Bayreuther Festspiele
Noch nicht am Ende
Die Beliebtheit von Tobias Kratzers «Tannhäuser»-Inszenierung ist ungebrochen. Im vierten Jahr erfreute überdies das Dirigat der Bayreuth-Debütantin Nathalie Stutzmann
Stephan Burianek • 30. August 2023
Wenn Blicke töten könnten, dann würde ich an diesem Abend weder Elisabeths Freitod noch Tannhäusers Ende erleben. Kurz vor dem Beginn des dritten Aufzugs scheucht im Bayreuther Festspielhaus der dreiste Journalist die halbe Reihe auf, und die Reihen sind dort bekanntlich lang. Wenn die genervten Besucher nur wüssten, dass sie draußen soeben eines von zahlreichen Ritualen versäumt haben, die während der Bayreuther Festspiele alljährlich zelebriert werden: Seit Jahrzehnten treten die Blechbläser nach ihrer allerletzten Fanfare vom Balkon unter den Portikus und marschieren zu den Klängen von „Muss i denn zum Städtele hinaus“ über den Vorplatz ins Gebäude der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth. Das Festspielpublikum bekommt das kaum mehr mit, dafür versammeln sich rund drei Dutzend Eingeweihte, um diesem Ereignis beizuwohnen.
Die letzte Vorstellung bietet aber noch einen weiteren Vorzug: Aufgrund der erträglichen Temperaturen, innen wie außen, muss man nach der Vorstellung in der Regel keinen durchgeschwitzten Anzug in die Wäscherei tragen. Und das, was vom Graben und der Bühne kommt, kann mit mehr Genuss konsumiert werden.
„Genuss“ ist ein bedeutendes Schlagwort in Tobias Kratzers gefeierter «Tannhäuser»-Inszenierung, die gemäß einer ungeschriebenen Regel in Bayreuth heuer eigentlich im letzten, weil bereits vierten Jahr über die Bühne hätte gehen sollen. Allerdings lieferte Kratzer diesmal im zweiten Aufzug eine Enthüllung: In einer Filmsequenz prangt auf einem Koffer, als Close-up, ein Aufkleber, der verrät, dass die Produktion auch im kommenden Sommer auf dem Spielplan stehen wird.
Kratzers Beschäftigung mit dem «Tannhäuser» kann bereits seit der TV-Live-Übertragung der Premiere im Jahr 2019 als legendär bezeichnet werden. Selten schafft es eine Inszenierung wie diese, sowohl weite Teile von traditionsbewussten Wagnerianern, als auch die, im wahrsten Sinne des Wortes, Neugierigen zu begeistern. Und das, obwohl Kratzer die Handlung auf mehrere Ebenen auffächert und mittels Roadmovie bereits während der Ouvertüre ins Heute verfrachtet: Nahe der Wartburg, dem Wagner’schen Originalschauplatz, sind Zirkusakteure in einem alten Citroën-Kastenwagen unterwegs, der auf Performance-Aktionen von Marina Abramović und Ulay zurückgeht. Tannhäuser ist ein Clown, der mit Venus im Glitzerkostüm die freie Liebe auch dann praktiziert, wenn sie am Steuer sitzt. Hinten vergnügen sich ein schwarzer Transvestit namens Le Gateau Chololat („Schoko-Torte“) und ein Kleinwüchsiger mit einer Trommel, der dem Volker-Schlöndorff-Film „Die Blechtrommel“ (1979) entsprungen ist. Wo auch immer sie halten, verteilen sie Flugblätter und bringen Plakate an. Darauf ist das Richard-Wagner-Zitat „Frei im Thun / Frei im Wollen / Frei im Genießen“ zu lesen. Die Truppe verkörpert die Avantgarde, die Revolutionäre, die der biederen Gesellschaft ihre Steifheit weichklopfen möchte.
Die Stimmung ist gut, auch verbotene Substanzen werden konsumiert. Dann überfährt Venus einen Wachmann, ihre Kaltherzigkeit weckt Tannhäuser, er erkennt, dass es so nicht weitergehen kann. Er springt aus dem fahrenden Wagen – und wird von einer jungen Frau (dem Wagner’schen Hirten) zum Bayreuther Festspielhaus gebracht, wo er auf seine alten Bekannten, die Sänger, stößt.
Kratzer war 2019 aber nicht nur mit einem spannenden Konzept angereist, er hatte es auch handwerklich erstklassig mit seinem Regieteam umgesetzt (Bühne und Kostüme: Rainer Sellmaier, Video: Manuel Braun). Nach der Premiere schrieb Christian Wildhagen in der NZZ von einer „bahnbrechenden Inszenierung“, bei der „die Konflikte und Grundkonstellationen von Wagners Libretto völlig intakt, ja geradezu bilderbuchmäßig klar herausgearbeitet sind“.
Anders reagierte die Kritik auf die musikalische Begleitung des bereits damals aus politischen Gründen in der Kritik stehenden Valery Gergievs. Mit Ausnahme von Jan Brachmann in der FAZ lehnten sämtliche führende Kritiker sein Dirigat aus künstlerischen Gründen ab: „halbgares Scheindirigat“ schrieb Peter Korfmacher (Kieler Nachrichten), „versiebtes Bayreuth-Debut“ Florian Zinnecker (Zeit), „ohne jeglichen Esprit“ Jürgen Liebing (Deutschlandfunk-Kultur), „unklare Schlagtechnik“ Christian Wildhagen (NZZ). Sogar ein Teil des Publikums buhte. Gergiev ward in den Folgejahren nicht mehr auf dem Grünen Hügel gesehen, was in Bayreuth ziemlich ungewöhnlich ist. Axel Kober übernahm in 2021 und 2022 (2020 fiel der Corona-Pandemie zum Opfer).
In diesem Jahr saß erstmals Nathalie Stutzmann auf dem Bayreuther Dirigenten-Thron, und sie kam mit einer individuellen Lesart. Immens zart und zögerlich blies das Blech die ersten Takte, dann nach dem ersten Schwung erneut. Das Orchester bäumte sich in der Ouvertüre partiturgerecht auf, ohne den Höhepunkt vorwegzunehmen. Über weite Strecken war das Orchester in Folge mitunter ein unmerklicher, beinahe kammermusikalischer Begleiter und immer wieder ein flotter Impulsgeber. Stets klang es wunderbar ausbalanciert und strukturell durchdacht.
In der Titelpartie war Klaus Florian Vogt für Stephen Gould eingesprungen, der seit der 2019er-Premiere als Tannhäuser (und bereits 2004 und 2005!) zu erleben gewesen war. Kurz vor dem Ende der Festspiele wurde bekannt, dass Gould, ein Garant für große Abende, seine Karriere aus gesundheitlichen Gründen gänzlich beenden hatte müssen. Unabhängig davon entpuppte sich Vogt in dieser Partie als Entdeckung. Sein engelsgleicher «Meistersinger»-Stolzing hatte vor mehr als einem Jahrzehnt noch die Wagner-Gemeinde gespalten, mittlerweile präsentiert er sich stimmlich im besten Sinn gereift. Zwar verfügt er nach wie vor über ein helles Timbre, aber es hat sich verbreitert, ist „männlicher“ geworden. Zugleich blieb die Wendigkeit seiner Stimme erhalten, und so singt er den Tannhäuser mit einer Lyrik, wie man sie in dieser Partie selten erlebt. Kam er in früheren Jahren in spielerischer Hinsicht eher steif rüber, so zeigte er in diesem Jahr geradezu charakterschauspielerische Qualitäten – etwa in Großaufnahme auf der Leinwand, während er sich das Geschwulst von Wolfram von Eschenbach anhören muss.
Die Venus an seiner Seite war Ekaterina Gubanova, die 2019 die Partie wegen eines Probenunfalls kurzfristig an Elena Zhidkova abtreten hatte müssen, seither aber stets in dieser Rolle zu hören war. An jenem letzten Abend klang sie bereits ein wenig ausgesungen, meisterte die Partie der Venus aber tadellos. Köstlich war ihr Spiel vor allem im zweiten Aufzug, wo sie bei Kratzer in die Rolle einer der vier Edelknaben schlüpft, um auf offener Festspielhaus-Bühne gegen ihre Konkurrentin Elisabeth zu intrigieren. Diese Heilige sang in diesem Jahr Elisabeth Teige. Von den Verhärtungen oder dem Vibrato, von dem Kritikerkollegen aus den ersten Vorstellungen berichteten, war am letzten Abend nichts zu hören. Stimmlich souverän, berührte Teige überdies darstellerisch als eine Person, die bei Kratzer zwischen der vermeintlichen Tugend und dem anziehenden Laster hin- und hergerissen ist. Als ihr Vater Landgraf Herrmann musste Günther Groissböck an diesem sängerfreundlichen Ort kaum forcieren und konnte seinen Bass daher idealtypisch-sonor knarzen lassen. Unter seiner Sängertruppe ragte Siyabonga Maqungo stimmlich als Walther von der Vogelweide hervor. Gewohnt einmalig klang der große Bayreuther Chor (nur 2021 musste man Corona-bedingt tricksen). Sein Leiter Eberhard Friedrich wurde in diesem Jahr für seine langjährige Tätigkeit bei den Festspielen mit dem Goldenen Ehrenring der Stadt Bayreuth ausgezeichnet.
Nach den Lachsalven im zweiten Aufzug – Intendantin Katharina Wagner ruft bekanntlich die Polizei, und Tannhäuser geht, anstatt nach Rom, in Handschellen auf die nächste Polizeiwache – wird der finale Akt zum dystopischen Endspiel. Auf einem Schrottplatz trifft Elisabeth auf den mehr oder weniger heimlich in sie verschossenen Wolfram von Eschenbach. Der ist für Markus Eiche seit der Premiere vor vier Jahren zu einer Art Paradepartie geworden ist – er brilliert mit herrlich schön präsenten, lyrischen Bögen. Gemeinsam mit Elisabeth Teige hat er vor seinem „Lied an den Abendstern“ den vielleicht deprimierendsten Beischlaf der Operngeschichte zu fabrizieren: Wolfram darf mit Elisabeth schlafen, aber als Tannhäuser-Clown verkleidet, nicht einmal die Perücke darf er abnehmen. Elisabeth zerbricht an ihren eigenen Ansprüchen, schneidet sich anschließend die Pulsadern auf und landet tot in den Armen von Manni Laudenbach, dem „Blechbüchsen“-Pendant Oskar. Der zweite Schausteller, Le Gateau Chocolat, hat die Truppe zu diesem Zeitpunkt längst verlassen und posiert als nunmehriger Namensgeber einer Luxusmarke auf einem riesigen Werbeplakat – der Revoluzzer hat die Seiten gewechselt. In der letzten Vorstellung übernahm der Tänzer Kyle Patrick die für diese Produktion neu geschaffene stumme Rolle.
In der Pause waren die beiden leider nicht zu sehen, denn auch wenn das Festspielhaus wegen des ersehnten Temperatursturzes innen perfekt temperiert war, so wurde die in dieser Produktion beliebte Pausenintervention im Festspielpark aufgrund des Wetters abgesagt (drei Statisten hätten sich entblößen und auf dem Teich paddeln müssen) – wie gut, dass es ein nächstes Mal geben wird.
«Tannhäuser» – Richard Wagner
Bayreuther Festspiele ∙ Festspielhaus
Kritik der Aufführung am 28. August 2023
Termine: 26. Juli; 4./12./16./22./27. August 2024