufführung, für Rom erstellt hat.
Liebesintrige in Samarkand

Aber wer weiß schon, dass Jules Massenet in jungen Jahren vier Operetten geschrieben hat? Erst kürzlich soll «L’adorable Bel-Boul» in einem Antiquariat gefunden worden sein. Sie entstand für den Salon von Henriette Dreyfus, der Ehefrau des berühmten Händlers und Sammlers Gustave Dreyfus, der sich am Pariser Boulevard Malesherbes 101 (Arrondissement de l’Élysé) befand. Der Einakter ist für eine Klarinette, eine Posaune und vier Klavierhände komponiert, und in Martina Franca kommt noch ein Schlagzeuger dazu. Gespielt wird unter der Leitung von Francisco Soriano am Klavier im Kreuzgang des längst aufgelassenen Klosters San Domenico, in der verwinkelten Altstadt von Martina Franca. Die Klarinette führt gleich zu Beginn in eine orientalische Klangwelt ein, schließlich spielt die Handlung weit entfernt, bei den Muselmanen im mehr oder weniger phantastischen Samarkand. Dort imitierte Zaї-za, die Tochter des großen Bazar-Händlers Ali Bazar, die Drehungen des tanzenden Derwischs Sidi-Toupi (Juan José Ramos Diaz) und verlor dabei ihren Schleier. Der junge Hassan half ihr nach diesem Skandal der wütenden Meute zu entkommen – und natürlich verliebten sie sich ineinander. Nun taucht im Hause Ali Bazars allerdings der sich immer noch im Walzertakt drehende Derwisch auf, denn auch er hat ein Auge auf Zaї-za geworfen und möchte sie freien. Die vife Hausangestellte Fatime weiß das freilich zu verhindern, indem sie ihm mit einem Trick die hässliche und ungezogene ältere Schwester von Zaї-za andreht – eben jene im Titel genannte Bel-Boul, die noch vor Zaї-za verheiratet werden muss, im Stück aber eigentlich nicht in Erscheinung tritt (in Martina Franca taucht sie dennoch auf, verkörpert von jenem Sänger, der eigentlich Hassan spielt). Am Ende bekommt Zaї-za ihren Liebsten.
Der Regisseur Davide Garattini, der auch die klassisch-orientalischen Kostüme entwarf, ließ sich von Paolo Vitale eine simple, mit blauen Versandkartons gestaltete Kulisse errichten (mit Regen rechnet man in Apulien offenbar nicht). Außerdem fügte er der abwechslungsreichen Partitur zu Beginn weitere Massenet-Kompositionen hinzu, die sich um das Thema Blumen drehen, was die Tür für diverse Sage-es-mit-Blumen-Bonmots öffnet, zumal Garattini aus Ali Bazar einen Blumenhändler macht.
Die Sänger dieser Produktion sind allesamt Teilnehmer der Accademia del Belcanto (jährlich kommen zwanzig Nachwuchssänger in den Genuss dieses sechs Monate dauernden Weiterbildungsprogramms): Die Sopranistin Ronja Weyhenmeyer ist eine mitreißende Fatima, die als Dienerin, wie so oft in komischen Opern, die treibende Kraft der Handlung ist und die sowohl in den auf Italienisch gesprochenen Dialogen als auch in der französischen Gesangspartie keinen Wunsch offenlässt (wiewohl eine französische Kritikerin den Gesang des Ensembles generell als schwer verständlich brandmarkte). Auch die Mezzosopranistin Helena Ressurreiçao und der Bass Eugenio Maria Degiacomi überzeugen als Zaї-za bzw. deren Vater Ali Bazar. Besonders klangschön und mit guter technischer Anlage meistert der dunkelkernig-sonore Tenor Stefano Roberto Moysés Colucci den Hassan. Fast möchte man bei seiner Auftrittsarie glauben, Franz Lehár hätte bei der Komposition für „Dein ist mein ganzes Herz“ aus «Land des Lächelns» diese Massenet-Operette gekannt.
Casting einst und heute

Mit einfachen szenischen Mitteln kommt auch die Neuproduktion von Pietro Aulettas «L’Orazio» im angenehm klimatisierten Teatro Verdi aus. Dort hat die Ausstatterin Lisa Moro vor schwarz verhangenen Bühnenwänden eine schiefe Spielfläche neben einem Flügel platziert und die Akteure mehr oder weniger heutig eingekleidet. Das funktioniert ziemlich gut, zumal sich die Regie von Jean Renshaw mit Witz auf die wechselnden Beziehungen der Figuren zueinander konzentriert.
Pietro Auletta (1698-1771) war Kapellmeister an der Franziskanerkirche Santa Maria la Nova in Neapel, wo er außerdem für das Teatro Nuovo mehrere heitere Bühnenwerke komponierte, wie eben die 1737 uraufgeführte Oper «L’Orazio», die seinerzeit einen so großen Erfolg hatte, dass sie in den Jahren danach europaweit rund vierzig Mal gespielt wurde. Wobei der Umgang mit ihr, wie damals üblich, sehr frei war: Mehrere Arien wurden durch Stücke anderer Urheber ersetzt, und letztlich galt sie als ein Werk von Giovanni Battista Pergolesi. Nun hat der Musikwissenschaftler Bernardo Ticci anhand von zahlreichen Libretti und handschriftlichen Partituren eine Fassung erstellt, die sich dem Original aus 1737 annähert (wiewohl die Ouvertüre einer anderen Auletta-Oper entnommen wurde). Entscheidend für diese Arbeit waren v.a. das Uraufführungs-Libretto von Antonio Palomba sowie die Partitur einer in Bologna gespielten Version aus 1747.
Die Theater-im-Theater-Handlung ist durchaus originell: In Venedig unterrichtet der angesehene Gesangslehrer Lamberto nicht nur die schöne Gärtnerin Lauretta, sondern vor allem die höchst talentierte Giacomina, die er demnächst nach Neapel vermitteln möchte. Der Impressario aus Neapel, Colagianni, zeigt aber mehr Interesse an Laurettas körperlichen Reizen als an Giacominas Stimme und möchte Lauretta in jedem Fall verpflichten. So mancher Brancheninsider wird an dieser Stelle ob der Parallelen zur Gegenwart geschmunzelt haben – manche Dinge ändern sie einfach nie. Die Kostümbildnerin Moro macht aus Lauretta eine Art Barbie-Puppe, blond und pinkes Kleid, und den Lehrer Lamberto kleidet sie anachronistisch bieder. Colagianni hingegen zeigt die Regisseurin Renshaw als einen eitlen Geck in Künstlerschwarz, der selbst beim Liebesspiel ans Handy geht (um dann mit seiner Mutter zu sprechen).
Der Orchestersatz könnte origineller und raffinierter sein – Federico Maria Sardelli betont mit dem von ihm vor vierzig Jahren gegründeten Orchestra Barocca Modo Antiquo überzeugend dessen rhythmische Impulse –, Aulettas Komposition besticht allerdings durch kunstvoll verschnörkelte Koloraturlinien, die in Martina Franca von den Sängern großartig gemeistert werden. Phänomenal bewältigt Valeria La Grotta ihre Bravourarie im zweiten Akt, in der Giacomina ihren Gefühlen freien Lauf lässt, nachdem sie erfahren hat, dass ihr verschollen geglaubter Bräutigam offenbar einer anderen Sängerin namens Elisa nahesteht. Elisa wiederum, auch keine einfache Partie, wird von Martina Licari mit einer frappanten Leichtigkeit gesungen. Komplett macht dieses Beziehungsdreieck die souveräne Shira Patchornik, die vor zwei Jahren den Innsbrucker Cesti-Wettbewerb gewonnen hat, bei dem Festivalleiter Sebastian Schwarz der Jury vorsitzt.
Patchornik ist Leandro, der in den Castingprozess platzt. Er war gemeinsam mit seiner Braut Giacomina auf der Flucht vor einer uneinsichtigen Verwandtschaft gewesen, doch ihr Schiff von Livorno nach Sizilien wurde von Piraten überfallen, seither lebten die beiden getrennt. Doch Leandro gibt sich beim überraschenden Wiedersehen zugeknöpft und nennt sich nun „Orazio“. Letztlich klärt sich freilich alles auf: Elisa ist Leandros Schwester, Leandro will seine Giacomina immer noch und Lauretta, von Natalia Kowałek überzeugend gesungen, entscheidet sich letztlich für ihren Lehrer Lamberto, gesungen von Matteo Loi, der vor allem in einer Arie im zweiten Akt mit gehetztem Sprechgesang brillieren kann. Nur Colagianni, der Impressario, bleibt allein zurück – ebenfalls makellos: Camilo Delgado Díaz.
Vorschau

Bereits vor acht Jahren inszenierte die «Orazio»-Regisseurin Jean Renshaw Florian Leopold Gassmanns Oper «Gli Uccellatori» (Die Vogelfänger). Sie wird ihre Inszenierung, wieder mit Christof Cremer als Ausstatter aber mit anderen Sängern, in Martina Franca neu erarbeiten (2./5. August). Weiters ist in dieser Festivalausgabe die Operette «Il paese dei campanelli» (Das Land der Glocken) von Carlo Lombardo und Virgilio Ranzato, uraufgeführt 1923, zu sehen. Dirigieren wird Fabio Luisi, der musikalische Leiter des Festivals (Innenhof des Palazzo Ducale, 26./28./30. Juli). Ein Internationales Symposium zur Operette rundet das Programm ab. Auch im kommenden Jahr dürfte sich die Reise nach Apulien lohnen, denn dann feiert dieses charmante Festival seine 50. Ausgabe, für die Sebastian Schwarz bereits einige – noch unbekannte – Überraschungen angekündigt hat.
Festival della Valle d’Itria
«L’adorable Bel-Boul» – Jules Massenet
Chiostro di San Domenico
«L’Orazio» – Pietro Auletta
Teatro Verdi
Bericht auf Basis der Vorstellungen am 20. und 22. Juli 2023, das Festival läuft noch bis zum 6. August