Salzburger Festspiele
Nicht nur gedroht, auch geschossen
Bei den Salzburger Festspielen enttäuscht die Neuinszenierung von «Le nozze di Figaro» durch Martin Kušej, während das Ensemble musikalisch überzeugt
Joachim Lange • 31. Juli 2023

Wie der „Jedermann“ auf den Domplatz, so gehört Mozart in das „Haus für Mozart“. Wegen der angestrebten Allgegenwart dieses Haus-, Festspiel- und Orts-Gottes ist das ehemalige kleine Festspielhaus vor einigen Jahren zu diesem Namen gekommen. Und dass Martin Kušej eine Neuinszenierung besorgt, ist auch nicht verwunderlich – nicht nur als Österreicher und Noch-Burgtheaterdirektor. Er hat auch seine eigenen Festspielmeriten, war er doch 2005 und 2006 der Chef der Schauspielsparte der Festspiele, außerdem hat er 2002 mit seinem «Don Giovanni» mit Netrebko eine Mozart-Inszenierung für die Festspiel-Annalen beigesteuert.
Wenn man jetzt in seiner neuen «Figaro»-Produktion sitzt, dann löst die Neugier, wie er denn seine meist auf Abgründe zielende Regiehandschrift im Schauspiel diesmal auf die Oper anwendet, ziemlich schnell der Verdacht ab, dass er es dem Publikum, den Festspielen, der Welt oder wenigstens dem Kultur-Österreich mal so richtig zeigen wollte.
Mozart, der geniale Erzkomödiant, der im Intrigen- und Verwirrspiel des Figaro – wie Beaumarchais – auch die nahende Revolution aufscheinen lässt? Eine Aufforderung zum Tanz, aber noch mit der geballten Faust in der Tasche? Kušej inszeniert diesmal ein „von Wegen“. Er verweigert geradezu das Vergnügen, das man an der Vorahnung eines historischen Wetterleuchtens haben könnte, von dem die Nachgeborenen ja wissen, was daraus wurde. Bei Mozart und Da Ponte ist das der subtile Handlungstreibstoff, um das Allgemeinmenschliche, sprich die Stadien der Liebe, am Beispiel der vier Paare, beziehungsweise vier Lebensphasen auszuleuchten. Barbarina und Cherubino, Susanna und Figaro, Rosina und Graf Almaviva und nicht zuletzt Bartolo und Marcellina haben alle ihr jeweils sehr speziell geschnürtes Beziehungspackerl zu tragen.
In dieser Commedia per musica von 1786, also vom Vorabend der Großen Revolution, wird es an einer Stelle immer todernst. Wenn sich Cherubino, der sich wieder bei den Frauen rumtreibt, verstecken muss, weil der Hausherr ihn eh schon auf dem Kieker hat. Dass Susanna sich selbst gegen den Filou ausgetauscht hat, weiß die Gräfin noch nicht, als der Graf die Tür aufzubrechen droht. Hier bewährt sich eine Regie allemal, wenn sie die Frage in den Raum stellt, was denn passiert wäre, wenn der Graf Cherubino erwischt hätte. In dem Falle wären sie wohl alle nicht mit heiler Haut herausgekommen. Jedenfalls nicht zurück in die Komödie, in der die gesellschaftlich Benachteiligten am Ende mit ihrer Lebensklugheit triumphieren. Unter anderem aus dem Aufblitzen dieser todernsten Elemente in dem Verwirrspiel aus Briefchen, Nadel und so weiter – wer durchschaut das schon wirklich immer und in jeder Sekunde? – bezieht diese Da Ponte-Oper jedenfalls ihren besonderen Reiz.

Bei Kušej stehen sie am Anfang alle aufgefädelt, und wie bestellt und nicht abgeholt an der Rampe vor einem Wandteppich aus besseren Mozarttagen und wenden sich dann ihren verschiedenen Drogen zu. Zum Auftakt gibt es sogar schon einen Toten. Wer das ist, der da als Leiche durch die Tür purzelt, um uns zu zeigen, wo im Hause Almaviva der Hammer hängt, beziehungsweise wie locker hier der Revolver sitzt, bleibt offen und wird auch nicht wieder aufgenommen. Offenbar darf man hier meucheln, ohne Konsequenzen zu befürchten.
Die alte Welt scheint schon untergegangen zu sein. Hier wird die Form nicht mehr gewahrt, und den eigenen Obsessionen subtil nachgegeben. Dass Susanna den Grafen in Gestalt von Andrè Schuen sexy findet, kann man auf den ersten Blick verstehen – bei Cherubino ist es eine eher spezielle Vorliebe etwas reiferer Frauen fürs jungenhaft Androgyne. Das geht einigermaßen auf.
Aber bei Kušej bremsen sie nicht kurz vor der eigentlich unstatthaften körperlichen Attacke ab und denken sich ihren Teil, hier langen sie zu. Die Gräfin knutscht mit dem Knaben, hier kann der Graf offensichtlich tatsächlich bei Susanna landen. Hier duzen sie sich (in den Übertiteln) eh alle (wenn da der Graf von „meinen Angestellten“ spricht, sträuben sich einem dennoch die Haare). Nach der XXL-Bar (eines Hotels oder einer mafiösen Konzernzentrale?), an der Susanna und Figaro ihre Zahlenspielchen treiben und Susanna ihren etwas naiven Lover darüber aufklärt, was der Graf mit der Zimmerzuweisung im Schilde führt, füllt Raimund Orfeo Voigt die Bühne im Baukastenprinzip mit einer deprimierend grauen Betontristesse. Wer da noch froh war, nicht gleich zwischen den Müllsäcken gelandet zu sein, hatte sich zu früh gefreut, genau dahin war Cherubino nämlich gesprungen und in genau dieser Abfalldüsternis wird der Fenstersprung verhandelt.
Kušej inszeniert nicht einfach die Abgründe mit, er inszeniert sie fast ausschließlich. Der Einstieg mit einem Mafiamord ohne Folgen gibt den Ton vor. Die Tiefgaragen-Ästhetik ist dann eine eigene Vollbremsung, um ja keine Empathie mit dem, was auf der Bühne passiert, aufkommen oder gar die Komödie von der Leine zu lassen.
Die Kabbelei zwischen Susanna und Marcellina wird auf die Damentoilette verlegt, wo Susanna ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin (und künftigen Schwiegermutter) zeitweise das Klopapier klaut. Optische Generalpausen mit Donnerschlägen und Blackout nutzen sich ab. Der Aufmarsch der Mädchen in Regen und Matsch von außen gegen die Fenster und das Schleudern der nassen (und blutigen?) Brautschleier gegen die Scheiben überhebt sich an der eigenen Bedeutungshuberei. Als Illustration zum „Porgi, amor“ der Gräfin werden Gustav Courbets Vulva-Skandalbild von 1861 „Der Ursprung der Welt“ und die nackte Rückansicht der Susanna (respektive Rosina) im Bade bemüht, aber das bleibt als Hintergrund ein metaphorisches Tischfeuerwerk. Dass sich der Graf von einer barbusigen Schönheit anziehen lässt und die dann auch noch extra bezahlt – nun ja. Dazu die schmucken Kerle, die dann plötzlich in der Düne des Schlussbildes gehäutetes Wild auf den nackten Schultern durchs Bild tragen. Dass es hier um Sex und Macht geht, hatte man bis dahin schon verstanden.
Wenn sich die Hochzeitsgesellschaft mit Kopfhörern sogar in eine eigene Musik flüchtet, dann ist das schon wieder selbstentlarvend. Und der Schluss ist es auch: Nachdem Kušej jede Szene und jede Figur wie mit der Brechstange auf die Abgründe, das Scheitern, auf Heuchelei und falsches Spiel mit den Gefühlen der anderen getrimmt hat, gibt es am Ende vor der Düne des finalen Versteckspiels ein ganz konventionelles Verzeihen der Gräfin. Das hätte genauso gut anders ausgehen können, diesmal eigentlich müssen.
Musikalisch halten Raphaël Pichon (*1984) und die Wiener Philharmoniker (mit Pedro Berio am Continuo Hammerklavier und Julian Barre mit dem Continuo Violoncello) nach Kräften dagegen. Der junge französische Dirigent lässt zudem seine Erfahrung mit seinem historisch orientierten eigenen Ensemble einfließen. Mit Gewinn. So stemmt sich der Graben oft gegen die Szene, findet aber auch das rechte Maß, wenn Adriana Gonzáles die Arien der Gräfin mit atemberaubenden Piani veredelt, ihre Stimme aber gleichwohl wohltimbriert erblühen lässt. Oder, wenn die zierliche Lea Desandre als flatternder Cherubino, der für die Damen zwar reizvoll, für die beiden betont maskulinen Mannsbilder Figaro und Graf aber keine ernsthafte Konkurrenz darstellen kann, ihre zart intensiven Verführungsattacken startet, lässt musikalisch ein Wohlfühl-Mozart grüßen, den Kušej szenisch kaum zulässt.

Sabine Devieilhe als Susanna mit einer schönen, aber eher kleineren Stimme und Krzysztof Bączyk als ihr Figaro mit fundierter Basis und mühelosen Höhen, liefern vokal Solides ab. Warum und wie sich Susanna auf die Avancen des Grafen einlässt, das bleibt eine der offenen Fragen dieser Lesart. Vielleicht als unbewusste Reminiszenz an den spektakulären «Don Giovanni», mit dem Kušej in Salzburg einst Furore machte (und Anna Netrebko zumindest für den Westen entdeckte), rückt er Andrè Schuen mit seinem auch vokal jugendlich virilen Grafen Almaviva deutlich ins Zentrum. Und zwar sowohl mit seiner Darsteller-Attraktivität (selbst „nur“ in Shorts) als auch seiner vokalen Souveränität. Kristina Hammarström als solide um die noch zupackende „Alte“ bemühte Marzelline und der im Vergleich dazu auftrumpfende Peter Kálmán als Bartolo kommen regiebedingt ziemlich betrunken zu ihrem vermissten Sohn Raffaello. Richtig witzig finden sie diese Variante der komödiantischen Steilvorlage allerdings nur auf der Bühne.
Manuel Günther als grapschender Basilio im Priestergewand, Andrew Morstein als zum Barkeeper mutierter Don Curzio, Serafina Starke als kesse Barbarina sowie Rafał Pawnuk als prolliger Antonio komplettieren das im Ganzen ausgewogene Ensemble mit eher konventionellen Rollenporträts. Die Choristen der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor sind von Jörn Hinnerk Andresen bestens einstudiert und bewältigen auch den Spagat zwischen verordnetem szenischen Individualismus und gemeinsamem Gesang hochsouverän.
«Le nozze di Figaro» – Wolfgang Amadeus Mozart
Salzburger Festspiele ∙ Haus für Mozart
Kritik der Vorstellung am 30. Juli 2023
Termine: 5./11./15./17./20./28. August